Der Profi
"Niemand ahnt es, wie der Würfel fällt. Doch nichts geschieht durch Zufall auf der Welt."Juliane Werding
Der Tag brach an. Diffuses Grau sickerte ins Zimmer, gab den Möbeln Kontur. Christian setzte sich auf und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Joanna hatte die Augen offen, vielleicht hatte sie ihn schon eine Weile beobachtet. Ein verschlafenes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht und er sagte: „Die Erde ist voller Wunder und Geheimnisse, die entdeckt oder bestaunt werden wollen. Das hier ist ein Wunder. Dass du neben mir liegst. Milliarden Menschen auf der Erde und dieses Wunder könnte jeden Tag eben so oft geschehen. Aber wir sehen es nicht.“
„Du glaubst noch an Wunder. Etwa auch an Gott?“
„Ich komme ganz gut ohne ihn klar. Nach ihm schreien die Leute immer, wenn etwas nicht so funktioniert, wie sie es wollen. So lang es ihnen gut geht, scheren sie sich einen Dreck um ihn. Erst, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht, fällt ihnen ein, dass sie an ihn glauben und er ihnen jetzt doch bitteschön helfen müsste. Und du?“
„Ich weiß, dass es ihn gibt.“
Prompt war ihre Sprödigkeit wieder da. Die Frau aus Milchglas, so schön wie undurchsichtig. Er konnte nicht aus seiner Haut heraus. Besser, aus seinem Kopf und der musste denken, immer, manchmal verirrte er sich dabei auf Abwege und sie schien sie nicht tolerieren zu wollen. Dann sollte sie ihren Gott mal aus dem Urlaub zurückholen. Die Welt sah eher nach Teufels Beitrag denn nach Gottes Werk aus. Alles, was Menschen noch einfiel, waren Waffen, Kriege und dämliche Romane über die Liebe in einer Welt nach einem Atomschlag. Physik, Mathematik, Biologie - alles wurde zum Schlechten benutzt und Menschlichkeit fand schlicht nicht mehr statt. Es war zum Kotzen. Die Menschheit war so degeneriert, dass sogar Zwerge lange Schatten warfen und als Leuchten der Gesellschaft galten, die selbst die dekadenten Römer nicht mit ihren wohlstandsverfetteten Ärschen angesehen hätten. Was so ziemlich alles über die gegenwärtige Zeit und Gesellschaft aussagte. Wurde Zeit, dass ihr Gott wieder an die Arbeit ging.
Er hätte nicht so viel Bier trinken sollen. Bereits gestern Abend hatte sich ein leichtes Hämmern in seinem Hinterkopf gemeldet und war die ganze Nacht nicht verschwunden. Oder es war der Gedanke, der in seinem Kopf herumgeisterte. Hätte er nicht gewusst, welche der sieben altertümlichen Karten an seiner Wand die von Piri Reis war, hätte er sie unter den anderen nicht erkannt und das, obwohl er sie fast täglich ansah. Joanna hatte das offenbar mit einem einzigen Blick gekonnt und die Frage war, wieso. Nach dem Urlaub in Istanbul hatte er begonnen, sich für die Antarktis zu interessieren und sich Bücher darüber besorgt. Otto Nordenskjölds „Antarctic - zwei Jahre in Schnee und Eis am Südpol“ stand in seinem Regal und weder in diesem noch in den anderen Büchern hier war eine so gute Abbildung der Karte von Piri Reis zu finden, dass jemand danach die an seiner Wand hätte identifizieren können. Sie hatte ihn angelogen. Warum? Er massierte sich die Schläfen.
„Du solltest eine Tablette nehmen.“ Sie rückte ein wenig von ihm ab und sah ihm ins Gesicht.
„Ich mag keine Chemie.“
Sie spielte einen Moment mit ihrem Zopf, als überlegte sie, dann griff sie nach dem Anhänger ihrer Halskette; öffnete ihn und ließ daraus eine kleine schwarze Pille auf ihre Handfläche fallen. Sie beugte sich zu ihm, ihre Zunge kitzelte sein Ohr und sie flüsterte hinein: „Warum müssen Männer immer an der falschen Stelle den Helden geben? Ein homöopathisches Mittel, reine Kräuter. Es dauert ein bisschen, bis es wirkt, aber dann geht es dir besser.“
Tausend kleine Hämmer pochten jetzt von innen gegen seinen Schädel. Er griff nach der Tablette und schluckte sie ohne Zögern hinunter. Sie lächelte, als wäre er ein störrisches Kind, bei dem sie ihren Willen durchgesetzt hatte und er ließ sich zu ihr nach hinten sinken. Mit kreisenden Bewegungen massierte sie ihm die Schläfen, aber es half nicht wirklich. Eher wurde es noch schlimmer und jetzt fühlte es sich an, als würde flüssiges Feuer durch seine Adern rinnen. Er biss die Zähne zusammen, um nicht aufzustöhnen.
„Es geht gleich vorbei“, flüsterte sie, aber es war nicht nur der physische Schmerz, der ihn quälte. Mehr noch tat die Lüge weh, die seit gestern Abend zwischen ihnen stand. Sanft drückte er ihre Hände beiseite und stand auf. „Ich gehe ein Glas Wasser trinken.“
In der Küche stellte sein Vater gerade eine dampfende Tasse auf ein kleines Tablett. „Guten Morgen. Du bist früh auf.“
„Will nur einen Schluck Wasser, dann geh ich wieder auf die Matte.“
„Warte einen Moment. Ich mache Euch Kaffee und etwas zu essen. Lasst Euch ruhig Zeit mit dem Aufstehen. Den Einkauf für das Wochenende könnt ihr immer noch erledigen. Oder du gehst am besten nachher selbst, dann kann Joanna ein bisschen Ordnung machen in der Zeit. Übrigens habe ich dir noch etwas mitgebracht.“
Mit dem Zeigefinger tippte er auf ein abgegriffenes Notizbuch mit rotem Einband neben der Tasse. „Das ist das Expeditionstagebuch aus der Antarktis von Thore Wejndahl. Der Name wird dir nichts sagen, aber sehr interessant. Ein Original, kein Nachdruck. Wird dir bestimmt gefallen.“
„Hm, mal sehen. Ich dachte, das mit dem Einkauf hätten du und Joanna gestern erledigt.“
„Aber nein. Wir waren den ganzen Tag hier. Joanna wollte da sein, wenn du nach Hause kommst.“
Christian lehnte sich an den Türrahmen. Er brauchte eine Stütze und es dauerte einen Moment, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte. Sein Vater stellte den Wasserkocher zur Seite, griff nach einem Löffel und rührte in der Tasse.
„Weißt du, sie hat sich von ihrem Mann getrennt und es war ihre Idee, dich zu besuchen. Sie meinte, wir müssten mal ausspannen. Wir arbeiten seit ein paar Jahren zusammen und unsere Beziehung ist ziemlich eng, fast schon familiär. Obwohl man es in meinem Beruf eigentlich nicht sollte, redet man dann manchmal über das, was man am meisten liebt und so habe ich vielleicht zu viel über dich erzählt. Sie wollte dich unbedingt kennenlernen. Ich habe es dir noch nicht gesagt, aber wir wollen ganz neu anfangen. Alles vergessen, was war. Einen Schlussstrich ziehen und ein neues Leben beginnen. Ein Einfaches. Euer Kaffee ist fertig.“
„Zu dünn.“
„Magst du ihn stärker?“
„Nicht der Kaffee. Erkläre nie etwas, nach dem du nicht gefragt wurdest – hast du deine eigenen Lektionen vergessen, die du mir erteilt hast? Drei Jahre lang lässt du mich nicht wissen, ob du überhaupt noch lebst; stehst dann plötzlich vor meiner Tür, sagst nicht, warum und wie lange; erklärst gar nichts und mehr als ein simples ‚guten Tag‘ kommt dir nicht über die Lippen. Eine Woche später erzählst du mir, ohne dass ich dich danach gefragt habe, warum ihr hier seid. Verdammt, es ist mir egal, ob du ein Spion bist oder wie sich der Mist nennt, den du machst und wen du dabei übers Ohr haust oder fernsteuerst. Aber musst du das auch mit mir versuchen? Selbst Joanna hast du schon infiziert damit. Das hier ist dein Zuhause, genau wie meins. Immer noch. Mach es nicht ganz kaputt durch eine neue Lüge.“
„Ich habe immer gewusst, wie es dir geht.“
„Aber ich nichts von dir!“
Am liebsten hätte Christian geschrien. Aber dann wäre ihm wahrscheinlich der Kopf geplatzt. Die Schmerzen waren kaum noch auszuhalten. Er atmete tief durch. „Du hast es nie begriffen, oder? Ich komme mit dem Leben alleine klar. So lange ich weiß, dass es meinem Vater gut geht, aber nicht einmal diese Nachricht bin ich ihm wert!“
„Ich habe nie …“
Sein Vater senkte den Kopf, blickte auf das Tablett und griff nach dem roten Notizbuch, als wäre es ein Rettungsanker. „Was auch immer du über mich denkst ….“
„… würde dir den Tag versauen!“
Christian drehte sich um und konnte sich gerade noch an der Tür festhalten, sonst wäre er gestürzt. Er wankte ins Badezimmer, warf sich Hände voll kalten Wassers ins Gesicht und es schien tatsächlich zu helfen. Er wiederholte die Prozedur so lange, bis er wieder einigermaßen klar denken konnte. Was war nur mit seinem Vater los? Früher hätte eine solche Diskussion wie die eben einen ganz anderen Verlauf genommen. Da war der ein Mann gewesen, an den man sich anlehnen konnte; hatte nie Fragen beantwortet und seine Aussagen waren hart und kompromisslos gewesen. Was hatte ihn so verändert?
Christian machte ein Handtuch nass, legte es sich in den Nacken und ging in sein Zimmer.
„Ich muss mal an die frische Luft“, sagte er zu Joanna.
„Warum? Du hast Kopfschmerzen. Leg dich wieder ins Bett zu mir.“
Er stieg in seine Jeans und zog den Reißverschluss zu. Als er sich vorbeugte, um in seine Sneaker zu schlüpfen, explodierten gelbe Sonnen hinter seinen Augen und fast wäre er auf den Boden geknallt; gerade noch konnte er sich an seinem Bücherregal festhalten. Es dauerte, bis er wieder einigermaßen geradeaus sprechen konnte. „Ich bin mein ganzes Leben lang mit den Lügen meines Vaters aufgewachsen. Hier in dieser Wohnung hat er sie mir erzählt. Vielleicht liegt es ja daran. Sie sickern aus den Wänden und eh man es sich versieht, ist man vergiftet. Du bist auch schon krank davon. Ich brauche klaren Himmel über mir. In mir.“
„Er hat dir gesagt, dass ich nicht mit ihm Einkaufen war. Dir geht es nicht gut. Komm zu mir.“
Viel Zärtlichkeit für ihn schwang in ihrem leisen Lachen und auch ein bisschen Lockung. „Ich bin eine Frau. Ich konnte dir gestern doch noch nicht sagen, dass ich die ganzen Tage nur auf dich gewartet habe; dass ich mich nur für dich schön gemacht habe.“
„Dann hättest du wenigstens erzählen sollen, warum. In einem hat mein Erzeuger nämlich nicht gelogen: Nichts in der Welt geschieht, ohne dass dahinter ein Plan steht. Nicht im Großen und nicht im Kleinen. Dass man ihn nicht sieht, heißt noch lange nicht, dass er nicht existiert. Für deinen fehlen mir noch ein paar Puzzlesteine.“
„Du kränkst mich. Es gibt für alles eine Erklärung. Diese braucht Zeit.“
„Sollst du haben. Ich gehe nicht dreißig Jahre bis zum Südpol, obwohl ich es für dich wahrscheinlich tun würde. Nur ein paar Minuten eine Runde um den Block, bis ich wieder einen klaren Kopf habe. Dann reden wir. Ist der Anfang von allem. Hat mir gestern eine schöne Frau gesagt, von der ich gerne mehr möchte als nur diese eine Nacht. Mindestens aber die Wahrheit, auch wenn sie weh tut.“
Sie schlug die Decke zurück, raffte seinen Bademantel mit beiden Händen über ihrer Brust zusammen und stellte sich vor ihn. „Ich werde dich immer lieben. Das ist die Wahrheit.“
Genau das war sein Problem - er sie auch. Vielleicht hatte sie recht und die Kälte, die sie zeigte, war nur Selbstschutz. Sie war kein junges Mädchen mehr und es konnte gut sein, dass es in ihrem Leben etwas gab, das sie zu einer Frau gemacht hatte, die sich nicht mehr so einfach öffnen konnte. Unter seinem Bademantel verbarg sich der vollkommenste Frauenkörper, den er je gesehen hatte. Wie auch ihr Gesicht, schmal und zart, mit hochangesetzten Wangenknochen, großen, leicht schräggestellten Augen und einer hohen Stirn, hinter der viel Platz zum Denken war. Sie war unglaublich schön, aber das war nicht von Bedeutung. Nicht jetzt und nicht für seine Antwort. Der winzige weiße Fleck in ihrer linken Iris, ein Pigmentfehler, hatte Bedeutung, wie auch der Ehering an ihrer Hand. Sie hatte ihn nicht abgenommen und trotzdem mit ihm geschlafen. Sie hatte Fehler und es war gut so. Mit einer perfekten Frau würde er nicht sein Leben verbringen wollen. Mit ihr schon.
Sie legte den Kopf an seine Brust, nur ganz leicht. „Was wäre, wenn dich die schöne Frau beim Wort nimmt?“
„Womit?“
„Dreißig Jahre bis zum Südpol?“
Er musste nicht über die Antwort nachdenken, sie kam von alleine. „Ganz sicher.“
Sie schob ihn von sich. „Ich kann dich nicht aufhalten. Niemand kann das jetzt mehr. Geh, damit du wiederkommen kannst. Ich werde auf dich warten, wie lange es auch dauern mag.“
Es klang nach Schnulze. Aber auch wie ein Abschied und etwas in ihm zog sich zusammen. Mit Mühe vermied er eine Kollision mit dem Türrahmen beim Hinausgehen, so sehr schwankte er. Sein Vater stand in der Küchentür. Er war totenbleich im Gesicht und sein Lächeln wirkte verkrampft. Ihm fehlte wohl tatsächlich die Übung.
„Bring bitte gleich ein frisches Brot mit und Brötchen für Sonntag“, sagte er. „Wird zwar voll sein und ein bisschen länger dauern, aber wir laufen nicht weg.“
Vielleicht war es ein Friedensangebot, erwartet hatte Christian allerdings mindestens eine Entschuldigung. Aber man bekommt nicht immer das, was man will. Ohne Gruß ging er an seinem Vater vorbei.
*
Ryland Mikkelsen presste eine Hand auf sein rechtes Ohr mit dem kleinen Lautsprecher, mit der anderen zündete er sich eine Zigarette an und angewidert verzog Ängström auf dem Rücksitz des Mercedes das Gesicht.
„Übermüdet oder nervös?“
Nichts davon traf auf den ehemaligen Kriminalisten zu. Er hörte konzentriert dem zu, was in der Wohnung der Oldenburgs geschah, und Ängström störte ihn dabei. Dass der persönlich nach Schwerin gekommen war, stank ihm ohnehin. Der war das Geld und hatte in einem Feldeinsatz nichts zu suchen; weder besaß er die Erfahrung dafür, noch machte es irgendeinen Sinn, dass er sich einem solchen Risiko aussetzte. Sein Auftrag war nichts, was Mikkelsen und Wielander nicht schon getan hatten - Umgebung aufklären; Wanzen installieren; am helllichten Tag hineingehen; Pistole an den Kopf halten und die Droge injizieren. Was übrig blieb, war ein schauriges Familiendrama - der Vater war ausgerastet, weil der Sohn sich an die Geliebte herangemacht und sie nichts gegen junges Fleisch einzuwenden gehabt hatte. Viel Drama, viel tot und Ende der Geschichte.
Christian war gerade in die Küche gekommen und konzentriert hörte Mikkelsen dem Gespräch zwischen Vater und Sohn zu. Sie würden immer zu wenig über die Leute wissen, mit denen sie es zu tun hatten, das gehörte zum Job, aber Sven Oldenburg alias Granerud war sogar für Mikkelsen ein Extremfall. Der Mann war ein Geist für ihn; das, was sie über ihn herausgefunden hatten, passte auf zehn A4-Seiten und lag in einem dünnen Hefter im Handschuhfach. Immer wieder hatte Mikkelsen in der Nacht darin herumgeblättert, während er die Wohnung der Oldenburgs observiert hatte, obwohl er alles, was sie zusammengetragen hatten, längst im Kopf hatte.
Er reichte den Ohrhörer Olaf Wielander auf dem Beifahrersitz und ließ den Wagen an.
„Was soll das?“, raunzte Ängström von hinten.
„Der junge Oldenburg kommt heraus. Er geht zum Bäcker und muss an uns vorbei.“
„Na und? Das spielt keine Rolle mehr.“
„Alles spielt eine Rolle.“
Mikkelsen fädelte den Mercedes in den Verkehr in der Fritz-Reuter-Straße, fuhr knapp zweihundert Meter, dann parkte er wieder ein. Er warf die Kippe aus dem Fenster, schloss es und spulte das Band auf dem kleinen Kassettenrecorder zurück. Als er an der Stelle war, an der Christian in die Küche kam, regelte er die Lautstärke auf Maximum, sagte „Zuhören“, und startete die Wiedergabe.
Ängström verzog süffisant die Lippen, als das Band zu Ende war. „Junge Liebe. Mir blutet das Herz. Jetzt hören Sie gefälligst weiter zu, was da noch gesagt wird, wo der Sohn weg ist.“
Wielander stieß einen leisen Pfiff aus und grinste bitterböse. „Verdammtes Arschloch.“
„Was erlauben Sie sich?“ Ängström wurde puterrot im Gesicht.
„Nicht Sie. Oldenburg. Oder wir. Je nachdem, auf welcher Seite man steht.“
Mikkelsen fingerte wieder nach einer Zigarette in seiner Brusttasche, ließ dann die Hand sinken und schlug stattdessen auf das Lenkrad. „Er hat uns gelinkt.“
Wielander sagte knapp: „Sie wollen den Sohn aus dem Haus haben.“
Ängström beugte sich nach vorn, aber Mikkelsen ignorierte ihn und sagte zu Wielander: „Knarrende Türen, nicht geölte Scharniere.“
„Morsche Stufen, leeres Haus“, gab der zurück. „Das Zeitfenster, das er uns gegeben hat, war groß genug für die Wanzen, aber nicht mehr, um Kameras zu verstecken. Jedes Wort, das wir gehört haben, war geplant. Er hat einen lausigen Dialogschreiber, übrigens.“
„Keine gefälschten Pässe bei der Ausreise.“
„Und der Junge ist aus dem Haus und hat keinen blassen Schimmer.“
„Aufhören!“, raunzte Ängström. „Ich weiß nicht, was sie hier spielen, aber es ist völlig unwichtig. Der Mann ist das Ziel, er ist da, wo wir ihn haben wollen; also gehen sie rein und machen Sie, wofür ich sie bezahle.“
Er konnte genauso hart blicken wie sein Pitbull Mikkelsen und lieferte sich mit ihm ein Blickduell im Rückspiegel. Schließlich war es Mikklelsen, der zur Seite blickte. Jetzt holte er doch eine Zigarette hervor, ließ ein Zippo aufflammen und dachte nach. Der Mann hat über vierzehn Jahre lang keinen Fehler gemacht, nicht einen einzigen. Vierzehn Jahre unentdeckt, direkt unter unseren Augen. Welchen Auftrag er hatte, noch warum er geblieben ist, obwohl es die Auslandsaufklärung der Staatssicherheit nicht mehr gibt, wissen wir nicht. Als sich herauskristallisiert, dass Joannas Medikament in Wirklichkeit eine fürchterliche Waffe ist, wird er aktiv, zieht Joanna auf seine Seite, vernichtet ihr Labor mit den Forschungsergebnissen und lässt sie untertauchen. Wobei sich die Frage stellt, warum er sie nicht getötet hat. Er schafft es auch noch, das geheime Labor zu finden, in dem Ängström mit den Daten, die er von Joanna schon vorher kopiert hatte, weiterforschen lässt. Auch das Labor zerstört Oldenburg und killt alle, die dort gearbeitet haben. Keine Spuren, die darauf hindeuten, dass er selbst irgendetwas kopiert oder gestohlen hat oder dass er jemanden informiert hat. Was ist die einzig logische Schlussfolgerung?
Wütend sog er am Filter und sein quadratisches Gesicht wurde so hart, das es wie ein Felsblock aussah. Er drehte sich halb zu Ängström herum. „Da irren Sie sich. Wir sind es, die da sind, wo Oldenburg uns haben will.“
Wielander feixte von der Seite: „Er hat uns quasi eine Einladung geschickt, dass wir den Herrn Ängström doch umgehend liefern möchten, damit er seinen Job zu Ende bringen kann.“
„Interessant.“ Ängström nahm das Ziertaschentuch aus seiner Brusttasche, fuhr sich kurz damit über die Lippen und lehnte sich zurück.
Wieder flog die Kippe aus dem Fenster und Mikkelsen setzte seinen Gedankengang laut fort: „Er traut keinem, weil er weiß, dass das, was Joanna gefunden hat, jeden zum Mörder machen kann. Jeden Privatmann, jede Regierung. Ihn interessiert nicht, wie das Teufelszeug produziert wird, nur, wie er es vernichten kann. Er bringt alle um, deshalb auch der Anschlag auf Sie vor zwei Wochen, weil nur noch Sie wissen, wie das Zeug hergestellt wird. Wahrscheinlich zumindest. Er erwischt Sie nicht, gerät scheinbar in Panik und flieht. Ebenso scheinbar hat er keine Zeit mehr, sich um gefälschte Pässe zu kümmern. Deshalb kommen wir ihm auf die Spur. Das haben wir geglaubt bis eben und damit lagen wir falsch.“
Ängström hatte konzentriert zugehört. Jetzt schüttelte er den Kopf. „Was hat das mit dem Gespräch zwischen Vater und Sohn zu tun?“
Wielander schaltete sich ein. „Es war ein Fake. Er weiß, dass wir ihn abhören. Kein Profi rennt zu seiner Familie, wenn er sich in Gefahr glaubt. Damit hat er uns in Sicherheit wiegen wollen. Er weiß, wie wir arbeiten und dass Sie so eitel und rachsüchtig sind, dass Sie dabei sein wollen, wenn er stirbt. Immerhin hat er Sie vierzehn Jahre lang analysiert. Er schickt seinen Sohn aus dem Haus und gibt uns damit ein Zeitfenster. Mit Absicht? Wir können es aber nicht nutzen, weil wir nicht ungehört ins Haus kommen wegen der knarrenden Türen und Dielenbretter. Stehen wir trotzdem vor seiner Tür, läuft es auf eine Schießerei hinaus und er weiß, dass wir genau das nicht wollen, sonst hätten wir auch mit einem Rollkommando anrücken oder ihn auf der Straße abknallen können. Oder er ist irgendwo im Keller und wartet, bis er Sie vor den Lauf bekommt. Vielleicht hat er seinem Sohn auch einen Zettel geschrieben und der verschwindet jetzt schon, statt zum Bäcker zu gehen und zurückzukommen.“
„Nein. Tut er nicht.“ Ängström lächelte böse.
Mikkelsen schaltete sich ein. „Natürlich kann es auch ganz anders sein. Vielleicht spielt auch Joanna eine Rolle. Ihrer Hyperintelligenz traue ich so einiges zu. Aber eines steht fest - sie wissen, dass wir hier sind. Damit sind wir aufgeflogen. Zurück nach Oslo. Oldenburg wird nicht reden und dahin wird er sich auch nicht mehr trauen. Wir schieben das auf.“
Ängström beugte sich vor. „Nein. Da vorne kommt sein Balg. Fahren Sie los und halten Sie so, dass er an uns vorbei muss.“
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