Hilfe, mir fällt nichts mehr ein ...
Oft lese ich diesen Satz in so manchem Autorenforum. Es ist die Selbstentschuldigung der Feiglinge. Ja, tatsächlich Feiglinge. Zumindest in meinen Augen. Die Summe der Interaktion zwischen den Energien in ihren jeweiligen Zuständen im Universum ist unendlich. Wie kann man da nichts mehr finden, was sich lohnt, zu beschreiben? Das Problem solcher Autoren ist oft, dass sie nicht den Mut haben, etwas konsequent zu Ende zu denken. Opfer gesellschaftlicher Domestizierung. Was man nicht tun darf, darf man natürlich auch nicht denken. Was man nicht denkt, kann man auch nicht schreiben. Selbstzensur. Schöne Grüße von Orwell. Das war Punkt 1.
Punkt 2: Die wirklichen guten Geschichten sind eine Eingebung. Man kann sie sich nicht ausdenken. Mann muss darauf warten, bis sie kommen. Was für ein Blödsinn.
Punkt 3: Erstmal muss das Ende bekannt sein. Ich muss wissen, wo ich hinwill. Dann wird geplottet. Jo. Plotten ist wieder etwas für Feiglinge. Sie legen ihren Helden Fesseln an, machen sie zu Sklaven in einem Labyrinth. Irgendwann (wenn Autoren wirklich packende Helden erschaffen) sagen diese: „Ne, da geh ich nicht lang. Ich gehe den anderen Weg.“ Dumm, passt aber nicht zum Plot, den der Autor sich vor einem Jahr ausgedacht hat. Und nun? Weg mit dem Helden. Kastrieren. Halt die Schnauze. Der Held wird zum Sklaven. Er könnte viel mehr, als der Autor ihm zutraut. Die Leser werden es merken. Ich zumindest merke das und klappe an der Stelle das Buch zu.
Also, seien wir mal keine Feiglinge und denken frei. Der Schlüssel dazu ist die Grundregel beim Schreiben. Wir nehmen immer das Besondere, nie das Allgemeine. Statt Baum sagen wir Eiche, statt Eiche Korkeiche und statt Korkeiche vielleicht noch Korkeiche mit halbverdorrtem Stamm und abblätternder Borke.
Meine Hand spielt gerade mit einem Kugelschreiber. Was kann man mit dem machen? Schreiben, jemandem ins Auge stechen oder in die Hand, zerbrechen, unterzeichnen. Was?
Romane, Geschichten, Einkaufszettel, Verträge – halt. Das Letzte ist brauchbar. Was für Verträge?
Kaufverträge. Heiratsverträge. Todesurteile. Angriffsbefehle – stop! Die letzten beiden sind brauchbar. Angriff womit auf wen?
Keine Denkgrenzen. Also Atomwaffen, Giftgas, Panzer, biologische Waffen. Jemand unterzeichnet einen Befehl für einen Angriff mit Atomwaffen. Wie sieht er aus? Ist er alt oder jung? Dick oder dünn? Macht er das, weil er nicht mehr kann mit seiner schönen Frau zu Hause als Ersatzbefriedigung? (Keine Angst vorm Denken auf Abwegen!) Oder macht er das, weil es ihn scharf macht und er dann erst mit seiner Frau kann? Egal, wir finden es heraus.
Was haben wir bis jetzt? Einen Mann, eine Frau, vor der ein Dokument liegt. Mit seiner/ihrer Unterschrift werden Millionen sterben, wenn nicht die ganze Menschheit. Was geht in seinem Kopf vor in diesem Moment? Was muss man erlebt haben, was muss man getan haben, um vor so einem Dokument sitzen zu können? So viel Macht angehäuft zu haben? Da steht eine ganze Lebensgeschichte im Hintergrund. Wie sieht der Raum aus, in dem das geschieht? Ein Hotelzimmer? Das Weiße Haus? Der Kreml? Eine unterirdische Höhle in Afghanistan? Ein außerirdisches Raumschiff?
Aber wir brauchen noch eine überraschende Wende. Die Bomber stehen bereit, alles ist abgesprochen, der Stabschef will das unterschriebene Dokument abholen und der Präsident sagt plötzlich „Nein!“. Was geschieht jetzt? Wird der Stabschef ihn erschießen? Wenn ja, wie kann er das machen? Usw.
Zurück zum Kugelschreiber. „Jemanden ins Auge stechen.“ Warum sollte jemand das tun? Wie viel Hass muss in so jemandem brodeln? Wo kommt dieser Hass her? Was hat er erlebt ...
Ein Heiratsvertrag war auch dabei. Ist sie schön? Warum wollen sie heiraten? Warum brauchen sie dafür einen Vertrag? Wer wird hier übers Ohr gehauen?
Grundproblem ist bei vielen, dass sie ihre Geschichte in den Mittelpunkt stellen und nicht die Menschen. Sie haben eine Geschichte im Kopf und „bauen“ sich die Helden dazu. Dabei sind die Menschen in unseren Geschichten es, die erst die Geschichten machen (auch Tiere als Helden gehen natürlich). Und auch hier legen wir uns selbst viel zu viele Denkverbote auf. Unsere Helden sind Schema F, weil wir glauben, mit anderen als Schema F kann der Leser nicht umgehen.
Wir teilen Romane in Genres ein. In einem Thriller hat deftiger Sex nichts zu suchen. Wenn es ins Schlafzimmer geht, beginnt das nächste Kapitel mit dem Frühstück. Helden onanieren nicht. Nie hat jemand gefragt, ob sie das Papier, mit dem sie sich den Hinter auf der Toilette abwischen, falten oder knüllen. Waschen sie sich hinterher die Hände? Ich weiß, das sind Abwege. Aber wenn man sich nicht auf Abwege verirrt, bringt man sich um die Freude, wieder den richtigen Weg zu finden. Ist wie beim Fortgehen – das Schöne daran ist, dass man sich auf das Zurückkommen freuen kann.
Das alles steckt in einem simplen Kugelschreiber und noch viel mehr. Er ist eine ganze Welt, ein ganzes Universum und es befindet sich in Eurem Kopf. Ihr müsst es nur entdecken. Stellt niemals die Frage nach gut oder schlecht, verboten oder erlaubt. Ihr seid die Chronisten, nicht die Richter. Es ist euer Gedankenpalast und ihr legt die Regeln darin fest. Stellt euch Fragen und habt keine Angst vor den Antworten. Eine Antwort ergibt zwei neue Fragen und in kürzester Zeit habt ihr ein riesiges Netz von Wegen, auf denen ihr denken könnt und auf denen noch nie ein Mensch vor euch gegangen ist. Ihr braucht nur den Mut dazu, sie auch zu beschreiten.
Macht den Fernseher aus, schlagt die Zeitung zu. Sie erweitern nicht euren Horizont, sie verbarrikadieren ihn. Vor allem aber das Handy. Ein gesenkter Kopf erstickt jede Phantasie.
Und jetzt schreibt ...