Liebe Lieblingsschwester,
ich sitze in der Eisdiele in H. in der wir uns in der Vergangenheit mehrmals getroffen und nicht nur das eine oder andere Frühstück verzehrt haben. Ja, genau diese, in der eine Mitarbeiterin solch eine komische, hässliche quietsche Stimme hat.
Die Sonne scheint und da dachte ich mir, ich packe mir mein Notibzbuch ein und trinke dort einen Cappuccino. Natürlich in der Erwartung, dass es dort etwas zu beobachten gibt und mein Voyeurismus gestillt wird.
Wie es ausschaut, wird meine Erwartung erfüllt. Noch wurde der Cappuccino nicht serviert und ich muss mir das Lachen verkneifen. Oder einen überraschten Blick? Ich sitze im Thekenbereich auf der letzten Bank. So habe ich alles im Blick, wie – wer kommt, wer geht - bekomme die Eisbestellungen der Schulkinder mit und höre das Meckern der Kellnerin, die draußen Getränke servieren möchte, ihr jedoch niemand der eintretenden Gäste die Tür öffnet. So muss sie erst ihre Tabletts abstellen, die Tür öffnen, die Tabletts erneut in die Hand nehmen und schwupps knallt ihr ein neuer Gast wieder die Tür vor der Nase zu. Mal schauen, wann es das erste Malheur, auch in Bezug auf den regennassen Boden der Terrasse geschehen wird.
Was verursacht mir ein Lachen? Am Tisch gegenüber sehe ich eine alte Frau. Ihr Hut ist mit einer großen Nadel auf ihren perfekt sitzenden Haaren, oder Perücke, befestigt. Ihr Gesicht ist von vielen Falten und Pigmentflecken durchzogen. Kerzengerade sitzt sie auf ihrem Stuhl, schaut durch ihre beschlagene Brille auf ihren Eisbecher und löffelt genüsslich mit sehr langsamen Armbewegungen einen Löffel Eis nach dem anderen und qualmt. Aus den Ohren. Ja, sie qualmt aus den Ohren.
Ich nippe an meinem Cappuccino, den ich inzwischen bekommen habe, nehme meine Brille ab und schaue erneut zu der Frau hinüber. Meine Brille ist nicht beschlagen, ich sehe richtig. Aus ihren Ohren steigt Qualm auf.
Um ehrlich zu sein, zweifele ich ein wenig an meinem Verstand. Im Kopf überschlage ich meine Medikamenteneinnahme. Nein, in keinem Beipackzettel sind Halluzinationen als Nebenwirkungen aufgeführt.
Diszipliniert vermeide ich es sie anzustarren. Erneut hebt sie mit einer langsamen Bewegung den Löffel mit Eis, und etwas Rotem darauf, zum Mund. Ein klein wenig wendet sie dabei ihren Kopf und plötzlich gibt es keine Nebelschwaden mehr aus ihrem Ohr.
Sie isst einen Eisbecher, den ich nur noch aus den 80er Jahren, vielleicht noch aus den 90er Jahren kenne, doch nicht mehr in der Gegenwart: Vanilleeis mit heißen Himbeeren. Wie früher werden sie in einer Sauciere serviert. Diese Himbeeren müssen sehr heiß sein, da noch immer Dampf aus ihnen hervorsteigt. Je nachdem, wie die alte Dame ihren Kopf hält, wirkt es, als würde der aufsteigende Dampf aus ihren Ohren strömen.
Puh, diese schnelle Auflösung verhindert, dass ich an meinem Verstand zweifele.
Ich widme mich mit einem Schmunzeln auf den Lippen meinem Cappuccino und schreibe weiter. Ja, die Gastronomie bescherte in den 80er Jahren noch kleine Besonderheiten. „Draußen gibt es nur Kännchen.“ „Draußen gibt es nur große Biere.“
Spaghettieis gab es nur mit Erdbeeren und nicht in der vielfältigen, aktuellen Auswahl. Sah ich früher jemanden in einem Biergarten oder Café ein großes Bier trinken, unterstellte ich ihm gleich ein Alkoholproblem. Für mich war es kaum nachvollziehbar, wie man freiwillig einen halben Liter Bier trinken kann.
Ach, in den 80er Jahren gab es noch Zigeunerschnitzel, häufig Toast Hawai, Grillagetorte, riesige Grillteller und allzu gerne wurden Gerichte in Sauce Hollandaise ertränkt.
Latte Macchiato war noch unbekannt und der Cappuccino wurde mit Sahne getrunken.
Ich löse mich gedanklich von meinen nostalgischen Erinnerungen.
Ach, die ersehnte Sonne treibt spezielle Menschen in die Eisdiele, wie mir meine Ohren gerade beweisen. Nein, es handelt sich nicht um Qualm. Am Tisch neben mir hat sich ein Mann gesetzt. Er ist nicht zu überhören. Aufgrund des Inhalts der Unterhaltung zwischen ihm und dem Besitzer vermute ich, dass er Stammgast ist.
„Wie geil. Wie geil. Aber ich bin zu fett dafür.“
Aha.
Ich drehe meinen Kopf nach links und sehe einen Mann in den 40ern. Bekleidet mit einem Hoodie und einer Jeans, aus der, wie soll ich es beschreiben, mich die halben Arschbacken anlachen Die Mischung aus kurzem Hoodie und einer schlechtsitzenden Jeans führen dazu, dass mich viel bleiche, mit wenigen Haaren besetzte Haut, anschaut.
Mich überkommt ein Gefühl des Fremdschämens und ich schwanke, ob ich den Mann darauf hinweisen soll, seine Jeans etwas höher zu schieben (falls dies überhaupt machbar ist) als mich der nächste, fast gebrüllte Satz unfreiwillig mithören lässt.
„Boh, das sieht so geil aus. Geil, geil. Egal. Ich nehme jetzt nur einen Espresso. Mit Schaum.“
Geil scheint sein Lieblingswort zu sein. Am liebsten würde ich rüber brüllen:
„Ich finde es nicht geil, dass mir Ihr bleicher, untrainierter Hintern unaufgefordert präsentiert wird.“
Ein weiterer Schluck von meinem leckeren Cappuccino lenkt mich von den „Geil, geil.“ Sätzen ab.
Für weniger als eine Minute.
„Weißt Du, ich will für den Urlaub abnehmen. Aber leider ist alles so geil.“
Ach, wenn er doch nur Aktivitäten in dem Bereich unternehmen würde, die ich mit geil in Verbindung bringe, würde er einige Kalorien verbrennen.
„Im Urlaub muss mein Bauch weg sein.“
Der Besitzer stellt eine Frage, die ich nicht höre. Vermutlich fragt er wieviel abgenommen werden soll.
„Nicht viel, so 20kg.“
Als er sich dann doch einen sehr großen Eisbecher „aber mit doppelt Sahne und viel Karamell“ bestellt, dieser serviert wird, verwendet er erneut sein Lieblingswort: „Geil, das sieht lecker aus.“
An diesem Eisbecher würde ich bis heute Abend naschen.
Ein Pärchen betritt die Eisdiele. Bevor sie sich setzen, geben sie bereits ihre Bestellung auf. „Einer so, einer so.“
Bei mir wirft das Fragezeichen auf. Was kann damit gemeint sein? Heiße Schokolade mit oder ohne Sahne? Ein Tee mit oder ohne Schuss? Ein Kaffee mit oder ohne Zucker? Ein Eisbecher mit oder ohne Sahne? Vermutlich könnte ich noch lange überlegen und würde der Lösung nicht näherkommen?
Ohne zu neugierig wirken zu wollen, versuche ich zu schauen, was ihnen serviert wird. Der Mann trinkt einen Cappuccino mit geschäumter Milch, die Frau einen Cappuccino mit Sahne. Man hätte draufkommen können. 😊
Heute ist das die zweite Situation, die mich an die Gastronomie der 80er Jahre erinnert.
Meine Tasse ist leider schon ausgetrunken und „gierig“ bestelle ich mir einen zweiten Cappuccino. Gierig nach weiteren Beobachtungen. Gierig nach einem weiteren leckeren Cappuccino. Für mich mit Milch. Er wird hier nicht so stark serviert, so dass er mir und meinem Magen schmeckt.
Hach, der erste Schluck schmeckt immer am besten. Ich löffele etwas Schaum und lasse „vor Schreck“ beinahe den Löffel fallen. Vier Männer und vier Frauen kommen herein. Das ist an sich nichts Außergewöhnliches. Wenn, wenn…. Nicht alle vier Männer über die identischen, schneeweißen Gebisse verfügen würden, die alle ein wenig vorstehen und bewirken, dass keiner von ihnen den Mund richtig schließt. Die alte Dame hat das Eiscafé inzwischen verlassen. An ihrem Tisch lassen sich nun die vier Pärchen nieder, indem sie noch einen Nachbartisch dazu schieben. Liegt es an dem Tisch an sich, dass dort Gäste Platz nehmen, die bei mir das Bedürfnis wecken sie anzustarren? Lieblingsschwester, ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll: Erinnerst Du Dich noch an die früheren Dracula Gebisse aus Kunststoff? So wirken die Dinger auf mich, die diese Männer im Mund haben. Als kämen ihre Gebisse aus einer Überraschungstüte oder wären Gimmicks des Yps-Heftes, welches es seit den 70er Jahren gab und deren Spielzeugbeigaben in der Erinnerung legendär waren.
Sie geben ihre Bestellungen auf. Die Männer leicht nuschelnd. Waren sie gemeinsam in einer Zahnklinik in Polen oder Tschechen und ließen sich dort behandeln? Bekamen dort für ihr Budget das, was man nun sieht? Sie ließen sich behandeln, während ihre Frauen Wellnessbehandlungen genossen?
Ausgerechnet einer der Männer, die mir gegenübersitzen, schiebt sein Gebiss ständig mit der Zunge hin und her. Das leicht schmatzende Geräusch stört mich. Ich empfinde es als genauso nervend wie das Geräusch eines ständig gedrückt werdenden Kugelschreibers. Gleich bleibt noch ein Stückchen Sahne in seinem Walrossschnurbart hängen und mein Ekel wird dann geweckt werden?
Ich zwinge mich in mein Notizbuch oder an die Wand zu starren.
Sein Sitznachbar (Du siehst, ich habe meinen Blick nicht lange abgewandt) trägt eine Brille und schaut aus wie Henry Valentino (dessen Zähne saßen deutlich besser) im Song „Im Wagen vor mir“.
Mist, nun habe ich das „RamTanRamTan“ im Kopf. Das Video werde ich Dir online schicken, damit dieser Ohrwurm auch Dich quälen wird.
Ach, ich kann mir den Kopf wunddenken und werde auf keine Lösung kommen, warum diese Männer diese Gebisse tragen.
Lieblingsschwester, mein Notizbuch ist gefüllt.
Es schrieb Dir Deine beobachtende und hörende kleine Schwester.