Stark sein... (Erfahrungen)
Es ist Montag, der 24. November 2008, nachts um 23.30 Uhr klingelt mein Telefon. Ich ärgere mich: Wer, in Gottes Namen, ruft denn so spät noch an? Andzela, die Lebensgefährtin meines Onkels, ist am Telefon: “Anita… August tot, August tot…” Sie schluchzt und weint - ist kaum zu verstehen, ich begreife nicht, muß es mir noch mal sagen lassen.Nein - ein Irrtum, mein Onkel, der seit jeher nur “August” genannt wird, ist 42 Jahre alt, nein - der ist nicht tot…
“August tot, August tot” hallt es noch immer in meinen Ohren, aber in meinem Kopf kommt es nicht an! Ich bin ruhig und versichere mein sofortiges Kommen. “Bleib da wo du bist, Andzela, ich bin sofort bei dir! Ich fahre sofort los!” Noch immer bin ich ruhig und ziehe mechanisch meine Kleidung an. Erst jetzt merke ich, dass mir nicht einfallen will, was ich eigentlich anziehen soll. Ich zittere am ganzen Körper.
Gott sei Dank, Papa kommt morgen nach Hause! , denke ich und plötzlich wird mir bewusst, dass ich nicht bis morgen warten kann, sie sind Brüder. Die Gedanken überschlagen sich in meinem Kopf und mir steht das wohl schwerste Telefonat meines Lebens bevor.
Was soll ich ihm sagen? Wie soll ich es ihm sagen? Ich weiß es nicht und greife zum Telefon und wähle die Nummer in die eineinhalb Stunden entfernte Stadt in der meine Stiefmutter lebt. Es klingelt nicht lang und Papa meldet sich.
“Papa, August ist gestorben - bitte, du mußt kommen” stammele ich.
“Bleib ruhig!”, sagt er “Ich packe alles zusammen und fahre sofort los!” versichert Papa.
Noch immer hallen Andzelas Worte in meinem Kopf. Ich fahre los, werde 30 Minuten zu ihr brauchen. Es ist bitterkalt und glatt - Ich werde länger brauchen, halte durch Andzela!
Ich sitze im Auto und will das Radio einschalten. Meine Gedanken sind klar genug, dass ich mir sage: Das Lied, was du jetzt hören wirst, wird dich ein Leben lang an diese Fahrt erinnern. Ich drücke den Knopf und die Musik ertönt.
Gedanken kreisen in meinem Kopf, alles dreht sich…ich muss klar bleiben und konzentriere mich auf die Strasse und fahre…
Was soll ich tun, wenn ich ihn sehe? Werde ich diesen Anblick je vergessen? Wie sieht ein Toter aus?
Ich biege in die Strasse ein, in der mein Onkel wohnt. Oh mein Gott, ein Polizeiwagen!
Als ich aussteige fällt mein Blick auf die Uhr im Armaturenbrett, sie zeigt 0.20 Uhr.
Zwei, drei Schritte über die Strasse und schon hechte ich die Treppe nach oben, ein Polizist fängt mich auf halbem Wege ab und fragt wer ich bin.
“Mein Name ist Anita W. Dort oben ist mein Onkel!” und er läßt mich gewähren. Andzela kauert auf der Treppe und ist tränenüberströmt. Die Tür zur Küche ist weit geöffnet, ich habe klare Sicht hinein. Mein Onkel liegt auf dem Rücken und ist notdürftig mit einem Tuch bedeckt, dass ihm nur bis zu den Knien reicht. Hände und Füße sind zu sehen. Seine Hände…seine großen starken Hände liegen halb zur Faust geballt mit dem Handrücken nach oben, die Beine etwas gespreizt. Dieses Bild brennt sich in meine Erinnerung.
Ich beuge mich über Andzela und drücke sie tröstend an mich, ganz fest. Sie schluchzt und wiederholt immer wieder: “Das ist doch nicht August, das ist doch nicht mein August der dort liegt.”
Doch, Andzela, er ist es, der dort liegt: möchte ich ihr sagen, aber zu groß ist ihre Trauer, um ihr so etwas schreckliches zu sagen. Meine Gedanken beginnen zu taumeln. Ich muss jetzt stark sein! Stark sein für Andzela! Sie hat niemanden sonst in Deutschland. Sie kommt aus Polen und der Ort aus dem sie stammt, liegt nur 10 Autominuten von hier entfernt.
Ich frage die Polizei, was passiert ist und mir wird gesagt, dass der Notarzt einen Zungenbiss festgestellte, den ein epileptischer Anfall verursacht hat. Es seien typische Anzeichen, genaueres würde in der Gerichtsmedizin festgestellt werden. Er ist an seinem Erbrochenem erstickt.
Ich gebe mich damit zufrieden. Die Beamten sind sehr nett und einfühlsam, auch die eben eingetroffene Kriminalpolizei.
Ich bringe Andzela in die unten liegende Wohnung, ein Freund meines Onkels bewohnt sie. Er sitzt völlig aphatisch auf seinem Sofa. Andzela weint, ich kann es nicht.
Eine Kriminalbeamtin klopf an und betritt die Wohnung. Personalien und Hergang werden aufgenommen. Andzela kam um 23.00 von der Arbeit nach Hause und fand meinen Onkel in der Küche liegend vor. Die Beamtin teilt uns mit, dass der Leichnam beschlagnahmt ist und er nun abgeholt wird, von einem Bereitschaftsbestatter. Ich springe auf und verlasse das Zimmer. Auf dem unteren Treppenabsatz vor der Wohnung meines Onkels sehe ich die Bestatter. Ich bettele und flehe um noch etwas Aufschub, bis mein Vater eingetroffen ist. Sie waren doch Brüder!
Sie kommen meiner Bitte nach und legen ihn wieder zu Boden.
Oh Gott, sie haben ihm seine Schuhe und seine Socken ausgezogen und draußen ist es doch so bitterlich kalt schießt es mir durch den Kopf.
Die Uhr zeigt halb zwei. Ich rufe meinen Papa an und teile ihm mit, dass die Bestatter auf ihn warten werden. Ihm wird in diesem Augenblick bewusst, dass es sich nicht mehr um einen Irrtum handelt. Er wird bald da sein, versichert er.
Zwei Uhr! Papa ist eingetroffen, ich renne nach draußen, Andzela folgt mir. Er ist ganz ruhig. Wir gehen nach oben. Die Bestatter werden meinen Onkel nun mitnehmen. Andzela steht vor der Küchentür und will bei ihm bleiben bis zum Auto. Es wird ihr nicht erlaubt. Sie solle sich das nicht antun. Ich stehe auf dem unteren Treppenabsatz, schluchtze und weine und bettele sie an, mit mir zu kommen. Ich selbst kann nicht weiter nach oben gehen. Mein Onkel ist nicht mehr bedeckt und ich könnte den Anblick nicht ertragen. Ich will ihn so in Erinnerung behalten wie ich ihn zuletzt gesehen habe. Sie wird hysterisch und weint laut. Nur mit Mühe kann ich sie beruhigen und sie kommt mit mir.
Dienstagmorgen um 7.30 Uhr. Ich wache auf, nachdem ich vor eineinhalb Stunden erst nach Hause gekommen war. Andzela, ich muss zu Andzela! Ich hatte sie um 4.00 Uhr zu Bett gebracht und war noch bei ihr geblieben bis sie eingeschlafen war. Ich selbst habe noch immer meine Kleidung an und einen Schal um den Hals gebunden. Mir war so schrecklich kalt gewesen als ich mich schlafen legte und obwohl es wohlig warm in meinem Schlafzimmer ist, friere ich noch immer.
Alles in mir läuft mechanisch ab, das Jackeanziehen, die Fahrt zu Andzela. Ich rufe den Bestatter an und bitte um 5 Minuten, die wir August sehen können, bevor er in die Gerichtsmedizin überstellt wird. Es wird mir nicht gewährt, da niemand da ist, der uns begleiten könnte. Ich werde Mittag noch einmal anrufen.
Wir müssen nun zur Polizei, unsere Aussagen noch einmal zu Protokoll geben. Alles wird bevorzugt bearbeitet, deshalb die Eile.
Danach gehen wir einen Kaffee trinken und etwas essen. Andzela weigert sich.
“August isst auch nichts mehr, brauche ich auch nicht essen!” Ich bitte sie noch einmal. Nein - kein Erfolg und so lasse ich es ein. Mühsam quäle ich mir einen Kaffee und ein Brötchen in den Magen. Ich rufe den Bestatter noch einmal an, die gleiche Antwort wie am Morgen erwartet mich. Ich werde es am Abend noch einmal versuchen.
Ich fühle mich leer, ausgebrannt und alles in meinem Inneren schreit nach etwas Ruhe.
Am frühen Abend kommt ein Seelsorger, den uns die Polizei zur Verfügung gestellt hat.
Erneut telefoniere ich mit dem Bestatter. Mir wird gesagt, entweder ich gebe die Bestattung bei ihm in Auftrag oder ich darf meinen Onkel nicht sehen und seine Lebensgefährtin hat da nichts zu sagen. Ich beginne zu kämpfen und sage, dass ich mich nicht erpressen lasse.
Ich rufe den Staatsanwalt an und will um Erlaubnis bitten, meinen Onkel zu sehen. Zu spät, er hat schon Feierabend.
Ich beginne die Unterlagen meines Onkels zu sortieren und als ich fertig bin, wird mir bewußt, wie wenig doch von jemanden übrig bleibt. Fünf kleine Papierhäufchen liegen auf dem Küchentisch. Fünf kleine Häufchen, die aussagen, wer man war und wie man gelebt hatte. Versicherungen, Rechnungen, Lohnzettel und so weiter.
Welcher Tag ist heute? Mittwoch? Ist es schon Mittwoch? Ja, heute gehe ich mit Andzela zum Bestatter, die Beerdigung muss geplant werden. Ich funktioniere nur noch. Ich muss stark sein für Andzela und so kämpfe ich weiter. Ich telefoniere mit dem Staatsanwalt und er sagt mir, dass ein Onkel freigegeben ist und wir jederzeit das Recht hätten ihn zu sehen. Die Ermittlungen hätten ergeben, dass kein Verbrechen vorliegt und somit seien die Ermittlungen abeschlossen. Ich bedanke mich für diese Auskunft.
Einen neuen Bestatter ist schnell gefunden. Wir sprechen persönlich vor und mir wird gesagt, ich dürfe die Bestattung nur mit Erlaubnis seiner einzigen Tochter ausrichten.
Mich erschlägt es bald, aber ich muss stark sein!
Ich rufe seine Tochter an, von dessen Mutter mein Onkel sich vor mehr als 20 Jahren getrennt hat, und bitte um ihre Unterschrift. Sie sagt sie mir zu.
Später klingelt dass Telefon und ihre Mutter ist dran und meckert mich an, weshalb ich sie nicht um Hilfe bitte. Ich entgegne ihr, dass ich keine bräuchte, nur die Unterschrift. Sie weigert sich, mit der Begründung, wer die Beerdigung beantragt, müsse sie auch bezahlen und ihre Tochter würde nur Bafög bekommen. Aha! Daher weht der Wind! Etwas anderes habe ich nicht erwartet. Der Kontakt zwischen Vater und Tochter hat praktisch nur auf dem Papier bestanden. Nur zu Weihnachten und zum Geburtstag wusste die Tochter wo mein Onkel wohnte, wenn es was zu holen gab oder sie Geld gebraucht hatte.
Ich versichere ihr, dass ich die Beerdigng selbst bezahlen werde und bitte sie, mich am Abend zu besuchen um die Formalitäten zu erledigen.
Das Bestattungsunternehmen nimmt meinen Auftrag trotzdem entgegen und bereitet alles vor. Die Frau von dort ist sehr nett und verständnisvoll. Sie wird alles weitere regeln, sobald ich die Vollmacht habe. Die Beerdigung wird auf Freitag festgesetzt. Noch zwei Tage!
Es ist Abend und die Tochter kommt mit ihrer Mutter. Als erstes werden die Schlüssel vom Haus und die Geldkarte meines Onkels verlangt. Ich starre sie fassungslos an. Gleich spucke ich dich an und dann schmeisse ich dich hinaus, du dämliche Krücke Während die Mutter sich darüber auslässt, was für ein schlechter Vater mein Onkel gewesen sei, schweift mein Blick durch das Zimmer. Er bleibt an einem Feuerhaken hängen. Ich möchte ihn nehmen und ihn ihr auf den Kopf schlagen und sie hinausjagen und ihr dabei nachschreien, dass sie es doch war, die all die Jahre den Kontakt zwischen Vater und Tochter verhindert hat…
Nein, nicht aufregen jetzt, ich brauche diese Unterschrift. Andzela beginnt zu weinen. Ich habe Mühe, meine Haltung zu bewahren und meine Fassung nicht zu verlieren. Ich setze ein Lächerln auf und sage ihr, dass dies das Nachlassgericht entscheiden wird und das mich ihre schmutzigen Familiendetails nicht zu interessieren haben. Ich bekomme die Unterschrift, aber nur, als ich ihr mit meiner Unterschrift versichere, dass der Tochter keine Beerdigungskosten entstehen.
Du dummes Kind! Nichts bezahlen wollen, aber schon mal erben! Bereitwillig gebe ich ihr meine Unterschrift. Die Mutter will wissen, weshalb ausgerechnet ich die Beerdigung bezahlen will? Ganz einfach, ich will, dass August mit Würde unter die Erde kommt, und nicht wie bei euch, aus Kostengründen verbrannt und auf der anonymen Wiese verscharrt wird! “Weil er mein Onkel war.” antworte ich ihr! Sie schüttelt den Kopf und verläßt die Wohnung.
Donnerstag. Heute wäre mein Onkel 43 Jahre alt geworden. Ich habe mit dem Bestatter ausgemacht, dass er zu Hause aufgebart wird, damit Freunde und Verwandte noch einmal Abschied nehmen können. Die Zusage auf meinen Wunsch kam sofort.
Ich bin so unendlich müde…und schwach vom kämpfen…der Ärger mit dem anderen Bestatter, die Polizei, die Formalitäten, die Behörden und dann noch die Tochter mit ihrer Mutter…das ist zuviel, aber ich muss stark sein, stark sein für Andzela! Sie braucht mich. Die Minuten vergehen quälend langsam, die Erledigungen einer halben Stunde, könnten einen ganzen Tag ausfüllen, so habe ich das Gefühl.
Der Montag liegt so unendlich weit zurück. denke ich.
Am frühen Abend bringt uns der Bestatter meinen Onkel zur Aufbarung. Andzelas Eltern sind auch da. Ich habe das Zimmer mit Kerzen und einem großen Foto ausgestattet. Der Bestatter wird ihn am nächsten Morgen um halb acht in der Früh wieder abholen. Uns bleiben 15 Stunden zum Abschied nehmen. Im Flur breche ich zusammen und weine. Ich kann nicht in den Sarg sehen, wenn er ins Zimmer getragen wird.Ich habe Angst vor seinem Anblick. Ich kann es einfach nicht. Aber ich gehe in das Zimmer, ich tue es für Andzela. Mein Onkel sieht aus, als würde er nur schlafen. Ich bin beruhigt.
Es ist Freitag um 6 Uhr morgens. Ich war eingeschlafen. Ich sehe zu Andzela hinüber, sie schläft noch. Die ganze Nacht hatte sie über dem offenen Sarg verbracht, ihren Kopf auf den gefalteten Händen meines Onkels ruhend. Viele Freunde und Verwandte hatten am Abend zuvor Abschied genommen. Ich wecke sie und sage ihr, dass ihr noch eineinhalb Stunden bleiben würden und sie sich noch etwas Zeit nehmen sollte. Es wäre unverzeihlich gewesen sie schlafen zu lassen und plötzlich steht der Bestatter vor der Tür.
Ich konnte meinen Onkel bis jetzt nicht ein einziges mal berühren. Ich habe Angst. Eine Berührung würde eine Entgültigkeit in mir auslösen. Noch immer ist sein Tod nicht in meinem Kopf angekommen. Ich kann diese Wahrheit nicht zulassen, ich will es auch nicht. Ich habe das Gefühl, diese Dinge in meinem Bewußtsein auszufiltern um nicht akzeptieren zu müssen.
Ich möchte ihn schütteln und zu ihm sagen, dass er aufwachen soll. Aber im Grunde genommen, weiß ich doch, dass dies unmöglich ist.
Der Bestatter ist da. Ich sage zu Andzela, dass sie jetzt stark sein muss. Ich stütze sie und gebe ihr Halt, als mein Onkel in den Leichenwagen gebracht wird. Sie weint bitterlich. Ich kann es nicht. Ich muss stark sein für Andzela! Sie braucht mich.
Um 15 Uhr wird die Beisetzung sein. In der Nacht der Totenwache habe ich seine Trauerrede verfasst. Andzelas Wunsch ist es gewesen ihn nach katholischem Glauben beisetzen zu lassen. Sie wollte, dass er gereinigt und von allen Sünden befreit in den Himmel kommt. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass alles nach ihrem Wunsch geschiet, schon allein deshalb gab ich bereitwillig meine Unterschrift um die Erlaubnis zu bekommen, die Beerdigung auszurichten.
Einen katholischen Priester, der sich bereit erklärt hat, haben wir in letzter Sekunde gefunden, er wird aus Polen kommen und eine polnische Rede halten. Viele Freunde meines Onkels stammen auch aus Polen. Ich werde eine Rede in deutscher Sprache halten.
Die Trauerfeier und das anschliessende Begräbnis sind sehr schön gewesen. Die Woche ist vorbei und eine neue wird beginnen…das Leben wird weitergehen müssen…und der Kampf.
Der Kampf um das Andenken meines Onkels, um dass sich seine einundzwanzigjährige Tochter bereits reisst, obwohl kaum Kontakt zwischen den beiden bestand. Ihr steht alles zu, und so soll es auch sein, wir wollen nur noch etwas Zeit um endlich trauern zu können…und ich werde stark sein, stark sein für Andzela!