Ajas Lied
frisch
nachdenklich
reiben
aufbrausen
Schwelle
tief
Umbra
Wind
1
Schwere Wolken hängen über dem Park der Klinik. Der Wind fegt über die Kronen der mächtigen Eichen und wirbelt ein paar Blätter hoch in die Luft. Hülja betrachtet das blasse Gesicht ihrer Großmutter Aja, deren zierliche Gestalt in dem riesigen Krankenhausbett sehr verloren wirkt. Auch, wenn Aja die Operation anscheinend gut überstanden hat, der Schock über ihren Unfall hat die gesamte Familie mobilisiert. Marris, der älteste Sohn, tigert unruhig auf und ab. Schließlich bleibt er stehen und baut sich vor seiner Frau auf.
„Wie konntest du zulassen, dass sie allein aus dem Haus geht, Octane?! Ich fass es einfach nicht! Du weißt genau, dass sie draußen nicht mehr klar kommt! Und wie oft hab ich dir eigentlich schon gesagt …“ Octane sinkt unter seinem finsteren Blick noch tiefer in sich zusammen. Ihre flatternden Hände reiben immer wieder über ihren gewölbten Bauch. In ein paar Wochen wird ihr drittes Kind geboren. Marris hatte immer schon ein aufbrausendes Temperament, dominant und selbstgerecht. Octane konnte ihm noch nie viel entgegensetzen und mittlerweile fehlt ihr auch jegliche Kraft dafür. Doch Hülja, die neben ihr sitzt, hat nun genug gehört. Sie schüttelt Octanes Hand ab, die sich beschwichtigend auf ihren Arm legt und springt auf.
„Was weißt du denn schon, Marris! Es hat dich doch bis heute nicht interessiert, wie es deiner Mutter geht! Vielleicht hättest du mal öfter nach ihr sehen sollen, anstatt mit deinen Kumpels abzuhängen!“
„Was fällt dir eigentlich ein, du Rotzgöre?! Und wie sprichst du mit mir!“
Marris wirbelt herum und starrt Hülja an, fassungslos vor Wut. Hülja reckt ihr Kinn hoch, ihre Augen funkeln vor Zorn. Sie weicht keinen Millimeter vor ihm zurück.
„Lass Octane endlich in Ruhe, Marris, du warst ihr noch nie eine Stütze! Hättest du dich rechtzeitig um eine Betreuung für Großmutter gekümmert, läge sie jetzt nicht hier in der Klinik.“
Der Lärmpegel erreicht seinen Höhepunkt, als der kleine Toma in seinem Buggy erwacht und losschreit, in einer Frequenz, die schon Glasfenster zum Bersten gebracht hat. Die Tür fliegt auf und ein Pfleger im grünen OP-Outfit kommt herein. Er geht zwischen die beiden Streitenden.
„So, Schluss für heute, die Besuchszeit ist um! Sie gehen jetzt bitte alle nach Hause. Morgen können sie wieder kommen, falls sie sich bis dahin beruhigt haben.“
Octane schiebt ihr schreiendes Kind aus dem Zimmer und hält an sich, um nicht ebenfalls in Tränen auszubrechen. Der schummrig beleuchtete Flur riecht scharf nach Desinfektionsmitteln. Während ihr Ehemann noch mit dem Pfleger diskutiert, versucht sie, den Kleinen zu beruhigen. Hülja nickt ihr zu und läuft schnellen Schrittes weiter zum Ausgang. Octane sieht ihr nachdenklich hinterher. Ihre Nichte hat noch nie viel Respekt gegenüber männlicher Autorität gezeigt, eher im Gegenteil. Es würde schwer werden, einen Ehemann für sie zu finden.
2
Tiefes Donnergrollen unterbricht die plötzliche Stille. Als ich endlich die Augen öffnen kann, bricht die Sonne durch die dichten Wolken und flutet das Zimmer mit weichem, goldenem Licht. Vorsichtig bewege ich meine Glieder und hebe den Kopf. Marris´ Stimme dringt gedämpft zu mir herüber, wie durch eine dichte Nebelwand. Dass sich der Junge auch immer so aufregen muss! Er hatte schon immer zu viel Energie, das wird ihm noch zum Verhängnis werden. In Gedanken segne ich ihn, meinen Sohn. Er wird seine Lektionen gewiss noch lernen.
Ich schiebe vorsichtig meine Beine über die Bettkante. Und – oh, Wunder! – ich kann stehen und ich habe keine Schmerzen! Bei den ersten Schritten jubiliere ich innerlich. Weder Marris noch der strenge Pfleger bemerken mich, als ich wie auf Wolken an ihnen vorbeigehe und den Raum verlasse.
Draußen auf dem Flur sitzt Octane und wiegt den Buggy mit Toma auf und ab. Das goldene Sonnenlicht zaubert Regenbogen-Reflexe an die tristen Wände. Als der Kleine mich wahr nimmt, verstummt er augenblicklich. Ich lächle ihm zu und lege einen Finger an die Lippen. Mit dem Erkennen erhellt ein Strahlen sein Gesicht, er lacht und winkt mit seinen kleinen Händen. Octane wendet den Kopf in meine Richtung und betrachtet die bunten Lichter an der Wand. Zärtlich streichelt sie über Tomas Kopf. Viel Kraft dir, liebe Octane! Du wirst der Familie noch mindestens ein weiteres Kind schenken, doch ich wünsche dir sehr, dass du eines Tages dein eigenes Leben leben kannst.
Leicht und frei, beschwingten Schrittes gehe ich weiter über die Schwelle, dem Ausgang entgegen. Endlich hinaus an die frische Luft! Seit Tagen sehne ich mich danach, dem Raunen der Bäume zu lauschen und den Wind auf meinem Gesicht zu spüren.
Am Ufer des kleinen Sees finde ich schließlich meine Enkelin. Was für eine unbeugsame, intelligente junge Frau sie geworden ist! Hülja hat ihren eigenen Kopf und sie ist stark, sie bereit für diese Welt. Leise komme ich näher und setze mich ihr gegenüber auf den Stamm einer Buche. Der Wind summt ein leises Lied und ich stimme mit ein.
„Großmutter! Wie bist du denn hierhergekommen?“ Erschrocken und ungläubig starrt Hülja mich an. Die Sonne fällt auf ihr Gesicht und ihre dunklen Augen schimmern in Umbra- und Grüntönen, während sie langsam begreift. Wie schön sie ist und wie sehr ich sie liebe. „Hab keine Angst, mein Kind, noch bin ich hier. Lass uns noch ein Weilchen hier zusammen träumen.“ Mit Tränen in den Augen sieht sie mich an. Ihre Liebe und ihre Trauer machen mir wird das Herz schwer – doch es wird Zeit für mich, zu gehen.
3
Als Hülja erwacht, fallen die ersten dicken Regentropfen durch die gewundenen Zweige der Weide, an deren Stamm sie lehnt. Hat sie geschlafen und geträumt? Doch dann erinnert sie sich an die letzten Worte ihrer Großmutter. „Ich bin immer bei dir, liebe Hülja. Sprich mit mir, wann immer du mich brauchst. Lebe dein Leben, sprich die Wahrheit und folge deinem Herzen.“
*
Im liebevollen Gedenken an meine Großmutter an und @*****har.