Empfindungen
Liebe Gemeinde, werte Mitschreiber, Autoren und Autorenninnen...Spontantext, möchte ich das nennen. Inspiriert durch einen anderen Thread in unserer geschätzen Gemeinde will ich diese kleine Geschichte mal als Vorlage geben, um jedermann hier zu einer "Neuerzählung" zu animieren. Also die gleiche Story, Erzählung mit einer anderen Empfindung, die ausgelöst wird, mit einem alternativen Ende, in einem anderen Sprachstil.
Ich habe absichtlich eine sehr groteske Ebene gewählt, um hier jedem die Möglichkeit zu geben, es nach seinem/ihrem Gusto umzuinterpretieren. Das Setting sollte erhalten bleiben, variiert werden kann alles zwischen dem ersten und letzten Absatz.
Ich bin gespannt auf eure Variationen. (und wenn der Text Empfindungen in euch auslöst, die euch nicht gefallen, verändert sie. Ich bitte darum!)
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One Night
Du sitzt jetzt vor mir, zitternd, und starrst auf meine blutüberströmten Hände. Murmelst immer wieder dieselben Worte vor Dich hin, in dieser Sprache, die ich nicht kenne. Ich nehme an, es ist die gleiche Sprache der jungen Männer vorhin an der Tankstelle.
Vorhin. Eben. Eben gerade, das Blut ist noch nicht getrocknet. Auch ich kann den Blick nicht von meinen Händen lösen, nur Dich schaue ich an, in kurzen, scheuen Momenten.
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Du siehst aus wie sie, die jungen Männer von eben. Schwarze Lederjacke, zerrissene Jeans, nicht viel Pomp, alles einfach, riecht nach Straße, Straßenecke besser, nach Müllhaufen auf dem Gehsteig, nach Pommes und Bier, nach Jim Beam mit Cola aus der Dose oder einem heute unvermeidlichen Energy-Drink.
Aber Du bist jünger als sie. Kleiner. Zierlicher. War es das? War es dieses offensichtliche Ungleichgewicht? Der, der mir in den Weg getreten ist, war fast so groß wie ich. Deutlich größer als Du. Schwerer. Massiger. Brutaler. Und da war etwas in seinem Blick, das ich gar nicht benennen kann. Aber ich kannte es. Und es gefiel mir nicht.
Warum war ich zu der Tankstelle gegangen? Weil mir die erste Flasche nicht gereicht hatte. Sie war viel zu früh leer. Die Zweite, ja, ebenfalls. Auch die zweite Flasche Rotwein fand ihr Ende, lange bevor ich schlafen konnte, bevor auch nur daran zu denken war, mich zur Ruhe zu begeben.
Weißt Du, das geht mir jede Nacht so. Ich bin wohl einer dieser Cops in amerikanischen Filmen, die sich nach getaner Arbeit in den Schlaf saufen. Dabei bin ich gar kein Cop. Nur ein müder, alter, einsamer Mann. Der in Hotels lebt und nachts, mitten in der Nacht, wenn alle anderen schlafen, sich an der Tankstelle nebenan seine dritte Flasche Wein holt.
Weil er nicht schlafen will. Oder nicht kann. Ich weiß es nicht. Und heute Nacht war es doch gut so, oder? Was hätten die vier Jungs Dir sonst angetan? Sie waren schon weit vorgedrungen, als ich dazu kam, oder? Viel weiter, als Du es wolltest.
Ich hab es schon gesehen, als ich in den Lichtschein der Werbetafeln und Scheinwerfer trat: Die Vier und Du. Du allein. Die zu viert. Alle angetrunken, lebhaft, frech und keck. Und Du auf dem Rückzug. Als ich reinging, in die Tankstelle um meine dritte Flasche Wein zu kaufen, da haben sie Dich schon bedrängt.
Haben sich durch mein kurzes Zögern gestört gefühlt. Der Große hat mir schon da signalisiert, dass ich mich um meine Angelegenheiten kümmern soll. Nur ein Blick, aber der war ernst gemeint. Und da hab ich auch in Deine Augen gesehen. Du hast mir ein völlig anderes Signal gesandt – einen Hilferuf. Ich bin trotzdem reingegangen. Für mich wart ihr fünf Jugendliche, die miteinander spielen. Ging mich nichts an.
Drinnen hat die Kassiererin immer wieder rausgeschaut zu euch, sorgenvoll, wie mir schien. Beim Bezahlen hab ich sie angesprochen. „Machen die Jungs da Ärger?“ Sie sah mich an, nickte nur, hob die Schultern. „Hängen jeden Abend hier ab.“ Sie sprach so, wie ich es eher von eurer Clique erwartet hätte. Und sie schüttelte den Kopf, beim Kleingeld-rausgeben. „Melina da draußen, das is ne Freundin von mir. Hat die Fucker echt ausm Laden gelotst, die haben Stress gemacht. Und nu hab isch echt Angst um sie.“
Ich hab die Flasche dann in meinen Rucksack gepackt, den Kleinen, den ich für solche Gelegenheiten immer bei mir trage. Natürlich will ich nicht mit einer Flasche Rotwein auf der Straße langlaufen oder an der Rezeption vorbei ins Hotel gehen. Ich bin ja kein Penner und will nicht für so einen gehalten werden.
Aber bei den Worten hab ich diesen Druck in meinem Magen gefühlt, weil ich Dir in die Augen geblickt hatte. Und Deine Angst gesehen hab. Ich wusste, wenn ich da jetzt rausgehe, dann wird etwas passieren.
Hab nochmal durchgeatmet und der Kassiererin zugezwinkert. War vielleicht ein bisschen übertrieben, aber nach zwei Flaschen Wein?
Dann kam die Slow-Motion-Sequenz. Die Tür, lichtschrankengesteuert, fährt auf. Ich trete raus, kühle Nachtluft an der Nase. Stelle den Rucksack ab. Der große, Dicke, dreht sich zu mir um, lässt von Dir ab. Wenn ich es richtig gesehen habe, war der schon mit der Hand in Deiner Lederjacke? Egal. Er macht den Mund auf. Worte kommen, er beginnt mit „Alter Mann…“
Ja, weiter kommt er nicht. Ja, alter Mann. Fünfzig Jahre alt, alt genug, um sich unbedingt einzubilden, noch einmal eine Meute von Jungspunden in die Schranken zu weisen. Und vor allem alt genug, um fast vierzig Jahre lang immer wieder trainiert zu haben, für Situationen wie diese. An diesen fest eingeprägten Reflexen ändern auch zwei Flaschen Wein nichts.
Der Dicke röchelt, noch bevor er kapiert, dass er k.o. ist. Er spuckt Blut, besudelt meine Hand, seine Lippe ist geplatzt und er greift sich wie in Zeitlupe an den Kehlkopf, mein erster Fauststoß hat mit fürchterlicher Präzision getroffen. Die anderen Drei lassen Dich los, ich sehe eine blanke Brust, die sie inzwischen freigelegt hatten. Du fällst nach hinten weg, weil Dich niemand mehr festhält, das ist gut so.
Dann bricht es dem Nächststehenden – einem kleinen, schmächtigen Schwarzhaarigen – den Kiefer: Ein sauber angesetzter, sehr wirkungsvoller Fußstoß, mein Sensei wäre zufrieden mit mir und ich wundere mich, dass ich unter der Einwirkung von zwei Flaschen Rotwein so präzise zielen kann.
Die anderen beiden trennen sich, das ist gut für sie, sie spreizen meine Aufmerksamkeitszone. Etwas klickt, einer von beiden hat ein Messer rausgeholt. Ich atme tief durch und gehe in die Grundstellung, hebe die Arme, sehe mich selbst wie in einem Film. Es ist affig, aber erhebend. Mein benebeltes Gehirn produziert ein Abbild von mir, so wie ein Konglomerat aus Bruce Lee und all den Ikonen meiner Kindheit. Da bin ich jetzt, in einer brandgefährlichen Situation, und nur der Alkohol in meinem Kopf verhindert, dass ich nachdenken kann.
Das ist für die Angreifer letztendlich ein Nachteil. Nichts hält mich zurück, keine Bedenken, kein Gedanke an Konsequenzen und leider auch kein Mitleid. In mir läuft eine Routine ab, tausendfach geübt, für diesen Moment. Ich schließe tatsächlich die Augen, will, dass diese Szene perfekt wird, genau so, wie ich sie mir immer vorgestellt habe. Alle moralischen Bedenken sind weggefegt, mein Herz hämmert im Kriegermodus, das Adrenalin haut meine Wahrnehmung hoch und dämpft mein Mitgefühl, und als der nächste Angreifer in meine Aura eindringt – das Schwingen seiner Faust ist wie ein optisches Brüllen vor meiner Nase, langsam und eindringlich – ergreife ich seinen Arm und lenke ihn in die Klinge seines Kumpanen.
Wieder fließt eine Menge Blut, sprudelt förmlich heraus aus grob verletzten, größeren Venen, sein panischer Schrei lässt die Luft vibrieren und ich ziehe mein Knie hoch, bocke den vierten Jungen auf, direkt zwischen seinen Beinen und höre das trockene Knacken – irgendetwas ist in ihm geplatzt, kaputt gegangen. Er rutscht ab, landet auf dem Boden und mehr als ein ersticktes Keuchen ist von ihm nicht zu hören.
Der mit dem Messer im Arm kniet vor mir, als ich die Augen öffne. Du liegst auf dem Rücken, halb in dem Ziergesträuch, das die Tankstelle vom Nachbargrundstück trennt. Entsetzen spiegelt sich in Deinen Augen. Ich reiche Dir meine blutüberströmte Hand und nach einem kurzen Zögern ergreifst Du sie, kommst hoch, schmiegst Dich an mich.
Du bist so klein, so zierlich. Ich schultere meinen Rucksack, nehme Dich in den Arm, ziehe Dich an mich und wir gehen ins Hotel, lassen diese ganze blutige Angelegenheit hinter uns.
Nun sitzt Du da, auf dem Bett und starrst auf meine Hände. Murmelst dabei diese Worte, wieder und wieder. Ich stehe auf und gehe ins Bad, es klebt und ich muss mich waschen. Als ich wieder im Zimmer bin, hast Du Deine Lederjacke ausgezogen.
Du bist sehr hübsch. Wie alt magst Du sein? Sechzehn, siebzehn? Du bist so zierlich, es ist schwer zu schätzen, vor allem, weil Du viel zu übertrieben geschminkt bist, wie mir jetzt erst auffällt. Ich spreche Dich an, die ersten Worte, die wir wechseln. „Was sagst Du da die ganze Zeit? Was für eine Sprache ist das?“
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Anstelle einer Antwort schälst Du Dich aus Deiner zerrissenen Jeans. Du hast lange, schlanke Beine und einen schwarzen Slip an, sehr apart. Auch den hast Du schnell ausgezogen. Du schaust mich an, beinahe gelangweilt.
„Ficken nur mit Gummi, macht Hundertfünfzig. Mit Blasen und Anal zweihundert.“
Manchmal ist die Welt wie ein Kinofilm. Geradezu surreal.