Mein Vier-Minuten-Mädchen
Welche Bar auf der Welt hat jemals irgendwelche Probleme gelöst? Zum Vergessen und Verdrängen sind sie alle bestens geeignet, keine Frage, aber Lösungen gibt es dort nicht. Trotzdem wollte ich an jenem Abend ausgerechnet in einer Bar über meinen weiteren Lebensweg entscheiden. Oder besser, entscheiden lassen. Denn ohne Hilfe des Schicksals würde ich sang- und klanglos untergehen. Ich besitze einfach nicht den Mut, in einer Bar eine fremde Frau anzusprechen, und wer diesen Mut nicht hat, kann kein Versicherungsvertreter werden - zumindest kein erfolgreicher. Das behauptete unser Dozent, bei dem ich bereits drei Tage im Unterricht verbracht hatte, und der musste es schließlich wissen.
An diesem orakelhaften Ort, tief in meinem Ich, wusste ich, dass er recht hatte. Dort sind meine Wesenzüge verankert, und die sind nun mal introvertiert, nachdenklich, zurückhaltend, romantisch. Nichts davon braucht ein Versicherungsberater. Aber ich würde es versuchen, dieses eine Mal! Denn ich bin auch ein Kämpfer, der nicht einfach so aufgibt. Im Kampf zu fallen ist in Ordnung, auf der Flucht zu stürzen einach nur peinlich.
Ich sah sie, sobald ich am Tresen platz genommen hatte. In einer Gruppe von fünf Frauen, alle zwischen zwanzig und dreißig, viel sie mir sofort auf.
Woran lag das?
Sie war kein Model, nicht besonders groß oder von blendender Schönheit. Sie war ....
Nein, sie hatte die Macht, meinen Blick einzufangen, ihn nicht an ihrer Oberfläche abprallen, sondern sofort tiefer eindringen zu lassen. Dort fand ich die sensible Natürlichkeit einer hellen Seele, dort fand ich überbordende Lebensfreude, aus tiefgrünen Augen blitzend, die eine Aura um sie herum schuf, die vielleicht nur ich sehen konnte. Ein unerreichbares Wesen, eine zarte Elfe aus dem Elbenland. Niemals würde ich sie ansprechen. Niemals!
Sie tanzte mit ihren Freundinnen, kein Typ war bei ihnen. Nach dem rockigen Stück, während dem ich sie, und nur sie, beobachtet hatte, kamen sie an die Bar um Getränke zu bestellen. Für einen kurzen Moment stand sie neben mir. Vom Tanzen aufgeheizt spürte ich ihre Wärme und roch leichten Vanilleduft. Meine Haut war elektrisiert. Ich sah sie an, aus nur wenigen Zentimtern Entfernung, sah die feinen Härchen an ihrem schlanken Hals. Da glitt ihr Blick an mir entlang und sie lächelte mich an. Hatte sie mich wahr genommen?
Wie warm es selbst ohne Bewegung im Innern eines Menschen werden kann, ist faszinierend. Meine Wärme zeichnete sich fraglos als Röte in meinem Gesicht ab, was in der nur schummrig beleuchteten Bar aber kein Problem war. Trotzdem fühlte ich mich irgendwie, na ja, ertappt. Offen gelegt. Bloß gestellt. All das allein durch ihr Lächeln. Der nächste Tanz! Das nächste Stück! Beim Nächsten würde ich mich trauen!
Vier nächste Songs vergingen, ohne das ich mich von der Stelle bewegte. Dabei wurde mir immer heißer, weil ich spürte, dass ich es wagen würde, dass heute Abend kein Weg daran vorbei führte. Ich würde all meinen Mut .......
Sie nickte und lächelte, etwas überrascht, etwas schüchtern. Ja, lass und tanzen. Und schon stand ich ihr gegenüber. Paartanz oder lieber locker getrennt, fragte sie frei heraus. Paartanz natürlich, denn ich musste sie unbedingt berühren.
Ihre Hand in meiner, feingliedrige, warme Finger. Nur noch Zentimeter zwischen uns, keine Welten mehr. Welt war überhaupt nicht mehr, nur noch der Blick in ihre Augen. Ihr Augenaufschlag so langsam wie in Zeitlupe, Wimpern, die sich entfalten, dabei das Licht zerteilen, Tore öffnen - und ich schritt hindurch. Ich spürte die Musik aber hörte sie nicht, begann mich so zu bewegen, wie ich fühlte. Ihre Wärme strömte durch meinen Körper. Meine Fingerkuppen auf dem Streifen nackter Haut zwischen Jeans und Shirt, jener weichen, weiblichen Stelle. Ihr vollkommen nackt dargebotener Körper unter meinen Händen hätte in diesem Augenblick nicht erotischer sein können, hätte mich nicht mehr fesseln können. Waren es ihre Hände oder meine, die uns näher brachten, Distanz zerstörten, Einheit schufen? Wortlos, unter tiefen Blicken schweigend, schwebten wir über den Tanzboden. Ewigkeit erschafft sich selbst durch intensives Erleben, brandmarkt sich dadurch in die Seele, und Ewigkeit spürte ich während dieses Tanzes.
Danach trennten sich unsere Wege. Ich habe dieses Mädchen niemals wieder gesehen, und doch hat sie in vier Minuten mein Leben verändert. Ich habe mich getraut, weil sie sie war, weil ihre reine Präsenz mich verzauberte. Heute kann ich mich nicht einmal an ihren Namen erinnern. Habe ich sie überhaupt danach gefragt? Es spielt keine Rolle. Für alle Zeiten bleibt sie mein Vier-Minuten-Mädchen.
Ach, übrigens: Ich habe den Job noch am Ende der Woche geschmissen. Sich zu trauen bedeutet sehr viel. Es trotzdem sein lassen zu können aber noch viel mehr!