Weil es sich letzte Woche nicht mehr ausging, heute die Kombination mit den Wörtern aus beiden Wochen.
Neue Fähigkeiten
Shit, so viel Stille war nicht gut! Eva stand in der Küche und genoss ihren Cappuccino, als ihr auffiel, dass es im Esszimmer nicht nur leise, sondern verdächtig still war. Ihre Tochter Frida war nicht die Person, die allzu leise durch diese Welt tingelte. Etwas, was man von einer Fünfeinhalbjährigen auch nicht unbedingt erwartete, aber diese völlige Stille war mehr als ungewöhnlich. Kein Singen, kein Klappern des Löffels in der Müslischale, keine Bewegungsgeräusche auf dem Tripp Trapp.
Im Türrahmen blieb sie stehen und hielt die Luft an. Das Erste, was sie sah, war das glückliche Gesicht ihrer Tochter und einen Milchtropfen der, im Sonnenlicht glitzernd, nach unten fiel. Kleckern gehört zu einer Kindermahlzeit wie Regentropfen zu einem Regenguss, aber dass der Tropfen aus einer Wolke Cornflakes fiel, die über der Müslischüssel kreiste, war doch außergewöhnlich. Erst einmal tief ausatmen und durchatmen. Warten, bis sich der Herzschlag beruhigt.
„Geht es dir gut meine Süße?“
„Super! Mami ist das nicht toll? Wie ein Schwarm Vögel.“
Es war wirklich faszinierend. Jetzt kreisten die Flakes nicht mehr, sondern flatterten tatsächlich wie ein kleiner Schwarm Vögel wild durcheinander. Das dabei der Tisch von Milchspritzern gesprenkelt wurde, war an dieser Stelle erst einmal nebensächlich.
„Du solltest sie doch essen und sie nicht fliegen lassen.“
Mit einem „Och“ stürzte sich der kleine Schwarm wieder in die Schüssel.
„Guck mal Mama, mein Löffel kann auch fliegen!“
Wie von Geisterhand erhob sich der Löffel aus der Schale und kam in einem glitzernden Bogen direkt auf sie zu.
„Autsch“, sie hatte gar nicht so schnell reagieren können, wie der Löffel mit einem dumpfen „Klonk“ auf ihrer Stirn eingeschlagen hatte. Verblüfft setzte sie sich auf ihren Hosenboden. Ebenso verblüfft lugte Frida über die Tischkante nach unten.
„Oh Mami, das wollte ich nicht. Hast du gesehen, wie schnell er war?“
Nicht nur gesehen, sondern gespürt. Der Einschlag war ganz schön heftig gewesen und es würde sicher eine Beule geben.
„Frida, was machst du da? Seit wann kannst du solche Sachen?“
Sie versuchte leichtfüßig, entspannt und mit Elan aufzustehen, was ihr aber nicht wirklich gelang, da sich Ihr malträtiertes Steißbein schmerzhaft meldete. So blieb es nur beim müden Versuch. Schwankend kam sie auf die Beine.
Frida sprang vom Stuhl und kam auf sie zu. Ihre Augen geweitet und irgendwie mit violetten Farbtupfern in der Iris, aber die konnte sie sich auch einbilden.
„Möchtest du auch fliegen?“
Noch bevor sie auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte, riss es sie von den Füßen. Diesmal stürzte sie nicht, sondern blieb, in halb fallender Pose mitten im erneuten Sturz, in der Luft hängen. Wobei Luft nicht das richtige Wort war. Es fühlte sich an, wie auf einer sehr weichen Unterlage und als sie nach unten blickte, musste sie feststellen, dass ihre Füße mehr als dreißig Zentimeter in der Luft hingen.
„Frida, Schätzchen, bitte jetzt nicht. Es wäre doch jammerschade, wenn wir zu spät zum Circus kommen.“
Butterweich wurde sie von Frida wieder auf dem Boden abgesetzt. Der lang geplante Circusbesuch war einfach ein unschlagbares Argument.
Eva war froh, wieder den Boden unter ihren Füßen zu spüren. Erleichtert drehte sie sich zu Frida. Doch bevor sie erfahren konnte, was hier vor sich ging, setzte sich diese auf den Boden und sank mit einem gemurmelten „Müde“ auf den Boden, wo sie sich wie eine kleine Katze einrollte.
Eva war geschockt. Was war mit ihrem Kind geschehen. ES GAB KEINE MAGIE! Ok, siehe hatte gerade eindeutig etwas gesehen, das verdammt danach aussah, aber ihr schmerzender Kopf weigerte sich dies, als Realität anzuerkennen.
Vorsichtig hob sie Frida auf, trug sie in ihr Bett und setzte sich in den Sessel, wo sie immer die Gutenachtgeschichten vorlas. Sie beobachte ihre Tochter, wie sie im Schlaf lächelte. So selig und unschuldig, wie ein kleines Kind eben lächeln konnte. Sie fühlte sich, ja wie fühlte sie sich eigentlich? Vielleicht hilflos, aber in Wirklichkeit hatte sie mitgefiebert, als der kleine Schwarm Cornflakes seine Runde gedreht hatte. Eigentlich war es wie ein wahr gewordener Traum. Ihre Tochter konnte zaubern.
Sie ging zurück in die Küche, um nachzudenken, oder besser gesagt wollte die Küche betreten. Halb über der Schwelle passierte es. Es war wie eine weiche, warme Woge violetten Lichts. In einem zeitlosen Moment entglitt ihr die Realität. Sie tauchte ein in diese umhüllende Welle. Es fühlte sich an, wie ein Streicheln und Tasten. Fast so, als wollte sich das Licht vergewissern, dass sie es auch wirklich war. Musik und Licht in einem Tanz, der sie wieder freigab und mit sanfter Wärme in ihr verschwand. Was blieb, war ein leichter Duft von Jasmin, eine alles durchpulsende Wärme und Ohrenklingeln.
Uff, sie setzte sich auf den Barhocker. Erst nach einigen Minuten sinnbefreitem Starrens, realisierte sie, dass sie die Eieruhr auf dem Tresen fixierte und das Ohrenklingeln verebbt war. Ihre Fingerspitzen kribbelten und sie fühlte sich gut. Ja, wenn sie es richtig betrachtete, sogar ausgesprochen gut. Noch besser, so viel Tatendrang hatte sie seit vielen Wochen nicht mehr verspürt. War es da, was auch ihrer Tochter widerfahren war?
Vertieft im Fühlen und Grübeln musste sie feststellen, dass die Eieruhr inzwischen den Tresen verlassen hatte und zu einer Melodie, die vor sich hin summte, gemächlich in der Luft tanzte. Es war ganz leicht und das Hochgefühl verstärkte sich. Hierhin, dorthin, Eva ließ sie wie einen wild gewordenen Tennisball durch die Küche wirbeln. Sie musste einfach nur daran denken und was sie dachte, geschah. Es war großartig! Mit einer kleinen Pirouette setzte sie das gelbe Ei auf dem Bord ab, auf dem es sonst immer stand.
Was nun? Das würde ihr niemand glauben. Wem sollte sie erklären, dass Frida und sie von einer violetten Welle getroffen wurden und jetzt zaubern konnten. Es stellte sich auch die Frage, wie lange dieser Zustand anhalten würde. Vielleicht sollte sie die Situation ausnutzen und ihrem streitlustigen Nachbarn ein paar Hasenohren an den Kopf hexen. Niemand würde vermuten, dass sie es gewesen sein könnte. Nach all dem Hü und Hott mit den Mülltonnen und dem ewigen Kläffen seiner Köter wäre dies eine mehr als verdiente Befriedigung.
Lächelnd erhob sie sich, um zur Tat zu schreiten, als ihr Blick aus dem Fenster fiel. Dort herrschte das reinste Chaos und violette Lichtblitze zuckten durch die Straße. Mist, offensichtlich waren sie nicht die Einzigen, die mit dieser neuen Gabe gesegnet waren.
Nun ja, dafür war die Welt, ab jetzt, wieder wirklich magisch.
© Moreinterested 05/2024