Zeit
Sarah wälzte sich seufzend im Bett hin und her. Es hatte keinen Zweck. Sie musste zur Toilette. Ächzend erhob sie sich, um dem Drang nachzugeben. Ein Blick auf die Uhr belehrte sie: es war 9.30 Uhr. Damit war klar, dass sie nicht wieder würde einschlafen können. Der Blick in den Badezimmerspiegel war auch nicht dazu angetan, Freude aufkommen zu lassen. Tiefe Ringe unter den Augen und strähnige Haare waren deutliche Zeichen des letzten Abends.Eine Hustenattacke ließ Wellen der Übelkeit empor steigen. Warum tat sie das nur? Es lag kein Sinn darin. Sie wusste, dass es mehr als bescheuert war. War es die Langeweile? Sie schlurfte in die Küche und warf die Kaffeemaschine an, umhüllte sich mit einem frotteenen Etwas, das man unter Zuhilfenahme von ein wenig Phantasie als Bademantel bezeichnen konnte und eierte zum Briefkasten, um sich die Zeitung zu holen.
Mit Kaffee und Zeitung ließ sie sich auf dem Sofa nieder. Es war eindeutig zu früh für feste Nahrung. Sorgfältig arbeitete sie sich von Artikel zu Artikel und nach der vierten Tasse hatte sie alles außer der Sportseite durch. Erst 10.45 Uhr. Der Tag tat sich auf wie ein zäher, grauer Teig.
„Und ewig grüßt das Murmeltier“, murmelte sie. Es war Zeit für den nächsten Programmpunkt. Das heiße Wasser der Dusche erfrischte sie in keiner Weise. Der Versuch, die Zähne zu putzen, endete im Ausspucken des Kaffees.
„Super Sarah, das hast Du ja wieder toll hingekriegt“. Es fiel ihr längst nicht mehr auf, dass sie mit sich selbst sprach. Gegen den schalen Geschmack half etwas Mundspülung mit Kamille. Sollte ja auch gegen den schlechten Atem gut sein. Sie gurgelte und spuckte, würgte und spuckte und gurgelte erneut.
Das Telefon riss sie aus dieser nicht gerade amüsanten Tätigkeit. Nein, es war nicht ihre Mutter. Es war auch nicht die Disponentin aus dem Call Center, in dem sie stundenweise arbeitete. Es war falsch verbunden. Zumindest dachte sie das im ersten Moment. Die Stimme am Telefon klang aufgeregt, wirr und so als wäre es wichtig. Sarah hätte hinterher nicht mehr zu sagen vermocht, warum sie nicht einfach aufgelegt hatte. Sie hatte sich in ein Gespräch verwickeln lassen und jetzt war sie in der Stadt verabredet.
„Mein Gott, schon 11.30 Uhr. Die Zeit rast.“ Und getreu diesem Motto jagte sie zwischen Kleiderschrank, Bad und Flurgarderobe hin und her, packte in Windeseile einige Dinge in ihre Handtasche, warf ein paar Aspirin ein und stürmte los. Mit hängender Zunge erwischte sie den Bus. 11.52 Uhr. Sie stolperte, als der Wagen anfuhr, und landete unsanft auf einem der Sitze. Ihr gegenüber saßen zwei alte Frauen. Eine Wolke von 4711 umhüllte die beiden. Erneut überkam Sarah das Würgen. Es waren doch nur zwei Flaschen gewesen? Ob sie etwas ausbrütete? Erfreulicherweise verließen die beiden Damen den Bus an der nächsten Station. Sarah wagte es durchzuatmen.Vergebens. Erneut überkam sie dieses entwürdigende Würgen.
Vier Haltestellen später konnte sie endlich aussteigen. Das flaue Gefühl im Magen breitete sich inzwischen in ihrem gesamten Unterleib aus. 12.13 Uhr. Etwas Zeit blieb noch. Sie betrat den Discounter und stellte sich mit zwei Bananen an der Kasse an. Banane ging immer, band die rebellischen Säfte und füllte den Magen. Hastig schob sie sich die erste in den Mund. Mit der zweiten ging sie etwas sparsamer um, musste mit dem Rest kämpfen und warf ihn schließlich mitsamt der Schalen in den nächsten Mülleimer.
Während sie sich zum Treffpunkt unter der großen Uhr aufmachte, versuchte sie, sich zu erinnern, mit wem sie eigentlich telefoniert hatte. Pünktlich um 12.30 Uhr wusste sie, dass sie die Person, mit der sie sich verabredet hatte, noch nie in ihrem Leben jemals gesehen hatte. Der Mann vor ihr konnte unmöglich ein ehemaliger Klassenkamerad sein. Der Mann war mindestens 20 Jahre älter als sie. Aber gut sah er aus mit dem graumelierten Haar und dem dezenten Zweireiher. Irgend etwas in seinem Gesicht kam ihr bekannt vor.
Er spürte ihre Verwirrung, führte sie wortlos ins nächste Café und orderte zwei Cognac. Als er den Schwenker zum Mund führte, vermeinte sie in einen Spiegel zu blicken. Sie kannte diese charakteristische Haltung des kleinen Fingers von sich selbst.
Seine Worte erzählten von Schuld und Sühne, von vergeblichen Versuchen, von Unglück, von Pech und von Einsamkeit. Die Anklagen an ihre Mutter drangen nicht weiter als bis an ihr Ohr. Sie sah nur das Glas vor ihr. Wie hypnotisiert nahm sie es hoch und blickte es an, als hätte sie in ihrem ganzen Leben noch niemals so etwas gesehen. Sanft ließ sie die braune Flüssigkeit kreisen, sog den Geruch tief in sich ein und atmete durch. Ohne ein Wort zu sagen, stellte sie den Feind vor ihrem Gegenüber ab, erhob sich und ging.
Frische Luft umfing sie. Überlaut drang das Gurren einer der Stadttauben an ihr Ohr. Sie lächelte und dann begann sie lauthals zu lachen. Es gab nur diesen einen Augenblick. Der Tag bestand nicht länger aus zähem, grauen Teig. Er bestand aus Licht und Sonne. 12.54 Uhr. Es war Zeit. Sie betrat die Beratungsstelle.
„Jetzt bin ich soweit“, sagte sie und trug sich in die Liste für die Selbsthilfegruppe ein.