Die Farben des Teufels
Manchmal muß man einfach was ganz anderes machen.
Fand Walter eines Tages so für sich.
Das Leben suppte zäh dahin, perfekt an der Oberfläche, aber wehe jemandem verrutschte die Maske, so daß die anderen für einen Augenblick gewahr wurden, was diese Person wirklich dachte ... sofort Angriff, Mobbing, Ausgrenzung.
Walter fand das komplett bescheuert. Er sehnte sich nach Veränderung. Angefangen hatte er damit, seine Wohnung aufzuräumen. ''Eh keine schlechte Idee'', fand seine Freundin beifällig, als sie mit den Kindern einmal wieder auf Besuch war und diese sich daraufhin alle Mühe gaben, den Urzustand des Chaos wiederherzustellen.
Lange konnte ihn jedoch auch die nunmehr lobenswert aus- und aufgeräumte Wohnung nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch seine Karriere sich an einem Punkt befand, wo es ihm mittlerweile mehrmals die Stunde Ober- und Unterkiefer zwanghaft auseinanderriß. Und das mitten in einem ach so wichtigen Meeting. Nachdem er bereits zweimal mit Schimpf, Schande und sämtlichen Unterlagen vor die Türe geschickt worden war um 'seinen Büroschlaf nachzuholen' wie der Chef sich unmißverständlich ausdrückte, feilte Walter innerlich bereits an seiner Kündigung.
Wie gerufen kam ihm daher die Stellenanzeige eines Unternehmens für Medizintechnik, das gerade eine völlig neue Praxissoftware entwickelte. Diese konnte alle Daten eines Patienten, auch externe, mühelos zusammenführen, man konnte Filter setzen, patientenunabhängige Abfragen machen, Statistiken erstellen und noch viel mehr. Beispielsweise konnte man so herausfinden, wer mehr als drei Achterl am Tag trank. Oder wer jeden Tag zum Discounter ging wegen dem Billigfleisch aus Massentierhaltung, statt regional frisches Gemüse beim Bauern zu kaufen.
Diese Firma suchte engagierte und wissenschaftlich interessierte Mitarbeiter, welche diese Software bei Kassen und Arztpraxen anzupreisen hatten. Die Krankenhäuser sollten in einem zweiten Schritt in Angriff genommen werden. Bis schlußendlich alle zu einer einzigen, glücklichen Familie zusammengeführt worden waren, in der niemand Geheimnisse vor dem anderen hatte und die in Freud und Leid zusammenstand und sich gegenseitig unterstützte.
Soweit der Werbeprospekt.
Als er seiner Freundin abends bei einem Glas Wein unsicher von dieser Firma und seiner bereits dort eingereichten Bewerbung berichtete meinte diese: ''Naja, das ist ja jetzt per se nichts Schlechtes. Solange ihr keine Software macht mit der man bestimmte Patienten rausfiltert und so lange daheim besucht bis sie sich freiwillig umbringen.
Weil sie nur noch eine Belastung für das Krankenkassen-Budget sind.''
Walter schluckte. Als potentielle Bedrohung hatte er diese Entwicklung zwar durchaus wahrgenommen, aber ob sie den Leuten tatsächlich nach dem Leben trachteten? Sicher nicht! Manchmal ging mit seiner Freundin schon ein bissl die Phantasie durch, das kam wahrscheinlich von den vielen Märchenbüchern die sie den Kindern vorlas. Abends. Wenn er schon lange wieder in seiner Wohnung saß, Strichmännchen auf Zettel malte und von Freiheit auf dem Wasser träumte. Als Skipper frei und ungebunden die Weltmeere zu besegeln ... aber weiter als auf den Neusiedlersee hatte er es leider nie gebracht und auch das nur zwei Jahre lang, dann konnte er sich das Boot nicht mehr leisten und mußte es um ein Butterbrot an so einen Emporkömmling verkaufen. Das schmerzte ihn heute noch.
Die ersten Tage in der neuen Firma waren hart. Die Hierarchie war deutlich festgesteckt, nur wer schier Unmenschliches leistete, so wurde ihnen bei den Schulungen immer wieder eingetrichtert, konnte aufsteigen - und Walters Unmut wuchs, als er ausgerechnet den Emporkömmling vom Neusiedler See in der Chefriege entdeckte. Der jetzt mit seinem Boot wer weiß wo überall umherfuhr. Während er sich mit schnippischen Sprechstundenhilfen und überforderten Ärzten umeinanderärgern mußte, die nicht begreifen wollten, daß sie keine Wahl mehr hatten. Das neue System würde kommen. Verpflichtend. Und je eher sie sich damit vertraut machten, desto weiter vorn würden sie die Nase haben wenn es erst einmal voll im Einsatz wäre.
Müdigkeit barocken Ausmaßes umfing ihn jeden Abend wenn er nach einem erschöpfenden Arbeitstag auf seine Couch geplumpst war. Zu zerschlagen um Männchen zu malen oder gar den einen oder anderen Songtext zu schreiben.
Wie folgenschwer seine Entscheidung, dieser Firma beizutreten tatsächlich gewesen war, wurde ihm erst viele Monate später bewußt. Er hatte sich mittlerweile an die Arbeit gewöhnt, sie ging ihm leichter von der Hand. Vor allem hatten die Ärzte nach und nach resigniert und er kam um einiges schneller voran mit der Rekrutierung und anschließenden Einrichtung der Software. Sogar eine blaue Badge für sein Hemd hatte er bereits bekommen. Immerhin, bissl eine Anerkennung, nicht mehr der ganz Neue, nicht mehr ganz unten in der Hierarchie.
Der Anruf kam spätabends. Seine Tante Irmi stammelte verwirrtes Zeug von schwarzen Männern die ihr dauernd die Betablocker wegnehmen wollten und daß sie einen zwischen die Beine getreten hatte woraufhin beide fluchend davongelaufen wären und die Türe fest hinter sich zugeworfen hätten. Was sollten denn die Nachbarn denken!
Walter mußte sich ein Lachen verbeißen. Alt war sie zwar, die Irmi, aber so schnell ließ sie sich nicht die Butter vom Brot oder ihre Betablocker vom Nachtkastl nehmen.
Während er sie beruhigte und versprach, am nächsten Tag ins Heim zu kommen und nach dem Rechten zu sehen, fielen ihm auch schon die Augen zu und natürlich hatte er das Gespräch am nächsten Tag vergessen.
Ein neuer Arbeitstag erwartete ihn, voller Herausforderungen und Schikanen. Die Software war mittlerweile flächendeckend installiert, wies aber noch jede Menge bugs auf, die selbstverständlich er auszubügeln hatte. So fuhr er von Praxis zu Praxis, wurde von naserümpfenden Sprechstundenhilfen empfangen und von wütenden Ärzten beschimpft ... und erst als er abends an dem riesigen Komplex des Seniorenwohnheims am Dürren Ast vorbeifuhr fiel ihm wieder der Anruf von Tante Irmi ein. Ein rascher Blick auf die Uhr bestätigte ihm, daß es noch nicht zu spät sei.
Er betrat das Gebäude, nickte der hübschen Empfangsdame zu und wollte soeben mit weitausgreifenden Schritten die Treppen zum Mezzanin in Angriff nehmen, da hörte er hinter sich die Empfangsdame rufen: ''Herr Walter, momenterl, bitte warten Sie noch einen Augenblick, Sie können jetzt nicht zu Ihrer Tante!''
''Was heißt das, ich kann nicht zu ihr? Ist etwas passiert?''
''Sie hat sich gestern Abend sehr über etwas im Fernsehen aufgeregt wir mußten ihr eine Spritze geben. Sie liegt auf der Krankenstation. Es schaut nicht gut aus.''
Walter schluckte. Hier stimmte etwas ganz und garnicht. Irmi pflegte sich niemals über 'etwas im Fernsehen' aufzuregen. Als sie ihn angerufen hatte und ihm von den schwarzen Männern berichtet hatte, klang sie zwar deutlich echauffiert aber keineswegs verängstigt oder gar wie kurz vor einem Zusammenbruch. Außerdem hatte sie garkeinen Fernseher.
Klein und mit spitzem Gesicht lag seine Tante in dem riesigen Krankenhausbett und sah hilfesuchend zu ihm auf. 'Hör gut zu Walter, hier gehen seltsame Dinge vor sich. Ich hab diese Männer jetzt mehrmals gesehen, sie besuchen auch andere von uns. Ich begreife nicht, wieso niemand etwas dagegen tut. Frau Markovic haben sie das Insulin genommen und sie konnte nur mit Mühe und Not aus dem Koma geholt werden. Wer macht sowas? Was soll das? Wir zahlen doch nun wirklich keine geringe Summe dafür, hier unseren Lebensabend verbringen zu dürfen, wo bleibt die Security wenn man sie braucht? Man ist doch seines Lebens nicht mehr sicher. Und genau das habe ich der Heimleitung gesagt. Als nächstes wache ich hier in der Krankenstation auf und man erklärt mir, ich hätte das alles nur im Fernsehen gesehen. Ich HABE garkeinen Fernseher!!! Frau Czerny hat mir erzählt zu ihr kommen sie fast jeden Abend, egal wie oft sie die Türe absperrt und sie hat sich schon überlegt, sich vom Balkon zu stürzen weil das kein Leben mehr ist, ständig in Angst und Schrecken vor den Einbrechern. Die Heimleitung lacht uns nur aus oder erzählt uns was von Einbildung. Wir sind vielleicht alt aber nicht blöd! Walter, du mußt etwas tun!!!''
Walter tätschelte die bleiche Hand der alten Frau und beschloß ... erst einmal abzuwarten.
Zu abenteuerlich erschien ihm die Geschichte seiner betagten Tante.
Kurz darauf wieder ein Anruf spätabends: Es täte ihnen sehr leid, ihn vom Tod seiner Tante in Kenntnis setzen zu müssen. Nierenversagen. Sie hätte einfach zu wenig getrunken, obwohl man es ihr immer und wieder gesagt hatte. Infusionen hätte sie verweigert, er hätte sie ja eh gekannt, höhö, eigensinnige alte Dame, stur bis in den Tod.
Am nächsten Tag hockte sich Walter an seinen Schreibtisch und rief die Daten seiner Tante auf. Stufe Rot. Seltsam. Bis vor wenigen Tagen war sie kerngesund gewesen. Ein bissl herzkrank, ja, aber ansonsten, abgesehen von der Arthrose, fit wie ein Turnschuh. Vor allem geistig. War sie jemandem im Wege gewesen? Hatte sie sich zu sehr eingemischt? Hatte man sie beseitigen müssen? Fing er jetzt auch schon zum Rumspinnen an?
Er filterte die von Irmi genannten Mitbewohnerinnen heraus, die Damen Markovic und Czerny. Auch diese rot gekennzeichnet. Ihm wurde übel. Bei den Schulungen hatte es lediglich geheißen, daß man hin und wieder Patientenakten rot kennzeichnen würde um besonderes Augenmerk darauf zu richten, daß diese Fälle sehr schwer seien und Notrufen von ihnen auf jeden Fall nachzugehen sei, da hier jede Minute entscheidend sein könne. Mehr hatten sie zu diesem Thema nicht erfahren, da es für ihre Arbeit nicht relevant sei.
Walter stellte mit wachsendem Unbehagen fest, daß es beispielsweise grüne Kennzeichnungen gab, hier war alles in Ordnung, die Patienten soweit gesund und die Kasse hatte nur Minimalbeiträge zu leisten. Gelb bedeutete, der Patient war entweder schon etwas älter oder hatte gesundheitsschädliche Angewohnheiten, beispielsweise rauchte er oder aß zuviel, aber noch hielten sich die Auswirkungen in Grenzen. Wurde regelmäßig kontrolliert.
Bei Violett war ebenfalls alles in Ordnung was die Kassenzahlungen betraf, nur handelte es sich hier um Menschen die selten einen Arzt aufsuchten sondern sich lieber mit Naturheilmitteln selbst behandelten. Zwar keine erhöhten Kosten aber Gesinnungsfeinde, die sich nicht in die Gemeinschaft einbringen wollten. Standen unter permanenter Beobachtung.
Kaum wagte Walter nun, nach den Kennzeichnungen von sich, der geliebten Frau und den Kindern zu suchen. Aber nun wollte er es wissen. In was für eine teuflische Sache war er da hineingeraten nur weil er kein Projektmanager in einer langweiligen Bank mehr hatte sein wollen?
Hellblau. Seine Kennzeichnung war hellblau. Offenbar das Label, das den Mitarbeitern zugeordnet wurde. Gut. Seine Frau? Gelb? Wieso gelb? Francine rauchte nicht, aß kein Fleisch und war nicht öfter als notwendig beim Arzt. Auch die Kinder waren bereits gelb gekennzeichnet. Das konnte doch nicht wahr sein, der Jüngste war gerade einmal vier Jahre alt und hatte außer den üblichen Kinderkrankheiten nie irgendwelche Auffälligkeiten gezeigt!
Walter rief noch einmal seine eigene Akte auf und traute seinen Augen nicht: Diese war innerhalb der letzten Minuten von Hellblau auf Rot gewechselt. Ihm wurde kalt. Hatte man ihn beim Surfen im Betriebsnetz beobachtet? Würden nun auch ihn die schwarzen Männer abends zuhause besuchen?
Rasch loggte er sich aus, griff nach seiner Aktentasche und dem Besuchsplan für heute und verließ das Gebäude.
Die Luft roch muffig. Die Hitze drückte. Würde wohl ein Gewitter geben.
Was sollte er jetzt tun? Weitermachen wie bisher oder alles auf eine Karte setzen und mit der Familie flüchten? War dies überhaupt noch möglich, jetzt wo sie ihn auf dem Schirm hatten?
Wieso hatte man ihm überhaupt die Berechtigung für diesen Teil des Systems erteilt wenn man nicht wollte, daß er sich dort umsah? Fragen über Fragen stürmten durch seinen Kopf ... er konnte einfach keinen klaren Gedanken fassen.
Später würde jemand in den Inneren Kreisen lächelnd zu seinem Kollegen sagen, Walter hätte von Anfang an keine Chance gehabt. Viel zu schlechte Nerven und einfach keinen Biß. Wer sich so ein leiwandes Boot um einen so niedrigen Preis abquatschen ließ, aus dem konnte einfach nichts werden. Selbst wenn er sofort geflüchtet wäre, spätestens in Schwechat hätten sie ihn gehabt.
Daß er dann mit Frau und Kindern im Wagen diesen schrecklichen Unfall hatte, tat allen wirklich herzlich leid, hieß es auf der Beerdigung. Unaufmerksam. Streß in der Arbeit. So schade.
Was keiner der Kollegen wußte, weil es niemanden interessierte war, daß nicht er gefahren war sondern seine Frau. Und daß, obwohl ihm Scherben der Windschutzscheibe beide Beine durchschnitten hatten und er am Verbluten war, und die Kinder rettungslos in Klumpen hinten im Fond verknäult waren, er ihr noch so lange ein leises Schlaflied sang bis ihr Herz aufhörte zu schlagen - und sie sich während der ganzen Zeit innig und in Liebe angesehen hatten. Glaube, Liebe Hoffnung, aber die Liebe ist die Größte unter ihnen.
Sprechen konnte er nicht mehr als die Rettungskräfte eintrafen, aber er hatte mit blutigem Finger ein Strichmännchen an den Rest der Windschutzscheibe gemalt und daneben das Wort: WARUM?
*