1. Mai
Ich erwache neben ihr. Wir schlafen immer noch ohne Abstand. Auf einem 140 cm Bett. Nach so vielen Jahren. Irre. Ich liebe es, meinen Körper an ihren Rücken anzuschmiegen. Ihre Haut mit den Händen zu spüren. Sie schläft immer viel tiefer und fester als ich.
Ich stehe auf. Schlurfe in die Küche, um meine Medikamente für Herz und Blutdruck zu nehmen. 9:30 Uhr ist schon sehr spät für mich. Sonst treibt mich die senile Bettflucht bereits zwischen 5:30 und 6:00 aus dem Bett. Ein Umstand, der stets dazu führt, dass die Spülmaschine ausgeräumt und die Kaffeemaschine angewärmt ist, bevor sie sich aus dem Bett quält. Ich bringe ihr den Kaffee ans Bett. Berühre sie lüstern. Sie lächelt. Sie zuckt. Es kribbelt. Wir heben uns die Geilheit für später auf. Das junge Ding und der alte Mann. Wie schön für mich, dass es überhaupt noch Geilheit gibt.
Ihre Kinder machen keine Aufstand. Einer schläft noch. Der andere hat das Wohnzimmer besetzt, um sich Asterix auf KIKA reinzuziehen. Tablets und Handy sind versteckt. Die gibt es erst später, nach dem Medikinet. Eigentlich wäre ich jetzt im Wohnzimmer, um am Schreibtisch in der Ecke Mails zu checken. Ich gehe wieder ins Schlafzimmer, um mich nochmal anzukuscheln.
Wir frühstücken alle gemeinsam. Wo meine bereits erwachsenen Söhne sind – keine Ahnung. Sie führen ihr eigenes Leben. Gut so. Ihre Kinder machen mit etwas Beistand von Muttern die Omelettes. Heute mal kein Terror. Obwohl – die Hausaufgaben sind noch nicht gemacht.
Ich mache meine Hausaufgaben. Buchhaltung für meine selbständige Tätigkeit. Während die Angestellten den Tag der Gewerkschaften feiern oder demonstrieren, muss ich mir viel Arbeit machen, nur um dem Staat Geld überweisen zu dürfen. Dabei habe ich mittlerweile einen angestellten Nebenjob und sollte jetzt bei den Arbeitern auf der Straße sein. Schließlich haben diese Leute von der FDP keinen Anstand. Da sagt doch tatsächlich einer im Netz, die auf dem Fahrrad könnten sich, dank grüner Ideologie, alles erlauben. Ich kontere damit, dass nicht jeder ein FDP-Mitglied ist und sich den Zweit-Porsche leisten kann. Fahrradfahren ist einfach nur der Mangel am Zweitwagen. Weil zwei arbeiten müssen, um bei dieser Inflation einen Haushalt führen zu können. Viel Arbeit, nichts übrig. Ich muss noch meinen Einstand bei der neuen Arbeit zahlen. Vielleicht nach dem ersten Gehalt.
Formulare für die neue Arbeit muss ich auch ausfüllen. Unter anderem Angaben zu meinen Kindern, inklusive der Geburtsurkunden. Wie verrückt ist das? Das Finanzamt und die Krankenkasse wissen doch seit Jahren, dass ich Kinder habe. Wenn es um Bürokratie in Deutschland geht, gerate ich schnell in den Zustand der Resignation. Es gibt Länder im Baltikum, die überweisen ihren Bürgern das Kindergeld einen Tag nach der Geburt. Ohne Anträge, ohne Unterschriften, ohne Behördengänge. Hierzulande müssen Bürger erst mal beweisen, dass sie wirklich Eltern geworden sind.
Ich fahre ins Büro, muss noch ein paar Sachen für morgen holen. Auf dem Rückweg am Bahnhofskiosk vorbei. Auf der Bank davor sitzt ein Mensch, grauer Bart, graues, zotteliges Haar, graue, vergammelte Schimanski-Jacke. Er brabbelt etwas von „Vaterlandsverräter“, aber ich bin mir nicht sicher, ob die Trulla ihm gegenüber wirklich zuhört. Sie schwankt. Wen er mit dem Vaterlandsverräter meint, will ich gar nicht wissen.
Später fahren wir im Auto zu einem Freund. Wir werden auf der Landstraße überholt, trotz Tempolimit. Der Überholende fährt gegen die Fahrtrichtung weiter, bis er links abbiegt. Ich meine, da hätte nur einer rausfahren wollen, der gewohnheitsmäßig nur nach links schaut, weil von rechts ja eigentlich niemand kommen darf. Bumm. Ok, alles nochmal gut gegangen, aber in letzter Zeit habe ich das Gefühl, manche halten die Verkehrsregeln für Vorschriften, die nur für 'Schlafschafe' gemacht wurden. Unter dem Motto: „Was erlauben die da oben sich, mir zu sagen, wie ich fahren darf?“ Manche Regeln haben aber doch Sinn, oder?
Meine Liebe fährt mit ihren Kinder weiter, zum Haus des Ex-Manns, sie leben das Nestmodell. Sie wird dort im Gästezimmer übernachten.
Der gemeinsame Freund ist betrunken und redet wirres Zeug. In seiner Küche fehlt der Herd. Seine Freundin ist ausgezogen. Eine tröstende Umarmung, ich gehe weiter.
Im Biergarten meiner Stammkneipe ein Schild auf dem Tisch: „Wir sind dagegen, dass in unserem Biergarten Haschisch konsumiert wird. Wir halten nichts davon!“ Damals, vor 35 Jahren, habe ich genau an diesem Ort gekifft. Damals war es noch illegal. Seit es legal ist, wird mehr über die Gefahren von Cannabis geredet, als es jemals der Fall war - während am ersten Mai die halbe Nation, in betrunkenem Zustand, die sonst so ruhigen Fahrradwege mit E-Bikes unsicher macht.
Wäre ich jetzt noch Vereinsvorstand, müsste ich mich um irgendein Fest kümmern. Bin ich aber nicht mehr. Gemeinnützigkeit ist gut, aber wenn es zur Allgemeinausnützigkeit mutiert, wird es ungesund. Der Mensch lebt in einer allgemeinen Erwartungshaltung des Nehmens. Geben ist Vergangenheit.
Ich fahre mit dem Zug zurück. „Auf-Achse-Ticket“, sehr günstig. Allerdings muss man sich auf Bahn.de lange durch das Chaos scrollen, bis man es findet. Man muss es sich ausdrucken. Papier im digitalen Zeitalter. Zuhause am Bahnhofskiosk sitzt der Vaterlandsverräter immer noch, inzwischen allein und verraten.
Wie gerne würde ich in dieser lauen Nacht bei einem Rockkonzert mitfiebern, einfach mal durchatmen und die Farbtupfer der Lightshow die Netzhäute meiner Augen betören lassen. Die Knie butterweich und mit Leichtfüßigkeit über eine nebelfeuchte Wiese tanzen. Es ist jammerschade, dass es kaum noch Konzerte gibt und heute die KI den Äther der Rundfunkstationen füllt. Die Lust auf gute Partys ist zeitlos und vieles erfüllt mich mit Zorn, doch ich bin nicht mehr streitlustig genug, um Stress zu machen.
Ein gutes Buch im Bett ist ja auch schön. Ich nehme die Pillen gegen das Cholesterin.
© by impotentia
Abstand
Anstand
Aufstand
Beistand
Einstand
Umstand
Vorstand
Zustand
mitfiebern
durchatmen
Farbtupfer
Leichtfüßigkeit
butterweich
jammerschade
zeitlos
streitlustig
(Am 1. Mai bin ich nicht mit diesem "Tagebucheintrag" nicht fertig geworden. darum heute noch die neuen Acht drangehängt um ab damit)