Sie
Sie tänzelte neben ihm her mit der ihr eigenen Leichtfüßigkeit, barfuß durch das butterweiche Gras der Wiese am Waldrand. Frisches Grün belebte die Sinne, heiter blinzelten Sonnenstrahlen durch das saftige Laub der zum Leben erwachten Bäume. Endlich durchatmen, nach den endlos erschienen Tagen voll Kälte und grauer Nässe. Er lief auf dem Schotterweg neben ihr her und sog das Bild in sich auf. Ihre nackten Beine, das weiße Kleid, welches sich luftig um ihren Körper wickelte, während sie mit dem Wind um die Wette tänzelte. Die Luft war voll der Düfte von Blüten, Gras und feuchter Erde. Ihr helles, keckes Lachen malte immer wieder bunte Farbtupfer in das Dunkel seiner Seele. Er lächelte.
Sein Lächeln versiegte, als er einen Mann auf dem Weg am Waldrand bemerkte. Entgegenkommend hob dieser die Hand zum Gruß und blieb stehen, sobald er auf gleicher Höhe war, um freundlich das Gespräch zu beginnen:
„Hannes, ich grüße dich. Du so fröhlich hier unterwegs? So freudig lächelnd habe ich dich lange nicht mehr gesehen!“ Er sah Hannes direkt in die Auge, ohne Helene auch nur eines Blickes zu würdigen.
„Ach ja, Klaus. Sonne, frische Luft … musste mal raus“, entgegnete Hannes wortkarg.
„Na dann, ich will dich nicht lange aufhalten. Genieße den wunderbaren Tag, ich muss auch weiter zu meinem Weiher, die Fische füttern. Habe die Ehre!“, klopfte Klaus ihm auf die Schulter und ging weiter.
„Danke, schönen Tag auch!“, verabschiedete sich Hannes leicht verwirrt.
„Stoffel!“, prustete Helene, „für den bin ich wohl Luft?“
„Ja.“
„Und du hast nichts gesagt, mich nicht ins Gespräch gebracht, kein Wort. Typisch Männer!“
Sie bekam diese Stirnfalte und ihre grünen Augen funkelten. Insgeheim liebte er es, wenn sie streitlustig wurde, vermied es aber, genüsslich zu grinsen, denn sonst hätte sich ihr süßer kleiner Zorn in eine große Wut voller Glut verwandelt.
„Helene“, seufzte er, „auch wenn ich es immer wieder sagen muss – du bist Luft.“
„Trotzdem könntest du doch zu mir stehen“, schnatterte sie hektisch weiter.
„Um mich zum Dorfdeppen zu machen? Die erklären mich doch für verrückt, wenn ich nach drei Jahren immer noch mit dir spazieren gehe!“
„Jammerschade“, seufzte sie, schürzte trotzig die Lippen und eine kleine Träne quetsche sich aus ihrem rechten Auge.
„Ja, jammerschade.“ Hannes schluckte. „Ich wollte dich nie gehen lassen.“
Klaus war inzwischen fast außer Sichtweite, drehte sich aber nochmal nach Hannes um. Es wurden ja einige seltsame Geschichten erzählt im Dorf. Seit Helene ihrem Bauchspeicheldrüsenkrebs erlegen war, hatte Hannes keine neue Partnerin gefunden. Manche munkelten, er wäre aus Trauer verrückt geworden und würde Selbstgespräche führen, nachts mit den Wölfen heulen oder Tieropfer auf einem Altar in seinem Keller verbrennen. Manche nahmen panisch ihre Kinder zur Seite, wenn er zufällig zu nahe kam. Klaus wollte den ganzen Quatsch nicht glauben und gab nichts auf das Geschwätz der Leute. Er hatte Helene und Hannes immer für ihre phantastische Liebesgeschichte bewundert. Sie waren ein Traumpaar, zeitlos in Verliebtheit, Verbundenheit und vereinter Lebensfreude, die sie gerne bei jeder Gelegenheit mit ihren Mitmenschen teilten.
Jetzt aber sah er ein seltsames Bild, das ihn stutzig machte: Hannes stand am Wegesrand und redete scheinbar auf einen Schwarm weißer Schmetterlinge ein, der sich schwirrend und flirrend zur Form eines Frauenkörpers im weißen Sommerkleid formierte. Klaus schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Als er wieder den Blick nach Hannes ausrichtete, ging dieser auf seinem Weg weiter, als ob scheinbar nichts gewesen wäre.
„Hannes, Hannes, jammerschade. Du brauchst dringend eine neue Frau an deiner Seite“, murmelte Klaus und nahm den Weg zu seinem Weiher wieder auf.
„Ich wollte auch nicht gehen, lieber Hannes“, flüsterte Helene, während sie ihren gemeinsamen Weg durch die sonnige Frühlingslandschaft fortsetzten, „habe ich denn gar kein Recht mehr, dabei zu sein?“
„Liebe Helene, ich trage dich für immer und ewig in meinen Erinnerungen mit mir. Doch ich kann dich nicht greifen. Ich kann nicht mir dir lachen, wenn wir auf dem Dorffest tanzen. Ich kann nicht mehr mitfiebern, wenn du die Frauenfußballmannschaft zum Sieg führst. Ich kann dich nicht berühren, wenn ich nachts alleine im Bett liege ...“
„Ha!“ Helene lachte protestierend auf: „Du willst eine andere fürs Bett? Ist es das?“
Jetzt war es an der Zeit, dass Hannes feuchte Augen bekam: „Nichts ist zu ersetzen. Unsere Geschichte ist einzigartig. Aber ...“
Hannes schluckte schwer. Es entstand eine Pause, in der sich beide jeweils in den weit offenen Pupillen des Gegenübers verloren.
„... es ist – vorbei!“
„Pah, vorbei. VORBEI!“ Helene schrie fast. So laut ein Geist schreien konnte:
„Vorbei, vorbei, Kartoffelbrei!“ Nun war sie nicht mehr zu stoppen:
„Du meinst also, ich soll gehen? Ab in die ewigen Jagdgründe? Old Shatterhand lässt Nscho-Tschi gehen, um weiterhin mit Winnetou durch die Prärie reiten zu dürfen? Auf der Jagd nach süßen, kleinen Indianerinnen? Mich ersetzen durch eine Uschi-Glas-mäßige Apanatschi? Soll ich mich aufgeben wie Kleopatra, nur um Cäsar freien Lauf zu gewähren? Muss ich brennen wie Johanna von Orléans? Soll ich in den Tunnel fahren wie Diana? Nur um in diesem langweiligen Himmel Hosianna zu singen mit pupsenden Engeln? Da gibt es keine Drogen, keine Zigaretten, keinen Kaffee und keinen Sex!“
„Ja“, protestierte Hannes, „genau. Keinen Sex. Mit dir an meiner Seite habe ich auch keinen Sex!“
Stille.
Sie gingen nebeneinander her, Seite an Seite, sie nahm seine Hand.
„Du kannst gerne Sex haben. Ich habe nichts dagegen. Schließlich bist du noch am Leben. Jeder sollte seine Triebe ausleben können.“
Hannes lachte. „Vielleicht erinnerst du dich, als ich es das letzte Mal mit dieser Ricarda versuchte. Du standst kichernd neben dem Bett. Ich kann so nicht, Helene!“
„War aber auch wirklich lustig. Du betrunken, sie in diesem lächerlichen Playboy-Bunny-Outfit. So etwas ist doch nicht dein Stil.“
„Ja, und der Stiel blieb ein Wurm!“
Beide schauten sich verdutzt an und mussten lachen.
„Geliebte Helene, ich bin zu jung fürs Kloster. Ich weiß nicht, ob ich mich wieder verlieben werde ...“
„Aber?“
„... ich möchte die Gelegenheit dazu haben. Mit dir als ewige Erinnerung in meinem Herzen, ohne Projektion voller Schmerzen.“
„Du Poet“, spottete Helene versöhnlich grinsend.
Sie liefen eine lange Strecke schweigend weiter. Kurz bevor sie ihr gemeinsames Häuschen erreichten, blieb Helene abrupt stehen:
„Hannes, geh alleine weiter.“ So standen sie sich gegenüber, an beiden Händen haltend. Hannes schossen die Tränen aus den Augen. Er fand keine Worte.
„Hannes, das Haus ist jetzt dein Haus. Aber bitte versprich mir eins: Wer auch immer in Zukunft dein Haus, dein Bett und dein Leben mit dir teilen wird – behandele sie so gut, wie du mich auf Händen durch das Leben getragen hattest. Versprich mir das! Dann kann ich gehen!“
Hannes geriet in die Versuchung zu schreien: „Geh nicht!“. Doch er hielt den Mund. Statt dessen hielt er ihr Gesicht in seinen Händen und küsste sie auf den Mund. Ein Kuss wie warme Luft.
Heulend wie ein Schlosshund, öffnete Hannes, halb blind, die Tür. Am Küchenfenster flatterte ein weißer Schmetterling. Er öffnete einen der beiden Fensterflügel und entließ das zarte Tierchen in die Freiheit des Frühlings.
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