Der Mönch und die Heilerin
Bruder Augustus war immer so lieb. Er redete stets etwas länger mit mir als unbedingt notwendig gewesen wäre, wenn ich die Salben und Tinkturen für das Kloster brachte. Ihre Medizin stellen die Brüder dort großteils selber her, aber einige Rezepturen sind so geheim, daß sie in unserer Gegend wirklich nur meiner Mutter und mir bekannt sind. Und nicht jedes Kloster hat einen eigenen Apothekergarten wie die Antoniter drüben in Höchst. Da muß man schon genau wissen, was wann wo wächst.
Meine Mutter. Sie würde täglich tausend Tode sterben wenn sie wüßte, daß ich mich mit einem Mönch eingelassen habe. Wobei das nie beabsichtigt war. Ich mochte ihn einfach so gerne. Es fühlte sich irgendwie an, als ob wir uns schon immer gekannt hätten.
Nachdem meine Mutter aber bereits vor zwei Jahren zu Tode gekommen war, während die große Seuche in Frankfurt wütete, bin ich jetzt ganz alleine und hätte mir manchmal ihren Rat wirklich gewünscht, so sehr mir ihre Ermahnungen früher lästig gewesen sind.
Vorigen Vollmond, als ich frühmorgens in den Wald wollte um einige Kräuter zu sammeln, habe ich die Brüder singen hören. Es war so wunderschön, daß ich vor Ehrfurcht auf die Knie gesunken bin und das Beten anfing. Bruder Augustus meinte, ich solle mich besser nicht im Umkreis des Klosters aufhalten, da der Abt ein Sexmonster sei. Als ich ihn fragte, was das bedeutet, wurde er käseweis und meinte, er müsse jetzt wieder hinein, aber wenn ich zur Mittagszeit zur Alten Eiche käme, könnte er es mir erklären.
Natürlich bin ich hingegangen, neugierig und wißbegierig wie eh und je. Dort hat er mir nicht nur sehr anschaulich erklärt, was ein Sexmonster ist und was es tut, und auch den Unterschied zur üblichen Vorgehensweise sehr deutlich herausgearbeitet - er hat mir auch ein großes Geheimnis verraten. Daß er nämlich aus der Zukunft kommt und daher immer wieder aus Versehen Worte verwendet, die in unserer Zeit niemand versteht. Er wäre in seinem früheren Leben ein rechter Tunichtgut gewesen und sei daher von den Göttern hierher in die Zeit des 30-jährigen Krieges gesandt worden, um den Menschen zu helfen und ihnen zur Seite zu stehen.
Aufgewachsen sei er bei den Hugenotten in Frankreich, dortselbst sei er zum Orden der Antoniter gestoßen und mit diesen nach Deutschland gekommen, um zu versuchen, das Leiden der Menschen zu lindern, die vom Antoniusfeuer befallen seien. Dummerweise hätte er, da er ja Bescheid wußte, versucht, den Leuten zu erklären, daß diese Krankheit dem übermäßigen Verzehr von mit Mutterkorn verseuchtem Roggen geschuldet sei, was leider mit eklatantem Unverständnis aufgenommen worden war. Die Leute könnten einfach die Wahrheit nicht ertragen wenn sie nicht in ihr Weltbild paßte. Was bitte, hieß es, sollten die armen Leute denn essen außer Roggen wenn sie nichts anderes hätten, und er sei offenbar genauso von Dämonen besessen wie die Kranken, die sich schreiend in Krämpfen wanden. So sei er mit Schimpf und Schande weggejagt worden und war froh gewesen, nach einigen Irrwegen hier im Kloster als Mitbruder aufgenommen worden zu sein. Auch wenn ihm das Leben als Mönch nicht wirklich besonders gefalle. Vor allem die ständige Beterei sei sehr lästig.
Ich liebte seine Geschichten aus der weiten Welt. Von den Gauklern denen er sich angeschlossen hatte nachdem er von den Antonitern ausgestoßen worden war, weil ihn die lockere Art und einfache Freundlichkeit des fahrenden Volkes angezogen hatte, mit der sie jeden Willkommen hießen der bereit war, mit anzupacken. Von der Tochter des Zirkusdirektors und Hochseilartisten in die er sich verliebt hatte, die aber bald darauf vom Seil zu Tode stürzte weil sie unaufmerksam gewesen war. Ständig hatte sie nach ihm Ausschau gehalten, der er im Publikum gesessen war, Handküsse nach oben werfend und verliebte Faxen schneidend. Um seine Schuld auch nur ansatzweise zu tilgen, hatte er einige Jahre als Clown lediglich für schmale Kost und Logis gearbeitet, hätte dann aber die unheilbare Trauer des Direktors nicht mehr ertragen können, die sich wie eine schwere Decke über den gesamten Zirkus gelegt und ihn beinahe erstickt hätte, so daß er bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit Zuflucht in einem Kloster gesucht hätte, letztendlich bekanntes Terrain für ihn.
Unsere gemeinsame Zeit dauerte nur wenige Tage. Nun sitze ich hier im Verlies, weit unten im Keller des Klosters, und habe seit vorgestern nichts mehr zu essen oder trinken bekommen. Bald werde ich aussehen wie der Suppenkaspar am vierten Tag. Auch diese Geschichte hat mir Augustus erzählt. Von dem Knaben, der seine Suppe nicht essen wollte und am fünften Tag verhungert ist. So froh wäre ich jetzt um ein kleines Schälchen davon. Bald werde auch ich sterben. Anfangs habe ich noch gehofft, man wolle mir lediglich einen Schrecken einjagen und würde mich bald wieder freilassen. Nun habe ich begriffen, daß man mich hier einfach 'vergessen' wird. Ich habe keine Kraft mehr übrig um zu schreien.
Ich frage mich, wie der Abt von unseren geheimen Treffen erfahren konnte. Niemand hatte uns gesehen, niemandem habe ich davon erzählt. Ich sei der Kirche seit langem ein Dorn im Auge, hatte er mir boshaft versichert. Mitbrüder hätten Zeugnis gegen mich abgelegt und man werde mich der Hexerei anklagen, es sei denn, ich würde auch ihm gewisse Gefälligkeiten ... seine Schweinsäuglein glitten gierig über mein Mieder während mir sein fauliger Atem ins Gesicht schlug. Natürlich habe ich mich heftig gewehrt. Nun liegt er in seinem eigenen Krankenzimmer. Was nicht zur Verbesserung meiner Lage beiträgt. Niemand wird mich vermissen. Das Schlimmste ist, daß ich nicht sicher sein kann, ob nicht Augustus selbst, möglicherweise während einer hochnotpeinlichen Befragung, Dinge erzählt hat, die ihm jetzt zwar leid tun, aber die nun einmal von den Schergen der Kirche niedergeschrieben und somit amtlich sind. Ich bin nicht dumm. Ich kann lesen, ich kann schreiben, und ich kann meinen Mund nicht halten. Schlechte Voraussetzungen für eine Frau im 17-ten Jahrhundert.
In seiner Zeit, hatte Augustus einmal gemeint, sei ich mit meinen medizinischen Kenntnissen systemrelevant gewesen. Auch wieder eins dieser Wörter, die es erst viel später einmal geben wird. Jetzt aber bin ich offenbar eine Gefahr und muß beseitigt werden. Ich bin so müde. Sie haben eine lange Reihe von Kerzen angezündet, die fast heruntergebrannt sind. Dann wird es dunkel und kalt werden hier unten. Hoffentlich wird es schnell gehen. Die Wände sind so dick, es ist kein Entkommen möglich, und bei Gott, ich habe es versucht. Meine Finger bluten und mir tut alles weh. Aber glaubt mir eins, ihr scheinheiligen Pfaffen, ich werde wiederkommen. Ich werde die neue Welt von der mir Augustus erzählt hat, auf unserer heiligen Mutter Erde mitgestalten und ihr, die ihr eigennützig und verschlagen seid, werdet erbärmlich zugrundegehen und an eurer Bosheit ersticken. Amen!