Fokus
Im Sprung gibt es nur mich, das Scheinwerferlicht und die raunende Schwärze unter mir. Es ist wie eine Welle der Erleichterung, die aus der Dunkelheit des nicht sichtbaren Zirkusrunds zu mir aufsteigt, wenn ich bei meiner Landung das so vertraute Federn des Seiles unter mir spüre. Der gleichzeitig ausgestoßene, angehaltene Atem der Zuschauer strömt von allen Seiten zu mir empor und umgibt mich wie ein Kokon sanft flatternder Schmetterlinge. Ich liebe es. Die Höhe, das Adrenalin und die Menge, die auf jede meiner Bewegungen reagiert. Es gibt nichts Vergleichbares als all diese Individuen zu meinen Gunsten zu manipulieren und durch ihre synchronisierten Emotionen belohnt zu werden. Jeder Quadratzentimeter meiner, fast schon verschwenderisch zur Schau gestellten, Haut vibriert. Denn hier unter dem Dach des Zeltes konzentrieren sich all ihre Laute und Emotionen wie in einem Brennpunkt. Sie berühren mich mit all diesen kleinen Geräuschen und Bewegungen die hunderten von Menschen so zu eigen sind. All dies vereint sich hier zu einer sensitiven Erfahrung, die unvergleichlich ist. Ein Erlebnis, das nur mir gehört. Mein kleines, persönliche Geheimnis.
Ein zufälliges Geheimnis, denn eigentlich wollte ich gar nicht mit der Seilhöhe experimentieren. Für mich gab es bis zu diesem Zeitpunkt kein wirklicher Unterschied, ob das Seil 30 cm über dem Boden, oder in 10 m Höhe gespannt war. Nur bei den Zuschauern erhöhte sich der Nervenkitzel bis zu eben jenem, sehr speziellen Tag, an dem ich die Zuschauer das erste Mal wirklich spürte.
Ich wusste, dass Schall nichts weiter ist als sich wellenförmig ausbreitende Schwingungen, die normalerweise vom Gehör wahrgenommen werden. Von Partys, Disco, oder Konzerten kannte ich die körperliche Intensität von Basstönen, aber niemals hätte ich gedacht, dass mich das Aufatmen von Zuschauern berühren könnte. Dieser sanfte Hauch. Ein Nichts verglichen zur Phalanx von fast fünfzig Subwoofern, die in Konzerten die Hosenbeine flattern lassen. Doch es ist möglich.
Bin ich auf dem Seil, trifft es mich in Wellen. Die Flut reiner Emotion von rund achthundert Zuschauern erzeugt auf meiner blanken Haut ein unsägliches Schaudern. Manchmal ist es wie tausende gleichzeitige Berührungen. Jede Bewegung, jedes Ahh und Ohh umfließt mich wie Wasser. Da unten im Rund des Zeltes hört man, ob die Menge bewegt ist. Hier oben spüre ich es. Die Manege wirkt wie ein gigantischer, siebenhundert Quadratmeter großer Lautsprecher dessen Schall vom Zeltdach auf einen einzigen Bereich von weniger als fünf Metern Durchmessern konzentriert wird. Der Bereich, in dem ich tanze. Hier ist das Erleben so unglaublich intensiv, dass ich Angst habe, meine immer wieder aufwallende Gänsehaut könnte mich verraten, denn es ist ein Spiel aus Erregung und höchster Konzentration. Ein falscher Schritt und ich falle. Falle in den dunklen Bereich der Manege. Ich habe Angst davor und es wird zu viel. Zu viel Emotion, zu viel Erregung, zu viel Schwarz.
Doch da ist Licht. Ich erwache als Licht durch meine Augenlieder schimmert. Ich spüre die warme Sonne auf mir und der Schrecken der Schwärze weicht. Grillen zirpen, Vögel zwitschern und ein leichter, warmer Windhauch weht über meine Körper. Als ich die Augen öffne, sehe ich, wie Kirschblütenblätter, durch den Wind bewegt, in der Luft tanzen. Wie Schneeflocken trudeln sie durch die Luft und bedecken mein dunkelblaues Kleid mit zartrosa Tupfen. Ich lächle, räkele mich in der warmen Sonne und die Dämonen der Dunkelheit zerfallen zu Sand.
Schlagartig ist die Sonne weg und es riecht muffig. Kein Wohlgefühl in der Sonne, kein Schaudern auf dem Seil. Ich verdrehe die Augen, schiebe die VR-Brille nach oben und schäle mich aus dem Sensitiv-Anzug. Von Wegen, meine Dämonen zerbröseln wie Sand. Das Notprogramm hat übernommen, als meine Kredits abgelaufen sind. Hier bin ich wieder in dieser, meiner Drecks-Welt. Der Schein der virtuellen 3D-Reklame von „Immersiv“ fällt als matter Lichtbalken von außen, durch einen Spalt in meinen zugezogenen Vorhängen, ins Zimmer. Er zeigt mir gerade genug von diesem Loch, in dem ich wohne, dass ich schon wieder kotzen könnte. Das Hochgefühl, dass ich gerade noch verspürt habe, beginnt schon wieder abzuflauen.
Scheiße, schon die alten Römer haben es gewusst, Brot und Spiele helfen an der Macht zu bleiben und die von „Immersiv“ haben das Thema wirklich verfeinert. Wen interessiert heute noch Politik? Dies hier ist viel effektiver. Ich habe eine Wohnung, kostenfreies Essen und bin mehr als bereit wieder für sie zu arbeiten, denn ich will hoch hinaus, wieder in die Manege, hinauf auf das Seil und die Emotionen spüren.
© Moreinterested