Grau
Nach gefühlter Ewigkeit der Schreibabstinenz, versuche ich mich mal wieder.
Sommersprossen, Nebensache, verzerren, schaukeln, umsteigen, ominös, flauschig, stückchenweise
Gab es etwas Traurigeres als ein graues Meer in Italien im August? Ja, an der Nord- oder Ostsee war das zu oft der Normalzustand gewesen, deshalb war sie urlaubstechnisch auch umgestiegen und nun gefühlt vom Regen in die Traufe gekommen. Grau - das brauchte man im Urlaub genauso wenig wie eine verzerrte Schulter. Missmutig blickte Paula auf die verschiedenen Grautöne, die sich durch die leichte Bewegung des Wassers mischten und dabei völlig neue Farbschattierungen ergaben. Da war eine olivfarbene Nuance im hellen Grau, dort bräunliches Gesprenkel auf eher dunklerem Grund, garniert mit einem auf den Wellen schaukelnden weißen Schaumkrönchen. Eigentlich sah es ganz schön aus.
Nichts natürlich gegen das üblicherweise vorherrschende Blau in allen Schattierungen von Azur über Petrol zu Marine. Intensiver als sonst lag der Geruch von Salz in der Luft, unterlegt mit der leicht harzigen Note der Pinien und einem dezent süßen Hauch von Kokosöl.
In der Ferne grollte es, doch das angekündigte Gewitter über den Ausläufern der Seealpen wollte nicht wirklich in Richtung des Strandes ziehen, jedoch überlagerten seine dunklen Wolken bereits die gesamte Bucht. Der seit Stunden auf ihren Füßen kratzende Sand weigerte sich ebenso zu trocknen wie die Schweißperlen in ihrem Gesicht, obwohl die Sonne schon lange nicht mehr sichtbar war. Der feuchte Atem des salzigen Wassers hauchte schwül und legte sich klamm auf die Haut. Paulas Bikini fühlte sich unangenehm an. Normalerweise würde sie jetzt ein Bad nehmen, doch das diffuse Grau mit mehr oder weniger stark ausgeprägter Fischnote lud nicht gerade dazu ein.
Das fanden offenbar auch die wenigen am Strand verbliebenen Menschen, kaum jemand von ihnen badete. Bis auf ein paar planschende Kinder und natürlich das seit Stunden knutschende Paar auf der schwimmenden Doppelluftmatratze. Letztere war an einer der Bojen des Nichtschwimmerbereichs festgemacht und so trieben die beiden - je nachdem wer gerade wen küsste - mal links oder rechts herum.
Die nervten vielleicht – und weckten zugleich Sehnsüchte. Wie konnte man nur so verliebt sein und die Umgebung damit derart belästigen? Den Duft des geliebten Menschen in sich aufsaugen, die Chemie der Berührungen und ihre lustvollen Aromen, die einen schwindelig und weich in den Knien werden ließen und nichts anderes wahrzunehmen als den Partner, der durch die Augen der Liebe gesehen, einfach perfekt in allem war, genauso wie er war. Der Duft von Honig und Vanille mit weißen Mandeln kitzelte Paula in der Nase.
In Gedanken stellte sich Paula vor, die Matratze mit dem völlig auf sich konzentrierten Pärchen einfach umzuschubsen. Die Abkühlung täte denen bestimmt gut. BÄM! Du bist boshaft! Schalt sich Paula. Jetzt lass sie doch. Nur, weil du wieder Single bist, kannst du das Glück doch anderen gönnen. Ach nein – fummelten die jetzt auch noch? Das tat jetzt aber richtig weh. Eine Welle wie von Bittermandel spülte das Parfüm des Strandes ins Meer. Aufdringlich und unangenehm waberte es um sie herum. Was zu viel war – und so weiter.
Paula sprang wie von der Tarantel gestochen auf und rannte ins Wasser. Dabei spritzte die Gischt so stark, dass alles um sie herum, inklusive des Pärchen nass wurde. Laute Schimpftiraden auf Italienisch und wildes Gestikulieren hallten ihr nach, doch Paula hörte nicht. Tiefer im Wasser tauchte sie im Meerjungfrauenstil ab und schrie ihren Schmerz gegen den welligen Grund. Sand- und Salznoten dominierten nun den Geschmack in ihrem Mund. Das typische Knistern und Knacken unter Wasser erfüllte die sonstige Stille fast ohrenbetäubend. Ein Schwarm kleiner, fast durchsichtiger Fische stob erschrocken vor ihr davon. Zu gern wäre sie einfach unter Wasser geblieben, eins geworden mit den Fischen, den Krebsen, den Muscheln, leicht wie der Sand durch die Strömung getrieben, doch die Luft ging ihr aus und sie musste auftauchen. Paula schwamm wie eine Verrückte als flüchte sie, hatte dabei das Salz in Mund, Augen, Ohren und in der Nase.
Nichts anderes als den Geruch der Weite bedeutete es ihr gerade. Ihre Arme pflügten durch das Wasser, immer schneller, immer weiter – bis sie die äußeren Bojen erreichte, die das Ende des Schwimmerbereichs markierten. Ab hier war es zu gefährlich weiter hinauszuschwimmen, wegen der Surfer, Segel- und Motorboote. Sie war nun innerlich ruhig und gefasst.
Die im wahrsten Sinne des Wortes schmerzhafte Trennung von Simon betrachtete sie jetzt entfernt, fast unbeteiligt, als wäre sie eine Fremde. Er hatte sie zu stark eingeschränkt, ihr die Luft zum Atmen genommen. Sein ganzes Wesen war bestimmend gewesen und stückchenweise hatte sie sich selbst verloren. Stets hatte er ihr das Gefühl gegeben, nicht gut genug zu sein. Nicht schlank genug, nicht schlau genug, nicht hübsch genug – egal, wie sehr sie sich anstrengte und dies auch mit körperlichem Nachdruck unterlegt. In den Geschmack von Salz und Wasser mischte sich eine andere Note. Unangenehm als lecke sie an Metall. Eisen, der Geschmack von Blut, dazu moosige Noten wie das seines Aftershaves. Jeden ihrer Schritte kontrollierte er, sogar eine ominöse Spyware auf ihrem Handy versteckt, die sie nur durch Zufall entdeckt hatte. Aus Selbstschutz, der irgendwann übermächtig wurde, blieb ihr nur diese kranke Beziehung zu beenden. Auch wenn der Sex nach seinen Ausrastern irrsinniger weise immer großartig gewesen war. Ja, diesen Sex vermisste sie, gestand sie sich ein.
Alles andere nicht. Nicht die Ohrfeigen, nicht die blauen Flecken von seinen Festhaltegriffen, nicht das Ziehen an ihren Haaren und seine verbalen Schläge, die fast mehr schmerzten. Echt jetzt – niemals hätte sie gedacht, dass ihr so was passieren könnte oder sie sich jemals etwas Derartiges hätte gefallen lassen können. Seinen Beteuerungen zu gern zu glauben, dass es doch keine Absicht wäre, sie ihn aber nun mal so sehr zur Weißglut brächte – mit ihrem dämlichen Verhalten ihm gegenüber.
Paula war so froh, dass sie den Absprung gerade noch eben geschafft hatte. Hätte er sie irgendwann grün und blau geprügelt, vergewaltigt oder noch schlimmeres? Wäre sie eine dieser ach so „tollpatschigen“ Frauen geworden, die ständig die Treppen „herunterstürzten“ und mit Veilchen im Gesicht durch die Gegend liefen? Sie mochte den Geruch von Veilchen, auch die zartviolette Farbe. Doch lieber als Eis genossen. Wer weiß, was die nächste Stufe seiner Gewalt gewesen wäre. Sie wischte diese Gedanken mit ihrem unangenehm bitteren Aroma fort. Da war er wieder – der Duft ihrer Freiheit, gepaart mit der des Strandes. Das satte Grün der Schirmpinien ergab einen reizvollen Kontrast zu den fast schwarzen Wolken am Himmel über die aufgespannten orangefarbenen Sonnenschirme des Bagnos, die wie kleine Sonnen leuchteten, zum vielfarbigen Grau des Wassers. Was für ein Bild und diese goldorangefarbenen Punkte erinnerten sie an ihre Sommersprossen, die sie sich Simon zu liebe hatte weg bleichen lassen. Konnte man die eigentlich wiederherstellen? Denn eigentlich hatten diese sie nie gestört, im Gegenteil.
Langsam und mit Genuss schwamm sie nun zurück. Sie schmeckte Weißwein mit fruchtigen Aromen auf ihrer Zunge. Ja, darauf hatte sie Lust – jetzt gleich. Und ohne erst nachfragen zu müssen. Einfach so, weil sie es wünschte. Das Pärchen hatte sich in der Zwischenzeit glücklicherweise verzogen, vermutlich um das zu Ende zu bringen, was es auf der Luftmatratze begonnen hatte. Paula gönnte es ihnen. Sie warf ihr Kleidchen über, nahm ihre Badetasche und machte sich auf den Weg zur kleinen Strandbar. In diesem Moment öffnete der Himmel seine Schleusen. Regen prasselte auf sie nieder, Blitze zuckten spektakulär aus den Wolken und sämtliche Aromen wie das der Pinien, der reifen Zitronen und Blüten wurden noch intensiver, belebender, einfach berauschend. Das Salz verkam zur Nuance.
Paula fluchte trotz dieser Duftexplosion in ihrer Nase. Jetzt war sie klatschnass und hatte nichts Trockenes mehr dabei. Ihr Kleidchen klebte an ihr wie eine zweite Haut und ihr Haar triefte vor Nässe. Sie flüchtete sich unter das Dach der kleinen Bar, wo gerade Gianna Nannini von einem „Latin Lover“ sang. Paulas Laune befand sich auf dem absoluten Nullpunkt. Als …
... ihr von der Seite ein flauschiges Handtuch gereicht wurde, von einem höchst attraktiven Mann mit ausdrucksstarken grauen Augen, die sie freundlich anlächelten. Sein Duft, eine Mischung aus edlen Gehölzen mit einer Spur Ingwer ließ sie ebenfalls lächeln. Es gab weitaus schlimmeres als Tristesse am Strand und Grau als Farbe hatte etwas sehr Anziehendes. Alles andere um Paula herum wurde daraufhin zur Nebensache.