Schein und Sein des Lebens Variante 2
Für die Leser, denen die andere Geschichte zu kurz war Schein und Sein des Lebens
Langsam, mit einem sinnlichen Hüftschwung, ging eine junge, hübsche Frau in das Shoppingcenter. Schick sah sie aus und Männerblicke gingen hinterher. Schwarz glänzende Haare, dunkelbraune Mandelaugen und ein wunderschöner, roter Kussmund, leicht zu einen Lächeln verzogen, das besagte: „Mir gehört die Welt“.
Würde auch nur einer dieser gaffenden Männer erraten, welch seelische Abgründe, was für eine tiefgründige Geschichte sich hinter ihr verbirgt?
Vor 21 Jahren
Schutt und Dreck war zu sehen, Geschrei eines Kindes war zu hören. Die Schwüle bei 34 Grad im Schatten war nicht auszuhalten. Um die Ecke in den Mülltonnen wühlten Straßenköter nach Fressen. Fressen oder gefressen werden, so lautet die Devise. Auch für ein Mädchen, das noch nicht mal ein Jahr alt war. Sie hatte große, schöne und dunkle Augen. Im Augenblick zerflossen diese in tausend Tränenbächen. Die Mutter war fort. Der Vater saß in der Ecke und soff, ohne sich um die Kleine zu kümmern. Das ist Frauensache. Seine Mutter war genervt, sie zeterte und keifte: „Was sollen wir denn mit diesem unnützen Kind? Jetzt frisst es uns die Haare vom Kopf und später bringt es auch nur Ärger.“
Wütend zog sie an den Haaren des Mädchens, aber es weinte nur noch mehr. Doch Trost oder etwas zu essen gab es nicht. Dass die Mutter arbeiten war und für das Mädchen Geld schickte, interessierte nicht. Der Mann dachte nach. Nun, wenn es fort wäre, müsste er das Geld nicht für unnützes Zeug ausgeben, dann bliebe wohl mehr übrig für seinen Wein. Grinsend raunzte er die Alte an: „Dann werde die doch los.“
Verkaufen wäre die Lösung. Würde Geld bringen und das Problem wäre gelöst.
Die Dame im billigen roten Anzug und mit rot bemaltem Mund hatte ein falsches, abschätzendes Lächeln. Ihr Bick fiel auf das Baby. Hübsch ist es, mit genug Pflege würde es eine Schönheit werden. Im Hinterkopf berechnete sie schon, was lukrativer wäre, der Verkauf als Adoptivkind oder später auf dem Heiratsmarkt…
21 Jahre später sitzt eben dieses Mädchen selbstbewusst und wunderschön im weit entfernten Deutschland und trinkt einen heißen Kakao und beobachtet die Menschen um sie herum. Wer ahnt, was für ein Schicksal sie hinter sich hatte und wie sie den Klauen der Menschenhändlern entkam? Das Leben birgt viele Geheimnisse. Viele bleiben im Verborgenen, der Schein eines perfekten Lebens kann überaus blendend und wunderschön sein.
Die Uhr ging tick tack, tick tack. Es hörte einfach nicht auf zu ticken. Ernste Kinderaugen schauten auf den Zeiger der alten Uhr. Die Welt dreht sich, die Zeit steht nicht still, sie besiegelt das Schicksal der Menschen in genau diesem Augenblick. Das kleine Mädchen ist süß, es hat Potenzial, eine Schönheit zu werden, raunen die Leute. Ihre Mutter hält sich für etwas Besseres, sagen die Leute. Wie konnte man eine Tochter, man höre „eine Tochter“ nur kluges Juwel nennen? Nun ist die Mutter weg. Das Mädchen allein gelassen unter Neidern und Ignoranten. Ist Geld wichtiger als Liebe? Für das Mädchen nicht. Ihre Augen schauten traurig, sie war allein. Es gab niemanden der sie tröstete, der ihr Halt gab. Sie kannte die Leute nicht. Die Welt um sie war trist und kahl. Die keifende alte Frau hatte sie hierher gebracht und hier gelassen. Nun, auch hier kümmerte sich keiner um sie. Das Mädchen kauerte sich im Bett zusammen und kuschelte sich an ein Handtuch, in der Hoffnung auf ein kleines Stück Geborgenheit. Hin und wieder hörte sie Stimmen, doch gingen sie vorbei. Manchmal hörte sie Schritte in der Nähe, doch sie entfernten sich. Das Mädchen hatte keine Tränen mehr. Es kamen Kinder hierher und wurden weiterverkauft. Nicht ganz so hübsche Mädchen, die schon älter waren, wurden von den Bordellen angeworben, billiges Frischfleisch für die Jungfrauenversteigerung. Doch sie war noch da. Ebenholzfarbene Mandelaugen, rote Lippen, dichtes schwarzes Haar. Wollte sie denn gar niemand haben?
Eine Woche verging. Ein Tumult war draußen zu hören, der Lärm kam näher. Plötzlich ging die Tür zum Raum auf, die keifende Alte war wieder da, doch wurde sie von einer anderen Frau an den Haaren in den Raum gezerrt und schrie fürchterlich. Das Mädchen kauerte sich in eine Ecke des Bettes und wartete ab. Sie wurde von der anderen Frau hochgehoben. Sie ähnelte ihrer Mutter. Die Frau lächelte, seit langem ein warmes, gütiges Lächeln. Die Frau im billigen, roten Anzug kniff die rot bemalten Lippen zusammen und schaute verbissen. Doch alles vergeblich. Großmutter nahm das kluge Juwel nach Hause. Es gab auf der Welt doch jemand, der sie haben wollte. Glücklich schlief das Mädchen in den Armen ihrer Oma ein.