Des Pudels Kern
Prolog
Kennen Sie dieses Experimenten aus der Schulzeit? Der Schaumkuss und das Vakuum? Was passiert, wenn man einen Schaumkuss dem Vakuum aussetzt? Richtig. Er platzt auf, weil die reichhaltige Füllung nicht mehr von der dünnen Schokolade gehalten werden kann und versucht, den leeren Raum zu füllen. Er explodiert.
Die Insel
„Robur, kannst Du bitte in die Höhlen gehen und einen Krug geharzten Wein holen?“
Der junge Mann leistete keine Widerspruch und begab sich gleichmütig zu den Eingängen der Höhlen, auch wenn er wusste, dass der Weg durch die kalten, endlosen Tunnels bis zum Weinkeller, ihn frösteln lassen würden.
Wieso hätte er Widerspruch leisten sollen? Was sollte er sonst tun, außer sinnvolle Arbeiten zu erfüllen? In dieser kleinen Gemeinschaft hatte jeder seine Aufgaben und jeder Tag war erfüllt mit diversen Tätigkeiten, die auf die jeweiligen Begabungen und Neigungen der Mitglieder verteilt wurden.
Robur war seit seiner Geburt hier und kannte kein anderes Leben als dieses Inseldasein. Eine Gemeinschaft von rund 30 Personen verschiedenen Alters und Geschlechts. Das Leben war schlicht und gut. Robur erfreute sich jeden Morgen an der aufgehenden Sonne und dem Gesang der Vögel. Er erfreute sich daran, die Dinge wachsen und gedeihen zu sehen. Gab es keine Arbeiten zu tun, machte er lange Spaziergänge am Strand der Insel oder kämpfte sich durch das Dickicht des Landesinneren. Immer wieder entdeckte er neue Pflanzen oder Tiere, die er noch nie gesehen hatte und erfreute sich an Farben und Formen der Natur. Manchmal ging er auf die Jagd, immer in dem Bewusstsein, dass es ein besonderes, nicht alltägliches Geschenk der Natur sein würde, wenn es ihm mit Hilfe seines Scharfblicks gelingen sollte, ein essbares, tierisches Lebewesen zu erlegen. Jede Beute wurde in der Gemeinschaft mit einem Dankfest gefeiert. Mit rudimentären Instrumenten erzeugten sie rhythmische Klänge und tanzten nackt um ein großes Feuer. Das Essen wurde aufgeteilt, so weit die Menge reichte und je nach Bedarf und Wunsch der Mitglieder verteilt. Viele verzichteten auf Fleisch, da der selbstorganisierte Ackerbau, gemeinsam mit den Früchten des Dschungels, genug Nahrungsmittel für eine gesunde Ernährung boten.
Dabei bestand die Gemeinschaft nicht aus dumpfen Primaten. Robur kümmerte sich nicht um die Ideologie, die hinter der Lebensgemeinschaft steckte. Er war kein Skeptiker. Dieses Leben stellte er nicht in Frage. Er war zufrieden, da ihm zum Unzufrieden sein jede Möglichkeit eines Vergleichs fehlte. Er hatte keinen besonderen Ehrgeiz, denn er hatte alles, was er zum Leben brauchte. Ihm war nie langweilig, denn es gab immer etwas zu tun, zu sehen, zu fühlen, zu riechen. Wo kein Ehrgeiz ist, gibt es auch keine Rivalität und keine Eifersucht. Die wenigen Menschen der Insel liebten sich einfach. Einfach. Ohne Fragen, ohne Vorwürfe, ohne Gier.
Die Menschen pflegten ihre Sprache, auch wenn es selten einen Grund gab, zu reden. Wenn man gemeinsam am Strand saß, um den Sonnenuntergang zu betrachten, betrachtete man den Sonnenuntergang. Niemand musste etwas beschreiben und davon erzählen, wie er sich fühlte. Man freute sich einfach über den Sonnenuntergang. Jeder für sich. Tief in seinem Herzen.
Manchmal, in der Dunkelheit, erzählten sie sich Geschichten oder lasen sich, im Schein der Fackeln oder mit Palmöl gefüllten Lampen, aus den wenigen Büchern vor, die sie hatten. Natürlich waren darunter keine Geschichten über Armut und Reichtum in der Welt, die leidenschaftlichen Leiden von Liebe und Hass, über Macht und Krieg oder unsinnige Tipps, wie man noch mehr Geld erwirtschaften kann, um zur vermeintlichen Zufriedenheit zu gelangen, in dem man an seinen persönlichen Eigenschaften zu arbeiten hätte.
Die Menschen auf der Insel lasen sich phantastische Inselgeschichten, märchenhafte Märchen, heidnische Heiterkeiten oder fabelhafte Fabeln vor.
Wenn sie nicht in Büchern schmökerten, gab es immer einen Inselbewohner, der gerade Lust hatte, eine frei erfundene Geschichte zu erzählen. Geschichten von Meer, Tieren, Pflanzen, Luft und Liebe zur Schöpfung. Sie hatten sich eine perfekte Welt erschaffen, in der sie von dem leben konnte, was ihnen die Insel schenkte. Dank einem gemäßigten Klima kamen sie in ihren einfachen Behausungen gut durch die kurzen Wintermonate. Sie liebten die Sonne ebenso wie den Regen, den Wind ebenso wie den Morgentau. Ihre Herzen waren rein, ihre Köpfe frei von verkrampften Gedanken, ihre Seelen funkelten wie Edelsteine.
So trottete Robur still durch die Tunnels der Höhlenanlage und lauschte dem Widerhall seiner eigenen Schritte, barfuß auf den feuchtkalten Felsen. Ein kräftiges Donnern erschreckte ihn, die Erde zitterte. Dumpfe Schläge rollten durch die dunklen Gänge, gelegentlich erhellten Lichtblitze den Tunnel. Was ging da vor? Solche Geräusche hatte er noch nie in seinem Leben gehört, selbst beim stärksten Gewitter nicht, welches selten über der Insel niederging. Robur vergaß den Wein und machte eine Kehrtwendung. Er rannte auf den Ausgang zu. Je näher er ihm kam, nahm er einen durchdringenden Geruch war. Feuer? Verbranntes Fleisch? Rauch? Da war noch etwas, dass er nicht kannte. Er versuchte, dass Atmen zu vermeiden, um nicht würgen zu müssen.
Als er nach draußen schritt, verkrampfte sich ihm der Magen. Gerade lichtete sich der Rauch und gab den Blick frei auf die völlig verwüstete Siedlung. Überall lagen die leblosen Mitglieder seiner Gemeinschaft. Zerfetzt, verbrannt, verstümmelt. Die gespenstische Stille brüllte laut in seinen Ohren. Er hätte sich gerne von diesem Grausen abgedreht, statt dessen ging er, wie paralysiert, im Zeitlupentempo durch die Ruinen seines bisherigen Lebens. Dabei bemerkte er nicht die Figuren, die sich aus dem Unterholz schlichen. Erst als sie ihn in einem geschlossenen Kreis umringt hatten, bemerkte Robur seine Peiniger. Sie sahen alle gleich aus in ihrer einheitlichen grünen Kleidung, behangen mit allerlei ihm unbekannten Werkzeugen, die Gesichter unter seltsamen Masken mit einer Art Rüssel, verborgen.
„Wir haben eine Überlebenden gefunden, sollen wir ihn liquidieren?“
„Nein, nehmt ihn gefangen!“
Kam diese seltsam blechern klingende, zweite Stimme aus diesem schwarzen Kästchen, das einer der grünen Figuren in der Hand hielt?
Robur wurde schwindelig, die Welt um ihn herum versank in der Dunkelheit seines überforderten Geistes.
Die Welt
„Als Arzt und Psychologe kritisiere ich ihren Einsatz auf der Insel der Diamanten, Kommander McClean. Sie hätten nicht alle Inselbewohner ermorden müssen.“
„Was soll das heißen, Dr. Snyder? Es gab einen eindeutigen Befehl: Keine Zeugen!“
Der Doktor schüttelte verzagt den Kopf: „Wie auch immer, was sollen wir jetzt mit diesem jungen Mann tun?“
McClean zuckte die Schultern: „Vielleicht bringen sie ihn zum reden. Zeigen sie ihm, wie die Welt wirklich ist. Wenn er erfährt, auf welchem Reichtum die Menschen auf der Insel saßen, wird er vielleicht gesprächig, um mit uns ein Geschäft zu machen.“
„Diesen legendäre Reichtum an Diamanten meinen sie, der noch nicht einmal bewiesen ist? Dieser Angriff war ein zweifelhafter Staatsakt ...“
„Zügeln sie ihre Zunge, sonst können sie bald nur noch als Tierarzt in verlassenen Gegenden des Imperiums arbeiten!“
„Gut. Gehorsam und treu, ohne Reue und Scheu“, gab Dr. Snyder das Staatsmotto mit wenig Begeisterung wieder, „starten wir das Resozialisierungsprogramm!“ Mit einer Mischung aus Mitleid und Abscheu blickte der Doktor durch die verspiegelte Scheibe, die den Blick auf den jungen Mann, fixiert auf einem robusten Krankenhausbett, freigab.
Robur öffnete die zitternden Augenlider. Alls war weiß, zumindest im ersten Moment. Langsam wurde der Blick klarer. Ein helles Licht erstrahlte über ihm, er befand sich in einem Raum mit weißen Decken und weißen Wänden, wie er sie bisher nicht kannte. Vorsichtig versuchte er sich zu bewegen, doch er spürte bald, dass Hände und Füße festgebunden waren. Wo war er? Warum waren hier keine weiteren Menschen? War er in dieser Welt gelandet, von der die Alten auf seiner Insel hinter vorgehaltenem Mund erzählt hatten? Die Welt, die sie einst verlassen hatten, um ein anderes, vielleicht besseres Leben zu führen? Er hatte diesen Erzählung keine Beachtung geschenkt, denn er kannte nur die Insel. Die Insel war seine Welt, die ihm völlig genügte und viel lebendiger war als dieser kalte, trostlose Raum.
Plötzlich erklangen Stimmen. Robur drehte seinen Kopf zur Wand vor ihm, an der ein Monitor hing.
„Was ist das für ein böser Zauber?“, erschrak sich Robur. „Wie können sich in dieser seltsam eckigen und flachen Scheibe Menschen bewegen? Was machen die da?“
Die Bilder ruckten und zuckten. Die Menschen sprachen ständig durcheinander und viel zu laut. Hätte Robur diesen Begriff gekannt, hätte er den Vorgang Gehirnwäsche genannt. Nach wenigen Minuten bekam er unerträgliche Kopfschmerzen und glaubte, der Schädel würde ihm platzen. Hin und wieder nannten die Gesichter die dargebotenen Aktivitäten Unterhaltungsprogramm, manchmal redeten Menschen in unverständlichen Worthülsen von Politik. Robur verstand die Sprache, aber er verstand nicht die Probleme, Wünsche und Sehnsüchte der Menschen. Wozu brauchte eine Frau ein Brautkleid und warum musste sie dafür ganz viel von diesem Geld zahlen? Warum redeten irre aussehende Männer davon, dass Menschen irgendwo Hunde und Katzen essen? Jedes Kind auf der Insel wusste, das man Hunde und Katzen nicht essen kann. Kleine Notiz am Rande: Es gab früher wohl einige Hunde und Katzen auf der Insel, aber sie waren dem Leben auf der Insel nicht gewachsen und starben aus. Was kein Drama war, denn sie hatten sich als wenig nützlich erwiesen. Warum also machte man hier so ein Drama um ein paar Hunde und Katzen, während man in anderen Bildern Kindern beim Verhungern zusehen musste?
Dann kamen wieder Bilder von Menschen, die Dinge erschufen, deren Sinn sich für Robur nicht erschloss. Nur: Warum erzählte ständig jemand, wie toll diese Dinge sind und das man sie eben doch braucht? Wofür? Es gab zahlreiche Berichte über Menschen, die unzufrieden waren, weil sie alle diese Dinge nicht bekommen konnten, die niemand braucht. Es gab aber auch viele Menschen, die alle diese Dinge hatten, die niemand braucht – sie nannten sich deshalb reich und glücklich, ihre Gesichter sahen aber aus wie die Fratzen von Menschen, denen der Skorpion seinen Giftstachel in den Fuß gerammt hatte.
Die Menschen bauten scheinbar riesige Gebäude, in denen sie wohnten, nur um sie wieder mit gefährlich explosiven Waffen in Schutt und Asche zu legen. Die Körper der Menschen waren seltsam entstellt. Niemand sah wirklich gesund aus. Entweder hungerten sie oder wurden rund wie ein Nilpferd. Manche weibliche Wesen hatten gefährlich aussehende Wucherungen im Brustbereich oder Lippen, die aussahen wie der Mund seiner Inselfreundin, nachdem sie von einer Wespe gestochen wurde. Die Kleidung der Menschen hier war schrill, farbig und unzweckmäßig. Warum trugen sie überhaupt Kleidung? Die waren doch alle verrückt.
Manche machten Sport, um sich zu messen. Robur fragte sich, wozu Sport gut sein sollte, wenn es nur wenige taten und ganz viele Menschen zusahen. Wenn sich jemand auf der Insel tanzend bewegte, machte man einfach mit. Es schenkte ihnen ein wunderbares Gefühl der Gemeinschaft, aber in dieser Welt wirkte Sport wie ein Kampf.
Der Schmerz in Roburs Kopf wurde immer größer. Das alles, was ihm gezeigt wurde, war laut, schrill und böse, aber ohne jeglichen Inhalt. Gerne hätte er dieses Gerät zur Ruhe gebracht, doch er wurde stundenlang, bei Tag und bei Nacht, damit belästigt, gequält und sein Verstand damit beleidigt. Gelegentlich brachte ihm jemand Nahrung und Wasser. Die Nahrung hatte aber keine Informationen. Es erinnerte ihn stets an einen trockenen Baumpilz, in den er als neugieriges Kind auf der Insel einmal gebissen hatte. Dies war keine Nahrung. Es war eine Illusion von Essen. Sie würden ihn hier verhungern lassen. Das Wasser schmeckte seltsam. Es musste aus einer fauligen Quelle stammen. Diese Welt war so viel und doch war sie nichts. Die Leere schmerzte.
Zwischendurch wurden ihm immer wieder Fragen gestellt:
„Wo sind die Diamanten?“
„Wollen Sie nicht reich werden?“
„Machen Sie das Geschäft Ihres Lebens!“
Wollen Sie uns die Diamanten liefern? Dann lassen wir Sie gehen!“
Dr. Snyder beobachtete Robur durch die Scheibe, doch plötzlich stieg ihm der Puls zu ungesunden Stakkato-Schlägen an.
„Was zum Teufel …?“, murmelte er.
Der Körper der Testperson, nach wie vor am Bett fixiert, blähte sich auf wie eine ins Meer geworfene Rettungsinsel. Sein Kopf wurde rot, die Augäpfel quollen wie Tischtennisbälle aus den Augenhöhlen. Durch die Scheibe drang eine kurze Erschütterung und ein dumpfes Geräusch, eine Sekunde später war sie befleckt mit Fleischbrocken und Blut. Ein Augapfel rutsche langsam die Scheibe abwärts und zog mit seinen ausgerissenen Nervenbahnen eine schleimige Spur über das Glas. Dr. Snyder wandte sich angewidert ab. Der junge Mann im Bett hinter der Scheibe war geplatzt. Einfach explodiert. Unfassbar!
Nachdem Dr. Snyder Kommander McClean und seine Schergen verständigt hatte, wagte er wieder eine Blick durch die Scheibe in den Raum. Er hatte nicht geträumt. Die Wände waren blutig, das Bett wie leergefegt. Darauf lag etwas, dass er zuerst nicht erkennen konnte. Er musste näher an die Scheibe rücken und seine Brille zurechtrücken.
„Unglaublich ...“, stammelte er.
Auf dem Bett lag ein rot funkelnder Diamant in nie gesehener Größe und in Form eines menschlichen Herzens.
Epilog
Natürlich rückte Kommander McClean mit seiner Truppe erneut auf die Insel aus, um die Leichen der geschändeten Inselbewohner nach den Diamanten zu durchsuchen. Doch sie fanden nichts. Sie kamen nie dahinter, wer die Leichen begraben und die Diamanten gut versteckt hatte. Die Geschichte der Insel und seiner Bewohner wurde, trotz aller Bemühung um Geheimhaltung, zum Mythos. Die Menschen lehnten sich gegen das Regime der Verblödung auf, stürzten die Machthaber und versuchten, eine bessere Welt zu erschaffen. Hoffentlich haben sie damit Erfolg.
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