Schrei
„Warum ich so schreie? Weil ich es will! Will es mir jemand verbieten? In dieser lauten Zeit? Die ganze Welt schreit doch nur noch herum!“
Blöde Frage, wirklich so was von blöd. Dabei erklärt mir niemand, wieso ich eigentlich hier bin:
„Wie dieser Tag schon wieder anfing. Morgens beim ersten Kaffee auf dem Balkon, wo ich meine ausgesäten Hanfsamen gießen will, muss ich aus dem Radio hören, dass ich ausgerechnet in dem bescheuerten Bundesland lebe, in dem die Landesväter ständig die Uhr zurückdrehen wollen und dabei trotzdem meinen, sie sind die Besten Bazis der Republik. Dieser blöde Sack, der ein Problem mit 'Woke' hat. Dabei woke ich, wann ich will. Gerne woke ich auch mit vegetarischem Hühnchenfleisch und Sojasprossen in der chinesischen Schüssel, und zwar so viel und so lange wie ich will. JAAAAA, ICH WOKE!“
Ich atme kurz durch, während mir der Mann gegenüber eine weitere Frage stellt:
„Warum hatten sie heute morgen nicht ihre Tankrechnung gezahlt?“
„An der Tankstelle? Na, warum wohl? Soll ich das Schweinesystem weiterhin mit meinen Steuern unterstützen? Ich habe doch gar keine Lust, mit dem Auto zu fahren. ICH MUSS AUTO FAHREN! Gerne würde ich die Scheißkarre abschaffen oder wenigstens gegen einen Stromer tauschen, aber ich habe weder eine Ladestation vor meiner Mietwohnung noch einen öffentlichen Nahverkehr, der den Namen verdient hätte. Ich wohne auf dem Land, wo Gott schöne Obstbäume wachsen lässt, aber S-Bahnhaltestellen so selten sind wie Frühwarnsysteme für Schneckenfurzvergasungen.“
Dem Mann gegenüber huscht ein unkontrolliertes Lächeln über die Lippen, während er routiniert Notizen in seinen DIN-A4-großen Studentenblock macht.
„Dieser Tankstellenwärter! Typ Liebestöter im Schlabberlook. Die Jogginghose wirkte, als müsste sie operativ entfernt werden. Schimpfte über einen arabisch aussehenden Mann, der in der Schlange vor mir eine Telefonkarte kaufte - von wegen Asylanten, die riesige Handys hätten, aber hier bequem auf Stütze leben, Plaplaplagnagnagna … das übliche Gewäsch. Ich sagte nur 'GULP`, da mein Puls bereits gefährlich hohe Wellen schlug, drehte mich um, ging raus und fuhr davon. So war dass!“
„Es bedeutet für sie mindestens eine Anzeige wegen Tankbetrug nach § 263 StGB oder Unterschlagung gemäß § 246 StGB. So etwas muss ihnen als erwachsenem Mitglied der Gesellschaft doch bewusst sein?“
„Erwachsen! Ich höre immer nur 'ERWACHSEN'. Was genau soll das eigentlich sein? Schauen sie sich doch mal um! Wirken die Trullas, die täglich auf dem Bildschirm auftauchen, sich aufbrezeln wie ewige Teenager und von Realityshow zu Realityshow torkeln, bis sie im Dschungelcamp landen, etwa erwachsen? Sind sogenannte Talkmaster, die an Logorrhoe leiden und uns versuchen, die Welt zu erklären, erwachsen?“
„Fernsehen ist nicht die Realität ...“
„... aber Opium für das Volk!“, unterbreche in mein Gegenüber, „die Leute sind so verstrahlt, dass sie nicht mehr merken, was wirklich vor sich geht. Und dann nimmt mir dieser Vollidiot auch noch die Vorfahrt, weil er ja einen dicken Mercedes mit eingebauter Vorfahrt fährt. Den habe ich einfach stehen lassen, nachdem ich ihm ein fette Beule in den Kotflügel getreten hatte. Blödes Arschloch, ich musste ja zu meinem Kunden. Die Lebensunterhaltungskosten bezahlen sich nicht von selbst. Sprit – umgerechnet fast vier Mark. Butter – fast vier Mark, die günstige. Halbes Hähnchen mit Pommes für Zwischendurch bei 25 Mark. 25 MARK!!! Dafür wäre man früher zu zweit fein Essen gegangen. Und dann reden die Deppen im Radio von nachlassenden Inflationsraten. Ich lache. HA HA HA!“
„Die Umrechnung von Euro in D-Mark ist eine Verweigerung der Realität, finden sie nicht?“
„Realität?“, huste ich. „Während alle weiter ihre Preise pfeffern, habe wir infantile Politiker, die davon reden, dass man den Bedürftigen kein Geld mehr geben darf, weil sie sonst nicht mehr zur Arbeit gehen würden. Dabei liegt das Problem doch darin, dass es keinen Spaß mehr macht, Geld zu verdienen, weil denen, die was verdienen, zu viel abgenommen wird. Seit Jahren schlage ich mich selbständig durch das Leben. Gefühlt zahle ich für jeden mehr verdienten Euro weitere zwei Euro für Steuern, Sozialabgaben und Gebühren. Nicht die Armen bekommen zu viel, sondern die Arbeitenden dürfen zu wenig behalten.“
„Wenn sie meinen ...“
„JA; VERDAMMT NOCHMAL! Da höre ich diesen Finanzminister im Radio und sehe gleichzeitig dieses gelbe Wahlplakat am Straßenrand. Eine kleine Bewegung des Lenkrads nach rechts und schwupps – Wahlplakat im Straßengraben, ein kleines Stück Gerechtigkeit in der Welt. So siehts aus!“
„Ganz klar eine Sachbeschädigung.“ Der Mann schaut mir direkt in die Augen. Ich halte seinem Blick stand. Das Bild wird seltsam schwammig.
„Mir egal. Blütenweiß ist mein Gewissen. Es ist höchstens ein Schwachermächtigung. Mehr kann ich nicht tun gegen dieses Porsche-Pack. Könnten sie mir jetzt vielleicht mal diese beschissen enge Jacke abnehmen. Ich beiße schon nicht!“
„Da bin ich mir nicht so sicher. Nächste Frage: Warum haben sie den SUV ihres Kunden Robert Rummelsbach beschädigt? Ein Unfall? Ein Versehen? Vorsatz?“
„Quatsch“, schnaufe ich, „AUSGLEICHENDE GERECHTIGKEIT! Dieses Arschloch war von Anfang an eine schwierige Nummer. Machte einen auf freundlicher Kumpel, kritisierte aber ständig meine Leistungen, nur um mich zuallerletzt auf einen Dumpingpreis herunterzuhandeln, obwohl die Arbeit schon geliefert wurde. Vollidiot! Fliegt jedes Jahr viermal für mehrere Wochen mit seiner Blonden in den Urlaub, aber scheißt sich bei mir scheißfreundlich wegen 300 Euro mehr oder weniger die Hosen voll. Also habe ich 'tschüss' gesagt, bin raus, ins Auto, und los – dabei habe ich halt 'aus Versehen' seine Karre touchiert. So what?“
„Kommen wir zum Straftatbestand der vorsätzlichen Körperverletzung. Ich nenne es mal einen glasklaren Kontrollverlust.“
„Ich nenne es Notwehr. Wissen sie, ich war im Supermarkt um die Ecke meiner Wohnung. Nicht mehr ganz nüchtern. Zugegeben - vorher war ich im Dorfkiosk, mit lebhaften Diskussionen bei Bier und Schnaps. Ein Sixpack Bier, eine Kleinigkeit zu Essen, mehr wollte ich danach nicht kaufen, um diesen beschissenen Tag zu Ende zu bringen. Da stand an der Metzgereitheke dieses irrsinnig hübsche, dunkelhaarige Mädchen, scheinbar die neue Azubine. Ihre dunklen Augen irritierten mich total. Ihre Figur im engen Arbeitskittel war knackig wie eine Bockwurst. Ich kam fast ins Stottern bei der Bestellung und war mir sicher, ich sagte: 'Können sie mir den Presssack in Scheiben schneiden?' Sie lief rot an. Die Metzgermeisterin, die daneben stand, entrüstete sich in den schrillsten, lautesten Tönen:
'Jetzt habe ich endlich eine brauchbare Auszubildende gefunden und sie Vollidiot beleidigen mein muslimisches Lehrmädchen mit `in Scheiden schneiden´? Gehts noch, junger Mann?'
Mir war das unheimlich peinlich, ich bin weder Sexist noch Rassist. Umstehende Kundinnen durchbohrten mich mit tödlichen Blicken. Ein türkisch aussehender Bodybuilder kam um die Ecke, den ich für den beschützenden Bruder des armen Metzgermädchens hielt. Ich geriet in Panik, drehte mich um und die Handschellen klickten …“
„Sie hatten unter Einfluss einer Blutalkoholkonzentration von 1,8 Promille die Polizeibeamtin gebissen!“
„Ich war erschrocken. Sie sah aus wie meine Ex-Frau, mit diesen wilden, rostbraunen Locken unter der Dienstmütze und die Uniform! VERDAMMTE HURE! Sie stand auf Uniformen, Fesseln, Handschellen, Peitschen und all' den Lederkram. Ich habe aufgeschrien vor Schreck! Dann habe ich zugebissen. So wie früher ...“
Ich bin jetzt unglaublich müde. Den Mann im weißen Kittel mir gegenüber kann ich nur noch undeutliche erkennen. Die viel zu enge Zwangsjacke fühlt sich mittlerweile beinahe kuschelig an. Der Herr Doktor steckt den Kugelschreiber in die Brusttasche des Kittels und schließt seinen Notizblock. Jedes Geräusch erscheint mir wie das Donnern eines Sommergewitters.
„Ich habe ihnen vorhin ein starkes Sedativum gegeben. Es sollte jetzt wirken. Ich wünsche ihnen erst mal eine gute Nacht. Morgen sehen wir weiter!“
Er klopft zum Abschied dreimal auf die Tischplatte, was meinen Schädel zum Explodieren bringt. Ich schließe die Augen. Dunkelheit.
© by impotentia
Vorlage:
Liebestöter
Gott
Obst
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Logorrhoe
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gulp