Ein Augsburger lacht nicht ... mehr.
Earmark war müde. Einfach nur abgrundtief müde und erschöpft. Warum hatte ihm das niemand vorher gesagt? Geh zur Polizei, hatte es geheißen. Da hast du einen abwechslungsreichen Job und stehst immer auf der Seite der Guten.
Anfangs war tatsächlich alles wunderbar und aufregend gewesen. Nach der Polizeischule absolvierte er einen relativ raschen Aufstieg bis zum verdeckten Ermittler. Kein hektisches Verfolgen von Verdächtigen mehr, keine Schießereien. Stattdessen gemütliches Einschleusen in die Szene und dann konnte er ein paar Jahre lang mit all den Fertigen der Umgegend umeinanderfrohlocken, kiffen bis der Arzt kommt und ganz nebenbei ein paar von den Jungs ans Messer liefern. Natürlich kamen sie niemals an die Drahtzieher heran, klare Sache. Die waren nicht blöd und hielten sich fein bedeckt im Hintergrund. Die kleinen Fische, die er abfangen und an die Kollegen übergeben konnte, wurden bald durch neue Trottel ersetzt, welche sich wild rudernd im Milieu über Wasser zu halten versuchten, weil sie mangels vernünftiger Ausbildung gleich einmal garkeine Alternative zum Kleinkriminellentum sahen.
Natürlich kam es wie es kommen mußte. Mit der Zeit fiel den Leuten auf, daß er selbst niemals verknackt wurde, auch wenn er bei einer Razzia mit hochgegangen war, und somit war er verbrannt. Wie hatte dieser langhaarige Kerl, der ihnen nach langer Observation endlich ins Netz gegangen war, zu ihm gesagt, nachdem er ihm die Handschellen angelegt hatte? ''Earmark, du hasch knallrote Augen, du bisch tausendmal praller als wie I und du willsch MI verhaftn? Schämsch di ned?''
Er hatte sich nicht geschämt. Wofür auch. Das war seine Arbeit und dafür wurde er bezahlt.
Darüber, daß regelmäßig ein paar Gramm des beschlagnahmten Dopes verschwanden, hatte sich auch noch keiner der Verurteilten beschwert. Wäre schön blöd gewesen, bei der Verhandlung zu sagen: ''Moment Euer Ehren, bei mir wurden keine 15 sondern mindestens 25 Gramm gefunden!''
Die Versetzung in den Innendienst war ein herber Schlag gewesen. Aus war es mit dem lockeren Dienst, dem Herumhängen an den bekannten Szeneplätzen, den bequemen Beobachtungsposten bei Junkie-Beerdigungen, den langen Haaren und den legeren Klamotten. Die Arbeit am Schreibtisch war großteils langweilige Routine und unbefriedigend. Auch hatte er es sich mit den Kollegen bald verscherzt. Sein ruppiger Ton, den er sich im Umgang mit den kaputten Drogentypen angewöhnt hatte, kam im Büro nicht gut an. So hatte ihn bald der Burn-out erwischt und man hatte ihn beurlaubt. Zur Weinlese.
Arbeit an der frischen Luft, hatte es geheißen, das würde ihm guttun. Schließlich sei er ja an Freiheit gewohnt, und wo gäbe es mehr Freiheit als unter Gottes weitem Himmel?
Nun sollte er von früh bis spät Trauben pflücken. Hier am Rhein, wo die Leute diesen seltsamen Dialekt sprachen und die ganze Zeit lachten.
Er war Augsburger. Ein Augsburger lacht nicht. Jedenfalls nicht ohne Grund. Und einen solchen hatte er nicht. Das Kreuz tat ihm weh und er war nach Feierabend regelmäßig so kaputt, daß er sich jeden Abend aufs Neue vornahm, am nächsten Morgen alles hinzuschmeißen und eine Kur zu beantragen. Nur die Sorge um den etwaigen Verlust seines Beamtenstatus ließ ihn dann doch jeden Morgen wieder aufstehen und zur Arbeit wanken.
Er dachte an seinen Kollegen Armin. Der hatte es mittlerweile bis zum Leiter der Drogenfahndung gebracht, allerdings ziemlich weit südlich von Augsburg. Im Allgäu um genau zu sein. Somit hatten sie sich leider aus den Augen verloren. Armin beherrschte die Kunst des Abzweigens perfekt. Der hatte immer was zum Schnupfen im Schränkle. Wäre Armin mit seinem Marschierpulver jetzt vor Ort, die Arbeit wäre im Nu erledigt. Doch der ehemalige Kollege war fern und die Tage vergingen mühsam.
Auch zum Rauchen gab es hier nichts. Hier wurde getrunken. Was er nicht gewohnt war.
Man aß abends Sauerkraut mit weißen Bohnen und trank literweise neuen Wein dazu. Die anderen wurden lustig, er bekam Bauchschmerzen. Earmark war innerhalb weniger Tage völlig am Sand und sehnte das Ende seines 'Urlaubs' herbei.
Daran änderte auch die Aussicht auf das herannahende Herbstfest zum nächsten Vollmond wenig. Alle waren eingeladen. Alt und Jung, Arm und Reich, jeder durfte tanzen, trinken und sich des Lebens freuen. Der nächste Tag war arbeitsfrei, die Leute sollten sich ungehemmt amüsieren dürfen. Ermark hatte fest vor, sich an diesem Abend in seinem Bett zu verkriechen und endlich einmal so richtig lange auszuschlafen. Doch daraus sollte nichts werden.
Bereits am Nachmittag fing die Zwinkerei von Luise wieder an. Luise war eine unglaublich nervige, etwas plumpe, nicht unattraktive aber eindeutig viel zu aufdringliche Person. Ermark machte sich wenig aus Frauen. Ab und zu nahm er sich was ein Mann halt so braucht, er hatte Beziehungen zu Kollegen der Sitte, aber den Streß mit fester Freundin und so ... wirklich nicht. Er war schließlich Polizist, da hat man schon Ärger genug. Luise schien seine abweisende Art eher anzustacheln statt abzuschrecken, und sie schaffte es tatsächlich, ihm das Versprechen auf wenigstens einen Tanz abzuringen. Eigentlich hatte er nur zugesagt, damit sie endlich mit der Nerverei aufhörte, aber nach Feierabend, der heute etwas früher als sonst begann, damit die Leute sich noch ein bissl hübschmachen konnten, hing sie wie eine Klette an ihm. So mußte er sie notgedrungen zum Festplatz begleiten, wollte er Streit in der Öffentlichkeit vermeiden.
Vor Ort stellte Earmark erstaunt fest, daß es ihm nicht einmal so übel gefiel. Die Musikanten spielten schwungvolle Melodien, die direkt in die Beine fuhren, die Leute schienen alle gut gelaunt, lachten und waren fröhlich. Wer wollte sich da nicht wohlfühlen? Luise hatte sich bereits mit einem Becher neuen Weins ihm gegenüber niedergelassen und hatte auch ihm einen mitgebracht. So war er nicht abgeneigt, als sie ihn in einer Tanzpause etwas abseits zu einem kleinen Bächlein hinabführte. Sie wollte doch nicht etwa mit ihm Schwimmen gehen? Dafür war es jetzt im Herbst doch schon ein wenig zu frisch.
Doch Luise hatte offenbar anderes im Sinn. Munter plaudernd hakte sie ihn unter und führte ihn, flirtend und tändelnd, immer weiter und weiter von den feiernden Dorfbewohnern fort. Zuerst fiel es Earmark nicht weiter auf, so sehr war er vom prall gefüllten Ausschnitt Luisens abgelenkt, doch als ihr unermüdliches Geplapper plötzlich abriß, fühlte sich die Stille auf einmal unheimlich an. Wo zum Teufel hatte sie ihn hingeführt und was hatte sie vor?
''Sag mal, du bist doch Bulle, oder?'', fragte sie auf doof, denn natürlich wußte sie das ganz genau. Jeder wußte Bescheid, denn so wie er sich beim Pflücken der Beeren immer anstellte, konnte eine Erklärung nicht lange ausbleiben.
''Könnte ich dich nicht spaßeshalber ein bissl an den Baum da fesseln mit deinen Handschellen? Da macht das Schmusen doch gleich noch viiiiiiiiiiiel mehr Spaß!''
Die hatte Nerven. Ermark erklärte ihr, daß er hier auf Arbeitsurlaub sei und selbstverständlich weder seine Handschellen noch seine Puffn dabeihatte.
Luise zog einen Schmollmund. Offenbar hatte sie sich schon darauf gefreut, ihn wehr- und hilflos ihren Attacken ausgeliefert zu sehen.
Aus dem Dickicht brach ein Spaziergänger hervor, hinter sich zog er einen schwanzwedelnden Hund, der offenbar an jedem Strauch etwas Interessantes zu schnüffeln hatte, wie Hunde nun einmal sind. Genervt machte der Mann die Leine los und reichte sie Luise. ''Da halt mal, der Bello geht mir heute wieder dermaßen auf den Senkel, ich geh jetzt alleine weiter, soll er halt schauen wo er bleibt. Der kommt schon heim wenn er Hunger hat.''
Sprach's und marschierte mit weitausgreifenden Schritten davon.
Mit einer einzigen schwungvollen Bewegung wurde Earmark, während er noch verblüfft dem Mann hinterhersah, hart an den Baum hinter ihm gedrückt und bevor er es sich versah, hatte Luise seine Arme mit der Hundeleine an zwei niedrigen Ästen festgebunden. Wollte sie ihn jetzt in dieser Position nageln? Zwar war der Ort, den sie sich für ihr Vorhaben ausgesucht hatte, relativ abgelegen und recht einsam, aber wie man soeben gesehen hatte, offensichtlich auch bei anderen Erholungssuchenden beliebt. Wie sollte er jetzt aus dieser, haha, Nummer wieder herauskommen ohne Aufsehen zu erregen? A propos Erregen ... wie peinlich war das denn? Zwischen seinen Beinen war eine deutliche Beule gewachsen die Luise nun spöttisch betrachtete.
''Na, du toller Held'', höhnte sie, auf einmal keineswegs mehr kokett oder gar liebevoll.
''Du wirst dich natürlich nicht mehr an mich erinnern, aber wir kennen uns. Auch ich habe einmal in Augsburg gewohnt. Und heute ist der Jahrestag von Alfreds Tod. Ihr habt ihn damals völlig grundlos abgeknallt wie einen räudigen Wolf, nur weil er nicht sofort auf Zuruf stehenblieb. Das war zwar mit ein Grund für deine Versetzung in den Innendienst aber du wurdest niemals dafür belangt. Alfred hätte niemals auch nur einer Fliege etwas zuleide getan. Er war der großzügigste Mensch den ich jemals gekannt habe. Er hätte sein letztes Hemd gegeben wenn man ihn darum gefragt hätte. Er war einfach nur ein einsamer alter Mann und du, du Arschlochbulle, hast ihm eine Kugel ins Kreuz gejagt, pralle wie du wieder warst. Man zielt auf die Beine du blöder Wichser, aber das war dir ja egal, für dich sind wir alle nur Abschaum. Heute ist Jahrestag, und der Tag der Abrechnung. Heute wirst du büßen, Earmark. Futter für die wilden Tiere wirst du sein, wie in den Bergdörfern Indiens, wo man die Toten portionsweise in hohen Türmen den Geiern zum Fraß anbietet. Türme werden wir wegen dir keine errichten, aber die wunderbaren hohen Bäume hier, die tuns auch. Wirklich schade, daß niemand jemals die Geschichte hören wird vom Augsburger Polizisten, der hier rituell hingerichtet wurde. Stellvertretend für alle Polizisten, die scheinheilig selber konsumieren und andere dafür verpfeifen.''
Auf einmal tauchte auch der Mann mit dem Hund wieder auf und grinste Earmark hämisch an. ''Schrei ruhig, es wird dich keiner hören. Es sind alle auf dem Fest.''
Schon krachte das Knie des Mannes in Ermarks Gemächt. Der Schmerz raubte ihm die Besinnung, so daß er den tödlichen Stich nicht mehr fühlen mußte.
Dr. Landes wußte genau, wie er zustechen und wie er hinterher die Leiche zerteilen mußte. Gelernt ist gelernt. Nach getaner Arbeit nahm er fröhlich pfeifend seine Leine wieder an sich, hakte Luise unter und gemeinsam kehrten sie zurück zum Wein, als sei nie etwas gewesen. Bello vergrub im Hintergrund zufrieden einen riesigen Oberschenkelknochen, den ihm sein Herrchen großzügig spendiert hatte.
Noch heute kann es vorkommen, daß man in den tiefen Wäldern des Rheinlandes hier und da einen etwas seltsamen Geruch bemerkt. Manchmal hört man auch abends in den Weinstuben schaurige Geschichten über eine seltsam zusammengeflickte Gestalt, die ruhelos durch das Unterholz wandert und die Spaziergänger erschreckt. Doch es weiß ja jedermann, wie der gute rheinische Wein die Phantasie befeuert.
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