Ein Neujahrsgruß
Laetitia sackte schwer auf einem Sessel zusammen. Vier Uhr in der Früh war es jetzt. Die meisten Gäste waren gegangen. Diejenigen, die übernachten würden, schliefen bereits, quer über den Raum, auf den bereit stehenden Couchen, Sitzecken und Sesseln verteilt. Ein neugefundenes Päärchen hatte es sich auf einer Kissen-Liegefläche mit unterlegter Wolldecke in der hinteren Ecke des Zimmers bequem gemacht und Laetitia hörte leichtes Kichern und unterdrückte Stöhngeräusche.
„Hoffentlich haben die beiden wenigstens ein Kondom dabei,“ dachte sie noch und überlegte kurz, ob sie ihnen eines von ihren leihen sollte. Dann verwarf sie den Gedanken. Die werden schon wissen, was sie tun. Hoffte sie zumindest.
Das war jetzt also gewesen. Sylvester 2009.
Das war alles?
Ein rauchgeschwängerter, miefiger Geruch hing in der Luft und machte ihr das Atmen schwer. Noch schwerer, als es ohnehin schon war.
Tobias war auch gekommen zu der Party, ihr Ex.
Mit seiner Neuen am Arm. Na, mit der würde er nun hoffentlich –endlich- glücklich werden, dachte sie sarkastisch. So ein hübsches, aber dummes Blondchen, schien es ihr, das ihn von unten herauf anhimmelte und ihm jeden Wunsch von den Lippen abzulesen schien.
Mit einem Gang, der waffenscheinpflichtig war, einem Schwung in den Hüften und einem verlockend wippenden Hintern, der im Gleichtakt mit den blondgefärbten Haaren zu summen schien: nimm mich, nimm mich, nimm mich…
Aber dumm wie Stroh, musste sie feststellen, als die Neue es nicht unterlassen konnte, sich galant herabzulassen, mit der Verflossenen ihres Angebeteten auch ein paar Höflichkeitsfloskeln auszutauschen, als Tobias sie ihr vorstellte.
Egal. Laetitia verdrängte diesen unerfreulichen Gedanken. Was soll´s. Ein Idiot mehr, der sich profilieren muss. Davon gab es zuhauf und außerdem, es war nichts Neues.
Vor allem nicht bei Tobias.
Darum ging es eigentlich nicht und es war auch nur ein kurzes, flüchtiges Intermezzo im Chaos ihres Gefühlswirrwarrs gewesen, das sie heute Abend umgetrieben hatte.
Sicher – die Party war lustig gewesen.
A Gaudi. Jux und Tollerei.
Jede Menge Champagner, Sekt und Alkohol – alles, was das Herz begehrte.
Aperitifs vor den Hors d'œuvres. Wein zum und im Essen. Zum Nachtisch Vanilleeis mit Kirschlikör und Cocktails für die Party danach.
Ein Hoch auf jeden, dessen Promille-Spiegel noch unter 2,0 lag.
Halleluja!
Du hast noch nicht gekotzt heute?
Na, herzlichen Glückwunsch! Damit bist du wohl der Partysieger des heutigen Abends!
Laetitia hatte sich den ganzen Abend an ihrem WodkaBull festgehalten, ihn von Zeit zu Zeit mal nachgefüllt, aber immer mehr mit RedBull denn mit Wodka.
Sie hatte keine Lust, sich voll zu dröhnen, nur um der allgemeinen Stimmung Genüge zu tun.
Sicher - alles hatte gefeiert, war ausgelassen gewesen, hatte Spielchen gespielt, geflirtet, was das Zeug hält, getanzt, und, und, und…
Und doch – irgendwie hatte Laetitia ständig das schleichende Gefühl von Morbidität, von Aufgesetztheit der Situation… von Unechtheit… von Flucht und Verdrängungsverhalten um sie herum, gehabt.
Als es Mitternacht war, hatte sich jeder jedem um den Hals geworfen und alle hatten sich beglückwünscht, alles Gute fürs neue Jahr gewünscht, Hände gedrückt, Umarmungen gegeben, sich abgebusselt…
Bussi hier, Bussi da… ja, dir auch ein frohes Neues… Glück und Gesundheit… blablabla…
Irgendwann waren die Gesichter austauschbar geworden… aus allen schlug ihr die gleiche, widerliche Alkoholfahne ins Gesicht… die Hände waren gleich… fühlten sich gleich schwitzig und nass an… die Stimmen verschwommen zu einem hohlen Echo in ihrem Kopf…
sie musste raus.
Sie flüchtete in die Küche. Tat so, als würde sie Marcella helfen. Das war die Köchin. Die Köchin ihrer Freundin Miriam, die die Party schmiss.
Miriam war die erfolgreiche Abteilungsleiterin bei ihrer kleinen, erfolgreichen Werbeagentur und hatte zu einem gemeinsamen, netten Tète-á-Tète eingeladen.
Mit Kollegen, hatte sie gesagt. Um die Teamstärke und die Kommunikation untereinander zu verbessern, hatte sie gesagt.
Aha.
Worin gegenseitiges Sich-besaufen die Teamstärke verbessern sollte, das konnte Laetitia beim besten Willen nicht erkennen, aber sie war ja auch die Einzige, die sich vermeintlich nicht amüsierte an diesem besonderen Abend, dem letzten Abend im Jahre 2008.
Beim besten Willen nicht, ja, so konnte man es nennen. Beim besten Willen wurde sie dieses tiefsitzende Gefühl von abgrundtiefer Leere nicht los, das schon den ganzen Abend unterschwellig an ihr nagte, in ihr rumorte und ihr keine Ruhe ließ.
Eine tiefe, unergründliche Leere war es, die sich einfach nicht vertreiben, nicht verdrängen und auch nicht übertünchen lassen wollte.
Mit allergrößter Mühe gerade sich mal kurz ablenken lassen, das war das Höchste der Gefühle, das Laetita heute Abend erreichen konnte. In der halben Stunde nach Mitternacht, in der die Welt Kopf stand und alles, was verfügbar war, in die Nacht herausballerte, wie um das neue Jahr lautstark und trotzig zu begrüßen und das Alte mit lautem Gedöhns verabschieden und hinaustreiben zu wollen – in dieser halben Stunde ließ Laetitia sich treiben von dem Lichtgefunkel am Firmament, den vielen, kleinen, bunten Lichtlein, die beim Aufsteigen eines Feuerwerks entstanden und sich in einem fulminanten Lichterwerk entluden, wenn der Knaller seinen Höhepunkt erreichte.
Wie ein Orgasmus mit Tobi, fiel ihr plötzlich auf.
Kurz, aber heftig.
Schön, aber nichtssagend.
Intensiv, aber…
total leer.
Und dieser Gedanke brachte sie wieder an den Ausgangspunkt ihrer Emotionen zurück und nachdem das alljährliche Lichterschauspiel vorüber war und sich alle wieder aus der bibbernden Kälte nach innen verzogen, überkam es sie, innen, inmitten der qualmverpesteteten Luft, umgeben von lauter Bekannten, die ihr doch so fremd waren, ein unerträgliches, allumfassendes Gefühl von Einsamkeit und tiefer Sinnlosigkeit.
„Und? Was sind deine guten Vorsätze fürs nächste Jahr?“, hörte sie ein quäkige Stimme und blickte in ein Paar funkelnd blauer, beschwipster Augen.
Blau wegen den falschen Kontaktlinsen, fiel ihr in einer hinteren Ecke ihres Bewusstsein auf. Umrahmt von falschen Wimpern mit goldenem Glitzereffekt.
Ihr wurde schlecht.
Sie entschuldigte sich und ging zur Toilette. Obwohl sie kaum etwas getrunken hatte, musste sie sich übergeben.
Ihr war übel.
Übel von der Falschheit dieses Schauspiels.
Von der Unehrlichkeit dieser Leute.
Von der Aufgesetztheit der guten Laune.
Von der unglaublichen Fähigkeit des menschlichen Geistes, um der Lustbefriedigung willen grenzenlosen Selbstbetrug zu begehen und sich damit noch nicht einmal unwohl zu fühlen.
Das junge Mädchen, das sie angesprochen hatte, war die Sekretärin des Chefs gewesen. Sie wusste, dass sie um ihren Job bangte, da der Chef mit ihrer Leistung nicht ausreichend zufrieden war. Deshalb hatte sie sich heute Abend in Schale geschmissen und umgarnte ihn, was das Zeug hielt. Jeder in der Abteilung wusste, dass der Herr Meier-Hetzer ein Freund von weiblichen Schönheiten war, der mit deren Reizen gerne mal spielte.
Immer mal wieder war bei einigen Kolleginnen der Vorwurf der sexuellen Belästigung im Raum gestanden, doch keine hatte es durchgezogen, ihn anzuzeigen. Es hatte jedesmal ein vertrauliches Vier-Augen-Gespräch gegeben, sobald es brenzlig geworden war und die Kolleginnen hatten kurz darauf die Firma verlassen.
Mit einem excellenten Empfehlungsschreiben in der Hand und ein wenig weniger an Selbstwürde – so empfand es Laetitia zumindest, wenn sie ihnen in die Augen blickte und ganz offen die Frage stellte: Warum?
Auf die sie aber nie eine offene Antwort bekam. Immer nur Ausflüchte, Ausreden, geheuchelte Zeitnot á la „Du, das tut mir jetzt leid, ich würde dir das geeeerne genauer erklären, aber leider hab ich gleich einen Termin… du verstehst… ich muss ganz schnell los… vielleicht ein andermal, ja?“
Ja, klar.
Neeeee.
Laetitia sah in den Augenwinkeln, wie der Chef sich mit Tobias´ Neuer unterhielt und ganz offen zur Schau stellte, dass er für ihre deutlich zur Schau gestellten Reize nicht unempfänglich war. Nun ja, vielleicht trug das ja sogar noch zu Tobias Beförderung bei – da hatte sie ja nicht viel nützen können. Mit einem sarkastischen Lächeln wendete sie sich ab von der Szenerie.
Das junge Mädel war wieder vor ihr aufgetaucht. „Hey, was war denn los vorhin? Geht’s dir nicht gut?“
Laetitia ignorierte die Frage. Ihr lag etwas anderes auf der Zunge: Mein Gott, Mädel, warum machst du denn so nen Scheiß? Noch dazu, wo du noch nicht einmal glücklich bist in dem Job?
Aber sie wusste die Antwort schon.
Angst.
Es war immer die Angst.
Angst vor dem Ohne-Job-dastehen.
Vor dem Eigeninitiative-Zeigen.
Vor dem andere-Wege-gehen-als-die-Eltern-es-für-einen-bestimmt-haben.
Vor der Selbstverantwortung.
Sie sprach ihre Frage nicht aus, aber ihre Antwort ließ vermuten, was sie dachte. Sie sagte:
„Du solltest den Mut haben, ins kalte Wasser zu springen.“
Das Mädchen schaute verdutzt. „Wie bitte? Aber hier gibt es doch gar keinen Pool, oder?“
Laetitia ließ sie stehen. Wer nicht denken will, dem kann man nicht helfen.
Es geht ums Selber-Wollen. Einen Hund, den du zur Jagd tragen musst, der taugt nichts.
Sie sah sich um und fragte sich, was sie hier eigentlich machte.
Und fand keine Antwort.
Immer noch empfand sie hauptsächlich Leere, vermischt mit einem Hauch von Hoffnungslosigkeit. Würde sich das jemals ändern? Würde sich das jemals sinnvoll anfühlen?
Was – das?
Ihr Leben.
Ihre Sylvester.
Als Spiegel ihres Lebens und der Menschen um sie herum.
Jeder tat so, als gäbe es etwas zu feiern. Als würde alles besser werden, bloß, weil man eine neue Zahl am Ende einer bereits bestehenden Zahlenreihe setzen.
Lächerlich. Bloß, weil ein neues Jahr begann, das gleichzusetzen mit neuen Hoffnungen, neuen Chancen, neuen Veränderungen und Vorsätzen.
Ein Leben ändert sich nicht, bloß, weil man eine andere Zahl schreibt, dachte sie. Ein Leben ändert sich, wenn man es will. Weil man es will. Und das kann man immer und überall. Beginnen - dazu braucht es kein neues Datum.
Wie dumm ist es, so etwas zu denken, dachte sie und schüttelte den Kopf.
Frommer Selbstbetrug.
Nur – äußern sollte sie das nicht. Nicht hier auf der Party. Oh nein, sie würde ja noch zur Spaßbremse werden.
Sowas wollte keiner hören. Schon gar nicht zu Neujahr.
Das wäre ja so, als hätte Jingle Bells zu Weihnachten einen hässlichen Kratzer auf der Platte.
Sie ging nach draußen und atmete die kühle Winterluft ein. Auch die stank und schmeckte nach Verbranntem. Na lecker, dachte sie, selbst die Nacht kotzte sich aus. Das Jahr fing ja gut an.
Warum sie nicht nachhause ging, verstand sie auch nicht. Sie hätte das wohl ebenfalls als Fluchtgedanken interpretiert. Weggucken ist auch keine Lösung, dachte sie und so zwang sie sich, zu bleiben und sich das ganze Schauspiel und die ganze Maskerei ungeschönt anzutun.
Mitzuerleben, auf dass es ihr eine Lehre sei.
Sich in ihr verlassenes Gehirn schmerzhaft einbrannte, dass sie niemals – niemals- das Gefühl der allumfassenden „Falschheit“ der Situation und die Parodie auf das Leben, das das Leben nun selbst war, vergessen würde.
Sie half der Köchin in der Küche, um wenigstens etwas Sinnvolles zu tun. Miriam kam vorbei. „Aber Schätzchen, das musst du nun wirklich nicht machen. Wozu habe ich denn Marcella?“, flötete sie und nippte an ihrem Champagnerglas, wobei ihre geschminkten Lippen verführerisch am Glasrand klebten und sie unter den Augenbrauen hinweg mit einem lasziven Blick aus den von billigem Glitzer umrahmten Augen blickte.
Laetitia versuchte erst gar nicht, sich zu wehren, ließ sich von Miriam mit in die Menge ziehen, um sich, nach knapp fünf Minuten, als Miriam das Interesse an ihr verloren hatte und sich Anderen zuwandte, wieder in die Küche zu verziehen und Marcella weiter behilflich zu sein.
„Wissen Sie“, sagte die alte Italienerin, „Sie sollten nicht so traurig sein an Sylvester und soviel Trübsal blasen. Gehen Sie feiern. Ich mache das hier schon.“
Laetitia winkte ab. „Das ist heute meine Art, das neue Jahr zu begrüßen. Mit ehrlicher Arbeit.“, antwortete sie und schwieg. Mehr wollte sie sich nicht erklären und Marcella akzeptierte das nach einigen weiteren Versuchen auch und gab auf.
Jetzt, um vier Uhr in der Früh, als Laetitia müde und geschafft, auf ihrem Sessel zusammensackte, fragte sie sich ein weiteres Mal, wie jedes Sylvester, in jedem bisherigem Jahr, ob sich das jemals ändern werde und ob der Zustand dieses Selbstbetrugs jemals aufhören werde. Bei sich und bei den anderen.
Bei sich hatte sie ja schon ein ganz gutes Gefühl. Sie wurde sich ja bewusst. Sie war sich ja bereits zu einem Großteil bewusst geworden.
Nur - besonders gut fühlte sich das nicht an. Und sie verstand, warum die meisten Anderen das nicht wollten und flüchteten. Die Verdrängung fühlte sich weit besser an.
Aber sie war wenigstens ehrlich. Zu sich und ihren Gefühlen gegenüber. Ihrem Leben gegenüber. Und auch, wenn sich das zum momentanen Zeitpunkt noch nicht gut anfühlte, schätzte sie doch die unbequeme Ehrlichkeit höher ein als die bequeme Unehrlichkeit.
Und mit einem Gefühl der Zufriedenheit, für sich den richtigen Weg beschritten zu haben, ließ sie los.
Ließ den Abend los und seine Enttäuschung.
Ließ Sylvester los und die vermeintliche Partystimmung.
Ließ die Hoffnungen los und die unerfüllten Erwartungen.
Ließ los und übergab sich, mit einem letzten Atemschnaufer dem tiefen Schlaf der Gerechten, aus dem sie am nächsten Morgen wieder erwachen würde mit dem wenigem, was sie hatte und was in den Augen der allermeisten Anderen nichts zählen würde, aber für sie das wichtigste und stärkste Gut war, dass sie überhaupt besitzen konnte:
Dem Bewusstsein und dem absolutem Willen, sich nie wieder selbst betrügen zu wollen. Was es sie auch kosten würde.
Frohes, neues Jahr!