Wenn der Anfang das Ende ist
Moin.Ich denke, ihr habt mitbekommen , wie ich in den letzten Jahren hier wahrscheinlich hunderte von Puzzlesteinen eingestellt habe, die sich alle um dasselbe Thema drehten. Ich schreibe meinen ersten Roman, schon seit Jahren und für mich sieht es so aus, als würde es auch mein Letzter werden, wenn ich den Typ mit dem "es geht noch besser, ist noch nicht perfekt" nicht endlich erschlagen kriege. Viele Probleme haben sich ergeben, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie existieren. Oftmals sah die Lösung so aus, dass ich in der Geschichte immer weiter zurückgehen musste, um Rückblenden und Erklärungen zu vermeiden. Das ist das genaue Gegenteil von dem, was viele Schreibratgeber sagen, nämlich später einsteigen. Doch es muss auf der einen Seite eine nachvollziehbare Ursache-Wirkung-Kette geben und auf der anderen Seite nimmt jede Erklärung, jedes „weil“, jedes „darum“ das Tempo und die Spannung aus der Geschichte. Das musste ich auch erst begreifen - eine Geschichte, in der man erklären muss, ist keine.
Dann das Perspektivenproblem. Ich habe parallele Handlungsstränge und große Zeitsprünge und brauche deshalb sowohl einen auktorialen Erzähler als auch mehrere personale Perspektiven. Hört sich kompliziert an, ist es auch und am schwierigsten ist es, diese Kompliziertheit nicht den Leser ausbaden zu lassen. Aber wie kann ich einen allwissenden Erzähler in einem Thriller verwenden (haben, glaube ich, noch nicht viele mit Erfolg versucht), ohne das der Leser das Gefühl hat, dass dieser zwar allwissend ist, aber eben nicht alles sagt, um die Spannung hochzuhalten? Ich als Leser würde mich da verarscht fühlen.
Ein dritter Problemkreis - einer der Haupthandlungsorte ist Schwerin und davon will ich unter keinen Abständen abgehen. Doch wie kann ich dem Leser Schwerin als Großstadt und mit einem Flughafen verkaufen, ohne dass es phantastisch wirkt?
So sind auch viele Anfänge entstanden, obwohl der Roman komplett durchgeschrieben ist, die ausnahmslos in der Tonne gelandet sind. Die Zeit hat sie überholt.
Ich denke, jetzt endlich einen in Stein meißeln zu können. Mich würde interessieren, wie dieser Anfang auf euch wirkt. Ob er euch hineinzieht ...
Dankeschön
PS: Die erste Hälfte kennt ihr schon, die habe ich nur leicht überarbeitet. Der Prolog wirkt aber nicht ohne, deshalb muss hier noch einmal hinein.
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Gott hat die Menschen geschaffen, ihn anzubeten und dazu die unheilige Dreieinigkeit von Obrigkeit, Krieg und Kirche. Die Hölle hat er gemacht, auf dass die Seelen derer, die den Kopf nicht davor beugen wollen, in ihrem Feuer ewige Pein erleiden. So macht man es die Leute glauben, und nichts davon ist wahr. Wahr ist, dass der Weg zur Hölle mit Dollars gepflastert ist; es in ihr sechs Monate in jedem Jahr so finster wie im Herzen eines Banksters ist und sie schon alt war, als sich die Vorfahren der Menschen noch durch die Bäume hangelten.
„Antarktis“ ist ihr Name, ein kilometerhoher Eispanzer bedeckt sie wie ein Leichentuch und Stürme rasen darüber hinweg, wie es sie nirgendwo sonst auf der Erde gibt. Nicht Hitze herrscht in ihr, sondern tödliche Kälte und eine arme Seele, die sich dahin verirrt, wird nicht abgefackelt, sondern schockgefrostet. Voller Geheimnisse und ungelöster Rätsel ist sie eine der letzten Herausforderungen der Menschheit. Doch sie gibt sie nicht so ohne Weiteres preis und verzeiht denjenigen, die sie ihr entreißen wollen, keine Fehler. Schützt man sich vor der Kälte, schickt sie einen Blizzard; geht man vor dem Sturm in Deckung, reißt er das Eis unter den Füßen auf; steht man auf festem Grund, rollt sie häusergroße Brocken heran und hat man das alles überlebt, spielt der Kompass verrückt und der Weg zurück scheint auf immer verloren. Worauf man sich auch vorbereitet – sie schlägt da zu, wo man es nicht erwartet hat, ganz so, als würde ein teuflischer Verstand dahinterstecken und alles tun, um dieses letzte freie Land vor der Zerstörung durch den Menschen zu schützen.
Einen Moment zögerte ich, dann strich ich die beiden letzten Halbsätze. Selbst wenn es einen Verstand hinter allem gab, war es gewiss keine teuflischer; nur einer, der um sein Überleben kämpft. Es ist keine Intelligenz, die das lenkt, womit sich die Antarktis gegen jene wehrt, die sie erobern wollen. Es ist pure Natur, und wenn uns das seltsam vorkommt, dann nur, weil wir zivilisatorische Weicheier geworden sind - hilflos ohne unsere Technik, kommunikations- und gefühlsunfähig ohne unsere Smartphones und im eisigen Land stehen keine Sendemasten.
Ob es auf den anderen Erden genau so ist? Vor zwei Jahren hatte Rachmantikow die Existenz paralleler Universen bewiesen; das Multiversum ist keine bloße Theorie mehr, sondern eine feststehende Tatsache. Vielleicht ist ja auf wenigstens einer dieser unendlich vielen Erden die Antarktis ein blühender Garten Eden. Oder Schwerin keine Großstadt, sondern nur ein Provinznest? Beides schwer vorzustellen ...
Irgendwo wurde leise eine Tür zugeschlagen und ich fuhr zusammen. Die Nachtschwester machte ihre Runde. Sie kam ganz gut ohne mich klar, wahrscheinlich sogar besser, als wenn ich hier war. Höchste Zeit, Feierabend zu machen, meine Gedanken machten ohnehin Bocksprünge. Ich hob den Kopf von meinem Text und massierte meinen Nacken. Beruhigend leuchtete das Grün des Hinweisschildes für den Notausgang ein paar Meter links von mir durch die Plastglasscheibe des Arztzimmers und nichts mehr erinnerte an den Betrieb, der tagsüber auf der Station herrschte.
Noch einen Kaffee zum Mitnehmen. Ich stand auf, reckte mich und ging durch das Halbdunkel im Saal zum Automaten. Der Becher fiel in die Halterung und leise zischte das kochende Wasser in der Maschine; der Ausgabearm fuhr heraus, ich nahm den Becher, hinterließ im Schwesternzimmer Sabrina noch ein paar Zeilen und machte mich auf den Weg zu meinem Wagen.
Wolken zogen vor den Mond, als ich aus der Tür trat. Die Bioluminiszenz-Leuchtstreifen im Gehweg erhöhten sanft ihre Lichtintensität und die uralte, schiefe Sommerlinde mit dem auf Augenhöhe in die Rinde gekratzten Herzen und dem es durchbohrenden Liebespfeil, unter dem ich immer meinen Wagen parkte, wies mir mit ihrem Duft den Weg. Sie blühte, wie sie es schon seit vielen einhundert Jahren immer im Sommer getan hatte und ihre Pollen machten aus der lauen Nacht ein Sinnesfeuerwerk. Wie der sanfte Abschiedskuss einer Geliebten - tief atmete ich ihn ein und wieder fragte ich mich, auf welchen Abwegen meine Gedanken heute Nacht unterwegs waren.
„Sie arbeiten zu viel, Doktor.“
Eine schlanke Gestalt trat hinter dem Stamm hervor und mit einem satten Geräusch klatschte mein Kaffeebecher auf den Boden, Spritzer landeten auf meinen Füßen und ich blieb abrupt stehen. Es war nachts um drei Uhr, um diese Zeit war außer dem Sicherheitsdienst auf dem weitläufigen Gelände der Klinik gewöhnlich niemand mehr unterwegs. Dunkel, fast rauchig und ein wenig belustigt hatte die Stimme geklungen und es war die einer Frau gewesen.
Ich zwang meinen Atem zur Ruhe. „Womit bewiesen wäre, dass mein Gewissen weiblich ist. Sie haben hier gewartet, um mir das zu sagen?“
„Warum nicht? Sie treffen heute Ragnar Borg. Ich will, dass Sie ihm sagen, dass er mich haben kann, wenn er dafür morgen ein Treffen mit Christian Svensson arrangiert.“
„Svensson ist tot.“
„Und der Mond ist aus grünem Käse.“
„Nehmen wir an, Sie hätten Recht. Warum sollte ich das für Sie tun?“
Sie kreuzte die Arme vor der Brust, winkelte ein Knie an und stellte sich mit dem Rücken an den Stamm. Dunkel gekleidet sah sie im Mondlicht mit ihrem herzförmigen Gesicht mit Samthaut, den großen blauen Augen und langen blonden Haaren aus wie allerhöchstens fünfundzwanzig. Doch die Falten und die ein wenig hervortretenden Adern auf ihren außergewöhnlich schmalen Händen verrieten ihr wahres Alter.
Ich bückte mich und hob den Kaffeebecher auf. „Ich habe Ihre Antwort nicht gehört. Bei uns muss man eine Gegenleistung erbringen, wenn man etwas haben will.“
„Nicht nur bei Ihnen, Doktor. Individuelle Intelligenz entwickelt sich immer ähnlich. Überall.“
Deutlich und akzentuiert sprach sie, ohne eine einzige Endung zu verschlucken. Ausgebildete Radiosprecherinnen reden so, mit gekonntem Heben und Senken der Stimme an den richtigen Stellen und mit einer Vibration in den Untertönen, die in schlaflosen Nächten dafür sorgt, dass man sich wünscht, sie mögen weitersprechen. Einfach nur deshalb, weil eine solche Stimme die Seele streicheln kann. In meinem Beruf wären ihr die Patienten auf allen Vieren hinterhergekrochen.
„Das war keine Antwort“, erwiderte ich.
„Nicht die, die Sie wollten. Lassen Sie uns ein Stück gehen.“
Mit dem Rücken stieß sie sich vom Stamm ab. Eine perfekte Bewegung wie eine Welle, die an den Strand läuft. Ich hatte sie schon einmal gesehen, aber nicht bei ihr.
Sie ging an mir vorbei, blieb nach ein paar Schritten stehen und fragte über die Schulter: „Kommen Sie?“
Als ich auf gleicher Höhe war, hakte sie sich ein. „So bin ich hier auch mit Christian Svensson spazieren gegangen, als er mich hier besuchen kam.“
„Sie waren noch nie Patientin hier. Ich sehe Sie zum ersten Mal.“
„Sind Sie sicher?“
Nein, das war ich nicht, aber ich sprach es nicht aus. Nichts war sicher, nicht mit ihr und nicht heute Nacht. Sie redete, ich schwieg und genoss den Klang ihrer Stimme. So spazierten wir stundenlang durch den Park und wenn wir ihn durchquert hatten, begannen wir eine neue Runde. Jeder ihrer Sätze füllte eine weiße Stelle in dem Puzzle, in dem ich, ohne es gewusst zu haben, ein Stein gewesen war; die Ströme von Blut, die Svensson vergossen hatte, schienen eine andere Richtung zu nehmen und aus seinen Opfern wurden aus ihrem Blickwinkel plötzlich Täter.
Die Sonne war längst aufgegangen, als sie verstummte und mir das erste Mal direkt in die Augen schaute. „Jetzt wissen Sie, warum ich dieses Treffen will. Wenn er von alleine begriffen hat, was ich Ihnen eben erzählt habe, aber ihm nie sagen durfte, werden morgen die letzten drei Menschen auf seinem Weg sterben. Einer davon muss ich sein, direkt vor Borgs Augen. Unbedingt und Sie wissen jetzt, warum.“
Einen Moment sah sie mich noch an, dann ging sie ohne ein Abschiedswort davon. Ihre Tritte verklangen hinter mir auf den alten Steinplatten, einer wahrscheinlich perfekt auf den Millimeter genau so lang wie der andere und alle exakt auf einer schnurgeraden Linie. Eine perfekte Frau. Zu perfekt.
Ich schaute ihr nicht nach, sondern über den Schweriner See. Diese Welt hier kannte ich, die Menschen, die Häuser, die Straßen. Dass es noch eine andere gab, hatte ich nicht geahnt, wahrscheinlich genauso wenig wie Svensson. Er musste sich morgen entscheiden, ob er leben oder sterben wollte und niemand würde ihm sagen, dass nur sein Tod die richtige Wahl war. Auch ich nicht. Das war ich dieser Frau schuldig. Sie hatte ihren Namen nicht genannt, aber ich hatte eine Ahnung, wer sie war.
Im Sommer neunzehnhunderteinundachtzig, vor ungefähr vierzig Jahren, hatte sie sich in Oslo auf eine Antarktisexpedition vorbereitet und ein elfjähriger Junge hier in Schwerin hatte nicht akzeptieren wollen, dass man in der menschlichen Gesellschaft nur vorankam, indem man anderen weh tat.
Wie es aussah, hatte damals alles begonnen ...