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Brotlose Kunst

Brotlose Kunst
Brotlose Kunst

Schreiben. An der Uni hat man uns beigebracht, dass Geschichte nicht gemacht wird, Geschichte wird geschrieben. Mit dem Schreiben von Geschichten ist es ähnlich, nur um einiges schwieriger. Komplizierter. Verfänglicher. Geschrieben ist schnell. Aber gelesen…
Die dürfen nicht merken, dass man sich das Ganze nur ausgedacht hat, denn dann fangen sie zumeist an zu mosern, und nörgeln nur daran herum, weil man sich ja gleich hätte was Anderes, was Besseres, was Schöneres ausdenken können. Denkt man sich nichts aus, und schreibt hin wie es war, wie es ist, und wie es bleiben wird: Ein ewiges Dilemma.

Bekommt man es irgendwie so gedreht, das es sich liest als wäre es tatsächlich erlebt - irgendwann und irgendwo, dann glauben sie einem und sind's zufrieden. Für die Wahrheit bezahlt man gern, auch wenn's was kostet. Wahrheit, oder der Glaube daran sind beinah essentiell für eine gut funktionierende Geschichte. Man muss nur herausfinden, welche der vielen Wahrheiten gerade angesagt ist, um sie verkaufen zu können. Das ist der schwierigste Teil am Schreiben, DIE Wahrheit.

Hat man für sich eine schöne Wahrheit gefunden…
Wehe man räumt ein, sich diese nur ausgedacht zu haben. Sie werden auf die Strasse gehen, und ihr Geld zurück verlangen. Die Meute will lesen wie's sein könnte - das Leben. Ist es aber nicht.

Vor ein paar Tagen war ich mal wieder mit dem Zug unterwegs; erster Waggon, gleich hinter der Lok. Fahrradwaggon. Reisebox für Leute mit Kinderwagen. Parkstation für Rollifahrer. Rechts eine Reihe Klappsitze. Links eine Reihe Klappsitze. Da fühlt man sich, als säße man im Wartezimmer irgendeines Arztes. Sicherlich könnte man den Blicken seiner Gegenüber ausweichen. Tut man auch. Auf den Boden starren zum Beispiel, schafft für einige Zeit Linderung. Oder man guckt aus dem Fenster, an das man mit dem Rücken lehnt. Dafür müsste man sich allerdings verrenken. Man könnte sich auch hinter einem Buch verstecken, oder hinter einer eilig am Bahnhofskiosk erworbenen Zeitschrift. Und die Ohren?

Eine ganze Weile ging das schon so, dass sie - eine Art sprechender Blindenhund, jeden Vorgang, jedes Rein und Raus an den Haltestellen, das Treiben auf den Bahnsteigen, das der Reisenden im Waggon, die scheinbar vorbei fliegenden Landschaften, den Himmel und noch eine Million anderer Dinge, dem Blinden an ihrer Seite peinlichst genau kommentierte. Der blinde Mann fühlte sich sichtlich gut unterhalten, und verlangte nach immer weiteren Details, aus seiner Umgebung. Ich nicht. Im Gegensatz zu meinem blinden Gegenüber hatte ich ihren Bullshit über. Was übrigens auch sein Gutes hatte. Ich begann mir ernsthaft die Frage zu stellen, was ich diesem Blinden erzählen würde.

Die Wahrheit vielleicht? Nur welche?

Dass eine Frau, im besten Studentenalter, so tierlieb ist, dass sie für ihr geliebtes Zwergkaninchen, dass, in einer Transportbox hockend und dort irgendwelcher Dinge harrend, einen der mehr als begehrten Sitzplätze, mit Blick aus dem verdreckten Waggonfenster, ergattert hat? Oder würde ich ihm - selbstverständlich nicht im Flüsterton - sagen, dass diese junge Frau komplett blemblem ist? Dumm. Und nicht nur sie, sondern alle anderen sowieso, die anstatt sitzend zu reisen, lieber stehen, vor lauter Ehrfurcht der zur Schau gestellten Tierliebe, in dieser verrohten Zeit? Ich weiß es nicht.


Oder was ist mit der Altherrenriege, der Troika an Geist und Körper verfetteten Freizeitradler, am Eingang stehend, die jeden Aus- und Zusteigenden mit einem denkbar unpassenden Spruch auf seine weitere Reise schickten? Hätte ich sie als lustige, jung gebliebene Radfahrer beschrieben, die in ihren bunten Trikots steckend, voller Ungeduld sind, endlich weiterradeln zu können? Wahrscheinlich nicht. Die Drei sahen alles andere als sportlich aus. Leute, die sich als Radfahrer verkleiden, sich in hautenges kanarienvogelbuntes Plastik zwängen, und als ob es nicht schon der Lüge genug sei, obendrein vorgeben, ihre hohle Birne mit einem windschnittigen Helm schützen zu müssen, sind mir eh suspekt.
Geschichte wird nicht gemacht, sie wird geschrieben. Im Fall der Frau, die den Blinden begleitete, erzählt.

Was soll einer wie ich machen, der lauter Sehende um sich hat, die sich je nach Bedarf blind stellen? Die dürfen nicht merken, das man sich das Ganze nur ausgedacht hat, denn dann fangen sie zumeist an zu mosern, und nörgeln nur daran herum, weil man sich ja hätte gleich was Anderes, was Besseres, was Schöneres ausdenken können. Denkt man sich nichts aus, und schreibt hin wie es war, wie es ist, und wie es bleiben wird: Ein ewiges Dilemma.

© Max Escher
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