Treibeis
trocken
Rand
schwarz
Widerstand
Himmel
fluide
Torte
„Gibt es denn hier niemanden, der uns helfen könnte, Witchita noch herzubekommen? Wieso kommt sie überhaupt nicht einfach hinterher? Da muss doch noch mehr dahinterstecken“, fragte Sally ihren Raben Corax. „Immerhin wimmelt es hier auf dem Feld des Hexenclubs von Hexen. Da sollte man doch meinen, dass das ein Kinderspiel für eine erfahrene Hexe wäre.“
„Oh, da gibt es jede Menge Einschränkungen im Hexenrecht, die Zauber verhindern, wenn andere Hexen betroffen sind“, erklärte Corax. „So etwas geht nur im äußersten Notfall und wenn die Betroffene keinen Widerstand leistet.“
„Das ist jetzt ein äußerster Notfall!“ kreischte Sally. „Außer dir kenne ich hier niemanden und habe nicht die geringste Ahnung, was ich machen muss.“
Corax wurde auf eine Rabendame aufmerksam, die genauso schwarz war wie er und sich am Rand des Getümmels aufzuhalten schien. „Craxandra!“ krächzte er. „Hast du einen Augenblick Zeit?“ Mit ein paar Flügelschlägen war die Angesprochene da.
„Corax! Wie schön, dich zu sehen! Ich habe von Tante Crowena gehört, dass du jetzt Sally begleiten darfst. Da kannst du richtig stolz auf dich sein! Oh, Verzeihung, Miss Sally, ich bin Corax‘ Kusine Craxandra.“
„Das ist ja nett, dass du hier auf deine Verwandtschaft triffst, Corax“. In Sally stieg langsam die Wut hoch. „Aber darf ich dich erinnern, dass hier immer noch ein äußerster Notfall vorliegt? Da ist keine Zeit für ein Pläuschchen!“
„Etwas mehr Respekt bitte gegenüber meiner Kusine, Sally“, entgegnete Corax. „Immerhin ist Craxandra das Hexentier der Chefhexe Altyssa, und wenn hier jemand eine Lösung für unser Problem hat, dann wird das doch wohl eine Chefhexe sein.“
„Chefhexe? Das klingt gut!“ dachte Sally sich und sagte laut: „Craxandra, kannst du uns zu Altyssa bringen? Wir haben eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit mit ihr zu besprechen.“
„Keine Sorge, Miss Sally, meine Herrin ist bereits unterwegs und wird jeden Augenblick hier erscheinen.“
Mit
erscheinen hatte Craxandra genau das richtige Wort gewählt. Sie fing an, wie wild mit den Flügeln zu flattern, und in der aufgewirbelten Luft materialisierte sich das Bild einer alten, aber auf ihre eigene Art bewundernswert schönen Hexe. „Craxandra, was ist denn los? Du weißt doch, dass ich jetzt keine Zeit habe. Ich muss doch noch meine Torte für das Buffet nach dem Hexentanz dekorieren!“ rief es aus dem Bild heraus.
Die beiden Raben schilderten die Situation, und schließlich sah Altyssa den Ernst der Lage ein. „Das sieht so aus, als hätte Dorothy mal wieder geschlafen und vergessen, Sally anzumelden. Dadurch ließ sich nur ein einziger Wirbelsturmzauber vom Abflugort bewirken. Mit einem Spruch für vier Passagiere wäre das auch kein Problem gewesen. Einen Moment, ich steige eben durch das Bild…“ – Craxandra hörte auf, mit den Flügeln zu schlagen, und auf einmal stand Chefhexe Altyssa in voller Größe neben ihr. „Das Problem ist“, fuhr die Hexe unbeirrt weiter, während Sally aus dem Staunen nicht herauskam, „dass wir jetzt die Macht einer Schalttagshexe bräuchten, um einen Zeitstoppzauber auszulösen. Dann hätte Sally ausreichend Zeit zurückzufliegen, Witchita und Suck abzuholen und zurückzukommen, bis die Sonne an ihrem höchsten Punkt steht. Aber leider ist die alte Moriney kürzlich gestorben, und jetzt haben wir keine Schalttagshexen mehr!“
„Stopp!“ krächzte Corax dazwischen. „Altyssa, darf ich dir unsere neue Schalttagshexe vorstellen? Sally ist am 29. Februar geboren. Das habe ich auf der Diagnose von Witchitas Diagnosion erst heute früh gesehen. Sally muss den Zauber selbst durchführen!"
„Wirklich?“ Altyssas Augen leuchteten auf. „Das ist ja wunderbar!“ rief sie und machte eine respektvolle Verbeugung vor Sally. „Herzlichen Glückwunsch, Sally. Du bist mit einer wundervollen Gabe gesegnet. Ich wünsche dir, dass du immer weise und verantwortungsvoll damit umgehen mögest.“
Sally war verstört. Bedeutete das eine noch größere Verantwortung in der Hexenwelt? Sie war doch gerade erst seit zwei Tagen überhaupt mit der Vorstellung konfrontiert, überhaupt zum Hexen fähig zu sein, und nun sollte sie sogar Gaben besitzen, die keine andere lebende Hexe außer ihr hatte? Der Gedanke, mit all dieser Magie auf sich allein gestellt zu sein, machte ihr Angst.
Altyssa schien Sallys Gedanken zu ahnen. Liebevoll sagte sie: „Schätzchen, mach dir keine Sorgen. Ich werde dir jederzeit zur Verfügung stehen. Glaub mir, die Theorie der Zeitzauber beherrsche ich auch, allein mir fehlt die Gabe, sie durchzuführen, weil ich an einem anderen Tag geboren bin. Nur Mut! Du hast schon bewiesen, dass eine große und mächtige Kraft in dir steckt, da wirst du auch diese Herausforderung meistern. Davon bin ich überzeugt!“
Der Zuspruch der Chefhexe munterte Sally etwas auf. „Also gut“, sagte sie. „Wir haben keine Zeit zu verlieren. Was soll ich also machen?“
„Das klingt doch schon besser. Nur nicht den Kopf hängen lassen. Erhebe deine Hände zur Sonne und sprich den Spruch
Sunéa pisuté, und dann sagst du die Namen aller Personen auf, die vom Zeitstopp ausgenommen sein sollen, also dich selber, Witchita und Suck und für alle Fälle nimmst du Corax, Craxandra und mich auch noch mit hinein. Dann können wir notfalls noch eingreifen. Zum Schluss schnippst du mit den Fingern. Alles klar so weit?“
Sally schluckte, dann nickte sie kaum merklich. Sie hob ihre Hände zur Sonne und sprach: „Sunéa pisuté, Sally, Witchita, Suck, Corax, Craxandra, Altyssa.“ Daraufhin schnippte sie mit den Fingern, wie es die Chefhexe ihr erklärt hatte. „Perfekt!“ rief Altyssa. „Schau dich mal um.“ In der Tat waren alle Hexen und alle ihre Tiere mitten in ihren jeweiligen Bewegungen stehengeblieben. Nur das kleine Grüppchen um Sally bewegte sich noch ganz normal. Selbst die Wolken am Himmel standen still, und beim Besenparkplatz sah Sally sogar noch eine Nachzüglerin, die im Landeanflug auf ihrem Besen etwa in Augenhöhe über der Erde zum Stillstand gekommen war.
„Jetzt haben wir im Prinzip alle Zeit der Welt“, schmunzelte Altyssa, „aber das ist ja auch nicht Sinn der Sache, wir wollen schließlich mit dem Hexenritual anfangen. Also los mit euch. Ich muss schnell ins Büro, um Sally zu registrieren, so dass ihr auf dem Rückweg jede euren eigenen Wirbelsturm nehmen könnt. Außerdem muss ich noch meine Torte fertig machen. Craxandra, begleitest du bitte Sally und Corax? Ihr wisst ja, wie ihr mich erreicht, falls etwas sein sollte. Also jetzt für drei Passagiere zu dir nach Hause ergibt den Spruch
Lehetérre kodábé kanéddika attáppu.“
Diesmal fühlte sich Sally beim Aufsagen des Zauberspruches sicherer als beim vorigen Versuch. Ihr Gefühl sagte ihr, dass alles richtig war, ganz anders als bei ihrem Abflug hierher. Sie genoss es, mit den beiden Raben auf ihrem Besenstiel durch die Luft zu düsen, und nach kurzer Zeit erblickte sie unter sich schon das Hexenhäuschen auf der Prärie am Fluss. Auch hier schien alles Leben stehengeblieben zu sein. Sally landete im Hof und begann sofort, Witchita zu suchen. Glücklicherweise stand die Tür einen Spalt weit offen, so dass sie ins Haus schlüpfen konnte. Die Hexe war jedoch nirgendwo zu sehen. Enttäuscht trat Sally wieder auf den Hof. Da hörte sie die Raben auf dem Pfad zum Fluss krächzen. Sie lief hinterher. Corax und Craxandra hatten Suck gefunden, die sich völlig verstört durch das Gras schlängelte.
„Sssssally, Coraxssss, Craxssssandra, wie gut, dasssss ihr kommt! Witchita hat gemerkt, dasssss sssssie dir den falschen Spruch gesssssagt hat und wollte sssssich an deinen Wirbelsturm anhängen, aber dabei bin ich abgerutscht und heruntergefallen, und Witchita hatte doch den Leichtgang in ihrem Besssssen eingestellt, und jetzsssst hat esssss sssssie sssssonssssstwohin verweht!“
Offenbar war Witchita genau das passiert, wovor sie Sally noch gewarnt hatte. „Und wo steckt sie jetzt? Wir müssen Witchita retten!“ In Sally brach wieder die Panik aus, doch diesmal hatten die Raben die Lösung. „Suck“, sagte Corax, „du musst den Kontakt zu Witchita herstellen. Wir müssen jetzt erst einmal wissen, wo sie ist.“
Die Schlange musste etwas überlegen. „Dasssss habe ich aber lange nicht mehr gemacht.“ Daraufhin legte sie sich in einem perfekten Kreis auf den Weg und biss sich selber in den Schwanz. Wie in einem Spiegel erschien Witchitas Gesicht auf der Erde. „Witchita, wo steckst du?“ rief Sally. „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich irgendwo am Nordpol. Ich sitze hier in einem völlig fluiden Zustand auf einer Scholle im Treibeis, und es ist jämmerlich kalt und nass hier. Holt mich schnell hier weg!“
Da mischte sich Craxandra ein und erklärte: „Steig einfach durch das Bild, dann bist du wieder zu Hause.“
Mühselig raffte sich Witchita auf, streckte ihre Hände aus, und nach einer Weile schaute ihr Kopf aus der Erde im Kreis, den Suck gebildet hatte. Sally reichte ihr die Hände und zog ihre Lehrmeisterin an sich heran. Corax flog zum Haus und besorgte ein trockenes Handtuch. Bald war die Hexe wieder einigermaßen auf den Beinen, aber sie hatte sich offensichtlich heftig erkältet. „Das soll mir eine Lehre sein. Nie wieder werde ich versuchen, mich an einen Wirbelsturm von jemand anderem anzuhängen!“
„Wäre es nicht besser, du würdest deinen Schülerinnen gleich die richtigen Sprüche beibringen?“ krächzte Corax besserwisserisch. „Wir müssen langsam zurück. Altyssa wird sich schon Sorgen machen.“