Den Profi hatten wir. Zeit für den Killer. (überarbeitet)
James C. Winneston killte kalten Herzens und mit chirurgischer Präzision siebenundneunzig Iraker; mit einem Scharfschützengewehr und in einer schicken Kampfuniform. Abdullah Mansur erschoss zwölf Amerikaner; die alte Kalaschnikow, eine verschlissene Tuchhose und ein ausgebleichtes Baumwollhemd waren sein einziger Besitz. Winneston wurde ausgezeichnet, Abdullah gejagt und, als man ihn endlich zu fassen bekam, hingerichtet. Kleider machen Leute.Der Mann auf dem Bett in dem heruntergekommenen Hotelzimmer in der Altstadt von Malaga hatte immer darauf geachtet, dass in seinem Schrank die richtige Uniform hing, auch wenn er sie so gut wie nie getragen hatte. Er hatte ein schmales Gesicht mit stahlgrauen, weit auseinanderliegenden Augen, einer nach unten gekrümmten Nase, war groß und schlank und eher sehnig als kräftig.
Sein Name war Borg. Nur Borg. Sein Vater hatte ihm auch einen Vornamen gegeben, doch den mochte Borg nicht. Er mochte gar nichts, was ihn an den Mann erinnerte, der montags bis freitags immer mitten in der Nacht hatte aufstehen müssen, um im Hafen bei Blohm & Voss zu schuften. Jeden Samstagabend hatte der seine Frau bestiegen oder seinen Jungen durchgeprügelt - je nachdem, ob der Hamburger Sportverein gewonnen oder verloren hatte. Manchmal hatte er es auch umgekehrt gemacht. Sonntags war er dann in die Kirche gegangen und hatte Gott um Vergebung für seine Samstagssünden angebettelt.
Borg ging nie in die Kirche und er stand nie früh auf. Beides hatte ihn jedoch nicht daran gehindert, im Alter von elf Jahren in ein fremdes Computersystem einzubrechen; mit sechzehn seinen ersten Dan in Karate zu erhalten und mit einundzwanzig ein Informatikstudium summa cum laude zu beenden, dessen Kosten freundlicherweise vom deutschen Bundesnachrichtendienst übernommen worden waren.
Aus dem Radio hinter der dünnen Wand zum Nachbarzimmer tönte ein Gong. Jetzt brachten sie die Dreizehnuhrnachrichten, der Sprecher verkündete im Brustton felsenfester Überzeugung, dass die gestrigen fünf Anschläge in Paris rein zufällig gleichzeitig stattgefunden hatten und Borg schnaubte sich den Rotz aus der Nase. Wenn irgendwo ein Sprengsatz hochging, dann war es niemals zufällig, dann standen dahinter immer ein Plan, verdammt viel Geld und ein Ziel. Doch es war der November 2015 und die Zeit der Aufklärung seit zweihundertfünfzig Jahren vorbei. Die Menschen schickten Raumsonden zum Mars und luden ihre Elektroautos an der Steckdose, aber ihr Gehirn am Fernseher. Sie begriffen nicht, was in der Welt passierte; sie verstanden nicht einmal, dass sie es nicht verstanden und es war gut so für ihn.
Er rollte sich aus dem Bett, federte den Aufprall auf dem Fußboden mit Zehen und Fingerspitzen ab und pumpte Liegestütze, so schnell er konnte. Nach dem Fünfzigsten katapultierte er sich ohne den Umweg über seine Knie in den Stand, ging zum offenen Fenster und atmete konzentriert ein und aus, bis sein Herz wieder im Normbereich schlug.
Von der Straße zog der Gestank in heißer Sonne verfaulender Orangen herein. Es störte ihn nicht, die Tage in dem Rattenloch hatten ihn abgehärtet; aus jedem Riss in der abblätternden dunkelroten Blumentapete dünstete der Mief von billigem Koks und die Luft im Zimmer roch nach einer undefinierbaren Mischung aus dem Schweiß feuchter Männerhände, die zusammengeknüllte Euroscheine zwischen die Brüste einer Nutte gesteckt hatten, und totem Sperma.
Sein Handy vibrierte auf dem schmalen Wandboard. Er lehnte seine Schulter gegen den Fensterrahmen und musterte mit zu einem Spalt zusammengekniffenen Augen den Hinterhof. Es war nichts weiter als ein Reflex. Wer anrief, würde kaum unter dem Fenster stehen. Er nahm an und sagte: „Ja?“
„Gehen Sie mal an die Sonne. Sie sehen blass aus.“
Instinktiv steppte er einen Schritt zurück.
„Aber, aber …“ Heliumschnee konnte nicht kälter sein als das Lachen im Hörer. „Ich rufe doch nicht vorher an, wenn ich Ihnen eine Kugel in Ihre Denkerstirn jagen will. Kommen Sie runter, spielen.“
Borg zog die Luft durch die zusammengepressten Zähne, presste das Telefon in seiner Hand und sagte in das kaum vernehmbare Atmen am anderen Ende: „Ja.“
Er legte auf, nahm die SIM-Karte aus dem Telefon und brach sie in zwei Teile. Das Handy zertrat er unter seinem Absatz und stampfte dabei härter auf, als nötig gewesen wäre. Er hatte zweimal „ja“ gesagt und zwei Handbewegungen macht ein christlicher Priester über einem Grab, bevor er den Toten darin zur ewigen Ruhe bettet.
Zwischen Marbella und Malaga erhebt sich der Mijas mehr als tausend Meter über die Costa del Sol. Im Sommer ist es an seinem Fuß nicht zu heiß, im Winter nicht zu kalt und eine Novembernacht ist wie der Wangenkuss einer alten Geliebten - lau und trocken. Orangen und Zitronen wachsen hier zu Prachtexemplaren heran und nachts glitzern die Sterne hell genug am Himmel, um bei ihrem Licht ein Buch lesen zu können.
Fischfangdiebstahl und Ehebruch waren in dieser Gegend einmal die schwersten Verbrechen gewesen. Bis das große Geld gekommen war und man eine Autobahn nach Malaga gebaut, den Bauern und Fischern eine Pferderennbahn vor die Nase gesetzt und drei wasserfressende Golfplätze angelegt hatte. Es war der perfekte Platz für reiche Leute wie Ruud Ängström. Für die explodierenden Grundstückspreise hatte er nur ein müdes Lächeln gehabt und als einer der Ersten hier in einem Tal ein schönes Stück Land gekauft, ein paar protzige Häuser als Winterdomizil darauf errichten und das Ganze mit einem drei Meter hohen Maschendrahtzaun umgeben lassen.
Die einzige Zufahrt führte erst durch Avocado- und Olivenplantagen, dann zwischen hohen Felswänden hindurch und endete an einem Schlagbaum, den der Milliardär von zwei Posten Tag und Nacht bewachen ließ. Er mochte keine unangemeldeten Besucher und hätte die Wachen am liebsten mit Sturmgewehren ausgerüstet. Allerdings interessierte sich die Guardia civil herzlich wenig für das, was er gerne hätte. Andalusien war ein Paradies, sie war der Torwächter darin und sie stellte keine Waffenscheine für Privatpersonen aus, nicht einmal dann, wenn es die Leibwächter von Ruud Ängström waren.
Knapp dreihundert Schritte entfernt von der Umfriedung zu dessen Grundstück schlängelte Borg sich durch ein Gebüsch aus Zistrosen und Zickzackdorn. Unterhalb der Kuppe eines kleinen Hügels, geschützt gegen die Blicke der Posten am Tor, ließ er sich auf die Knie nieder und glitt die Anhöhe empor. Oben angekommen, zoomte er das Haupthaus in seinem Feldstecher auf maximale Vergrößerung.
Für ihn war Ängström aus dem Nichts vor zehn Jahren in der Finanzwelt aufgetaucht, besaß mittlerweile ein riesiges Netz aus Firmen, quer durch alle Wirtschaftszweige; hatte jede Menge Stiftungen ins Leben gerufen und seine Hände in vielen Non-Gouvernment-Organisationen. Vor einer Woche hatte er seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert und befand sich auf dem Höhepunkt seiner Macht. Alles, was man in dieser Welt erreichen konnte, hatte er geschafft; Forbes listete ihn jedes Jahr unter den Top-Zwanzig der Reichen und wenn er einmal nieste, schüttelte so manche Regierung der Schnupfen. Niemand, der noch alle sieben Sinne beisammenhatte, würde es noch wagen, ihm auf die Füße zu treten.
Niemand außer Captain Arjen Wenger. Lautlos glitt er neben Borg und musterte das vor ihm liegende Terrain. Borg warf einen kurzen Blick auf das kantige, von Falten zerfurchte Gesicht mit der hohen Stirn und den kurzgeschnittenen, silbergrauen Haaren darüber. Obwohl er ihn seit mehr als drei Jahren kannte, wurde er nicht schlau aus ihm. Wenn Wenger ging, schaukelten seine breiten Schultern hin und her, er wirkte wie ein tollpatschiger Bär und auch seine sanften braunen Augen passten dazu. Doch dieser Eindruck täuschte gewaltig. Er besaß Reflexe, die sogar denen von Borg um Lichtjahre voraus waren und ein Gehirn, von dem Borg manchmal glaubte, dass irgendwo darin ein Vorauswissen existierte, wie man es Spinnen andichtete. Kein Geheimdienst der Welt wollte ihn ausgebildet, geschweige denn je mit ihm zusammengearbeitet haben, doch Borg wusste es besser.
„Ich sehe mich mal ein bisschen um“, sagte Wenger nach einer Weile, ließ sich so lautlos wie eine Katze den Hügel hinabgleiten und verschwand, als wäre er nie dagewesen.
Borg ließ den Feldstecher sinken und sah ihm gedankenverloren hinterher. Vor zehn Jahren, im Mai des Jahres zweitausendfünf war Nathan Gold, der Bigboss der weltweiten Titan-Union und einer der ganz Superreichen in einem Berliner Luxushotel gestorben. Er hatte knapp fünfundsiebzig Kilogramm gewogen und war siebzig Jahre alt gewesen, trotzdem hatte er mit bloßen Händen die Einrichtung seiner Hotelsuite zerlegt und seine beiden Leibwächter gleich mit. Seine Autopsie hatte Herzversagen ergeben, nichts weiter.
Sechs Monate später hatte es in London Jefferson May erwischt, ein hohes Tier bei British Petroleum; uralte Familie mit einem so langen Stammbaum, dass nicht einmal eine englische Dogge genug Urin hatte, um ihn anzupissen, und stinkreich. Der Sohn flippte in einem Nobelrestaurant aus, brach seinem Alten das Genick und zerlegte ebenfalls die halbe Einrichtung, bevor auch sein Herz schlappmachte. In den folgenden fünf Jahren wurden noch neun ähnliche Fälle aktenkundig, immer traf es die reichsten der Reichen, immer spektakulär und blutig, immer durch Menschen, denen sie vertrauten und immer in Europa, obwohl die Opfer aus der ganzen Welt kamen. Borg ließ das durch seine Computer in Pullach laufen, simulierte Tathergänge, Motive, wer davon profitierte, ob es noch ähnliche Fälle gab, und wurde durch einen Zufall tatsächlich fündig.
Im November Neunzehnhundertsechsundneunzig waren in Schwerin Sven Oldenburg und Joanna Hakonsen auf ähnliche Art und Weise gestorben. Alle Spuren deuteten auf den Sohn Christian; man hatte es für ein Verbrechen aus Leidenschaft, Eifersucht vermutlich, gehalten und es war aus zwei Gründen in den Datenbanken des BND gelandet. Der Vater, Sven Oldenburg, war ein ehemaliger Offizier der Staatssicherheit gewesen. Die kleinen Fische hatte man nach der Wende dem Volkszorn überlassen, die großen, die Profis, hatte man übernommen und sie für eine mögliche spätere Verwendung auf Eis gelegt. Deshalb gab es beim BND eine Akte über ihn. Außerdem war einen Tag nach dem Verbrechen noch ein hochrangiger ehemaliger Stasioffizier in Schwerin aufgetaucht, Bernard Müller. Er hatte sich als BND-Mann ausgegeben, die Ermittlungen blockiert und sich, als man ihm vier Tage später auf die Schliche gekommen war, eine Makarow an die Schläfe gehalten und abgedrückt.
Borg hielt das Ganze für das missglückte Auftaktverbrechen, einen Testlauf für eine Psychowaffe, die zu dem Zeitpunkt noch nicht zu einhundert Prozent funktioniert hatte. Vielleicht ein Überbleibsel aus der Zeit des Kalten Krieges; etwas, an dem die Stasi gearbeitet hatte. Bei der Mordserie viele Jahre später waren die Täter an Herzversagen direkt neben ihren Opfern gestorben, doch hier war Christian Oldenburg nach dem Mord verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Borg vermutete, dass die Täter in den folgenden Jahren die Waffe perfektioniert und so einsatzfähig gemacht hatten, dass auch die Täter starben.
Diese Theorie legte er seinem Sektionsleiter vor. Am nächsten Morgen saß er in einer Maschine der Bundeswehr nach Brüssel und mittags General Duchamp gegenüber - einem ausgetrockneten, spindeldürren Sechziger mit stechendem Blick und einer gekrümmten Raubvogelnase.
„Ich habe kein Problem damit, wenn irgendwo in Europa eine Bombe hochgeht oder eine Waffe eingesetzt wird. Nicht einmal dann, wenn es irgendwelche Kameltreiber sind und es mitten auf dem Place Pigalle passiert“, erklärte er und schlürfte überlaut seinen Espresso, als wäre Borg gar nicht im Zimmer. „Das ist gut fürs Geschäft. Neue Kameras und mehr Geld für die Überwachung. Also mehr Sicherheit. Ich habe aber ein Problem damit, wenn ich es erst hinterher aus der Zeitung erfahre. Die Amerikaner machen es einfach. Sie entwickeln unbemannte Flugzeuge, von denen aus sie jedes beliebige Ziel aus der Luft bekämpfen können. Ein Druck auf ein kleines Knöpfchen am Joystick, und von ein paar aktuellen Terroristen nebst einigen zukünftigen potentiellen Bombenlegern bleibt nur noch Rauch. Ganze Dörfer kann man so verschwinden lassen. Sehr effektiv. Gefällt mir. Leider ist deren Vorgehensweise hier nicht sonderlich populär, aber wir arbeiten daran, das zu ändern.“
Mit einem harten Ruck setzte er die Espressotasse ab. „Wir sind hier der Schutzschild für ein Europa, das noch nicht einmal weiß, dass es einen braucht und deshalb kann es nicht sein, dass irgendwer irgendwo Leute tötet, die man gewöhnlich nicht umbringen kann und ich nichts davon weiß. Der Schutzschild hat ein Loch und wir müssen es stopfen. Finden Sie die Waffe, Borg und ich lasse sie auslöschen. Sie arbeiten allein und berichten nur mir. Keine schriftlichen Aufzeichnungen, keine Speicherung der Daten. Alle Ergebnisse behalten Sie im Kopf und nur da. Nach Ihren Akten haben Sie ein Elefantengedächtnis. Benutzen Sie es.“
Mehr sagte der General nicht und kurz darauf saß Borg an seinem neuen Arbeitsplatz - einem Hochsicherheitsrechenzentrum, mehr als fünfzig Meter unterhalb der Straßen der belgischen Landeshauptstadt. Er kam sich vor wie in einem Paradies. Die besten und leistungsfähigsten Computer, schnelle Breitband-Netzwerkverbindungen rund um die Welt und Zugriff auf jeden elektronischen Datensatz. Ganz gleich, ob bei einer Regierungsbehörde, bei der NSA oder in einem Krankenhaus - waren Daten irgendwo in der Welt gespeichert, konnte Borg sie lesen, wenn er die Verschlüsselungen brach und darin war er ein Genie.
Am liebsten arbeitete er nachts daran und allein, wenn ihm niemand auf die Finger schaute. Er schaltete dann alle Lichter aus, saß im Dämmerlicht der Monitore, ließ Gedanken und Programmen freien Lauf. Doch so sehr er sich auch anstrengte, er kam nicht weiter. Immer, wenn er glaubte, eine Spur gefunden zu haben, erwies sie sich als Sackgasse.
„Sie brauchen Hilfe“, sagte der General nach zwei erfolglosen Monaten. Was er nicht sagte, war, wie sie aussah.
Ein paar Nächte später fuhren die Türen der Sicherheitsschleusen im Rechenzentrum mit einem Zischen auseinander und ein breitschultriger Mann in einer braunen Lederjacke trat ein.
„Lassen Sie sich nicht stören“, brummte er, setzte sich auf einen Stuhl in der Nähe von Borg und ging nach einer halben Stunde wieder, ohne etwas gesagt oder getan zu haben. In der nächsten Nacht kam er wieder, saß wieder nur still da und beobachtete. Borg hackte sich in das Protokoll der Sicherheitstüren und was er da fand, ließ ihn die Stirn runzeln. Die Schleuse war mit einer Clearance Q geöffnet worden, einer Generalkarte, die überall Zutritt verschaffte und nur zwei waren davon ausgestellt worden - eine besaß General Duchamp und die andere ein Captain Arjen Wenger.
Borg fragte: „Kann ich etwas für Sie tun, Captain?“
„Wenger reicht“, kam die Antwort aus dem Dunkel und sie dröhnte, obwohl leise gesprochen, durch die Stille der Halle. „Sie sind gut, ich bin begeistert. Die Jagd liegt Ihnen im Blut, Borg. Wie mir. Werden Sie besser, und ich kann etwas mit Ihnen anfangen. Kümmern Sie sich weniger um die Fakten, wenn Sie Erfolg haben wollen und mehr um die Liebe.“
„Um was?“
„Was Menschen antreibt, Borg. Alles, was sie machen, tun sie aus Liebe oder um ihr Fehlen auszugleichen. Wo sie fehlt, ist Platz für Gier oder Hass. Manchmal auch Beides. Suchen Sie danach.“
Ein Stuhl scharrte im Dunkel, Wenger stellte sich neben Borg und blickte auf dessen Monitore. „Finden Sie das Motiv, dann finden Sie auch den Mörder.“
„Ich halte mich lieber an handfeste Dinge. Spuren, Wahrscheinlichkeiten, Schnittmengen“, erwiderte Borg.
„Es gibt nur eins und das heißt Gier. Ich bin für eine Weile im Einsatz, ein paar Leute umbringen. Dann komme ich Sie wieder besuchen. Lesen Sie Freud, Dalberg-Acton und Marx. Die haben mehr über das, was Menschen antreibt vergessen, als Ihre Computer je wissen werden. Dann programmieren Sie die kalten Gehirne hier neu. Übrigens - das Zeug, nach dem Sie suchen, heißt Perverdrin und Sie sind nicht der Einzige hier, der es finden will, falls Sie das bis jetzt geglaubt haben sollten. Mehrdimensionale Bereichsbildung nennt Duchamp das - niemand außer ihm sieht das ganze Bild. Glaubt er. Offiziell arbeiten Sie für Interpol, in Wirklichkeit für Gladio und da für eine Sondereinheit namens Special Perverdrin Forces.“
Wenger ging zur Tür. „Übrigens - was treibt Sie an, Borg?“
Er verschwand und Borg blieb sprachlos zurück. Aber nicht tatenlos. Den Rest der Nacht verbrachte er damit, die Datenbanken nach Wenger zu durchsuchen, aber außer einem Lebenslauf, dem Borg auf den ersten Blick ansah, dass er gefälscht war, fand er nur Verweise auf andere Dateien. Er hätte sie entschlüsseln können, doch sie waren so aufwendig gesichert, dass nicht einmal er hätte den Bruch der Sicherheitscodes verschleiern können. Aber er war klug genug, weder die versteckte Warnung noch die Hinweise des Captains zu ignorieren. Er las sich in die Freudsche Psychoanalytik ein, überflog ein paar Essays von Dalberg-Acton, ohne sie zu verstehen, und knallte „Das Kapital“ von Karl Marx nach den ersten zehn Seiten gegen die Wand und stürzte sich wieder verbissen in die Arbeit.
Er hatte nur durch seine Computer errechnete Wahrscheinlichkeiten, die von den Opfern erhobenen Daten, die Auswertung der Aufnahmen von Überwachungskameras und Obduktionsbefunde und so konzentrierte er sich statt auf Täter und Opfer auf die Waffe. Puzzlestein für Puzzlestein setzte er zusammen und als er endlich das ganze Bild sah, rann ihm ein Schauer den Rücken herab. Es sah für ihn nach einem Nervengift aus, das für kurze Zeit Reaktionsgeschwindigkeit, Körperkraft und vermutlich auch die Intelligenz steigerte, denn die ungeübten Opfer hatten professionelle Leibwächter ausgeschaltet, mit roher Körperkraft; sogar Genickbrüche waren dabei gewesen.
Ein Kampfsportprofi wie Borg wusste, dass es für einen Ungeübten so gut wie unmöglich war, einem Menschen das Genick zu brechen, dazu war die Halsmuskulatur viel zu stark. Entsprechendes Training und das Überraschungsmoment gehörten dazu und nichts davon hatten die Giftopfer besessen. Nach spätestens zwei Stunden platzten dann ihre Gefäße, Blut rann aus ihren Augen und sie zertrümmern in einem Tobsuchtsanfall mit bloßen Händen alles, was sie erreichen konnten, bevor ihr Herz aufgab, und verreckten dann wie tollwütige Hunde.
Bei den letzten drei Opfern waren Funkempfänger im Ohr gefunden worden. Das machte es für Borg wahrscheinlich, dass die Waffe weiterentwickelt worden war und die Opfer auch noch nach der Giftverabreichung akustisch gesteuert werden konnten. Dadurch wurden sie dann doppelt tödlich - als steuerbare Attentäter und durch den Tobsuchtsanfall kurz vor dem Herzstillstand. Er fragte sich, was dabei herauskäme, wenn die Waffe noch weiter entwickelt wurde und das Gift seine Opfer nicht nach spätestens zwei Stunden umbrachte. Was ihm seine Fantasie zeigte, machte ihn zittern: ein Heer von Supersoldaten mit Funkempfängern im Ohr; schnell, stark und absolut tödlich. Die perfekte Waffe.
Er ging zum General, doch der winkte nur ab. „Das ist längst klar. Dafür haben wir Spezialisten und sobald Sie die Waffe lokalisiert haben, werden wir auch ein Gegenmittel finden. Wenn es nicht sogar schon existiert.“
Also hatte Wenger recht gehabt. „Was für Spezialisten?“, fragte Borg.
„Das geht Sie gar nichts an. Ich will wissen, wer das Zeug wo herstellt. Das ist Ihre Aufgabe. Tun Sie genau das und nichts anderes. Setzen Sie Wenger ein, wenn Sie Informationen brauchen, er hat Anweisung von mir, Ihnen alles zu beschaffen, was Sie brauchen und im Gegensatz zu Ihnen liefert er immer.“
„Wenger ist verrückt. Er hat von sich selbst als Mörder gesprochen. Wie können wir mit so Jemandem arbeiten? Wir sind eine Regierungsorganisation!“
„Ist das eine Kritik an meiner Personalkompetenz?“
General Duchamp lehnte sich nach vorn. „Sie sind jung und naiv. Das hier ist kein Mädchenpensionat, Borg, sondern ein Geheimdienst. Captain Arjen Wenger ist nicht verrückt, sondern ein hochfunktionaler Soziopath, der zwar einen Haufen dummes Zeug redet, aber seine Loyalität schon hundertmal unter Beweis gestellt hat. Leute wie ihn brauchen wir für die Drecksarbeit, die gemacht werden muss, wenn unsere freie Welt frei bleiben soll. Drecksarbeit, von der die feinen Pinkel in ihren schicken Büros nichts wissen wollen und Otto Normalbürger erst recht nicht. Wenn ich Ihnen Wengers Einsatzberichte freigeben würde, an die Sie versucht haben, heranzukommen, würden Sie das wissen. Natürlich ist er ein Killer, genau dafür wurde er ausgebildet und deswegen habe ich ihn auch in der Hand. Sie sind das Zielfernrohr und er ist die Kugel im Ziel. Schreiben Sie sich das hinter die Ohren. Machen Sie endlich Ihre Arbeit und wenn Sie das nächste Mal in diesem Zimmer stehen, dann mit Ergebnissen. Abtreten!“
Borg war lernfähig und er vergaß nicht. Die Abreibung führte nur dazu, dass er sich ernsthaft darüber Gedanken machte, wie er an die Einsatzberichte von Wenger herankam. Die Lösung, die er fand, war so frappierend einfach, dass selbst er darüber nur den Kopf schüttelte. Sie waren gegen Entschlüsselung gesichert, aber das war ein Task einer netzwerkweiten Serverroutine. Er musste nichts weiter tun, als auf die Volumenschattenkopien der Dateien zuzugreifen, ohne deren Fileattribute zu ändern; sie kopieren und konnte sie dann auf einem Rechner, der mit keinem Netzwerk verbunden war, in Ruhe entschlüsseln. Genau das tat er auch und als ein paar Wochen später der Captain wieder auftauchte, hatte Borg dessen Einsatzberichte längst auf einen versteckten Datenspeicher kopiert. Entschlüsseln wollte er sie, wenn er Zeit und Ruhe dazu hatte.
„Fortschritte?“, fragte der Captain und kopfschüttelnd erwiderte Borg: „Die Opfer waren stinkreich, große Tiere und Ihr Dalberg-Acton sagt zu solchen Leuten: ‚great men are almost always bad men‘. Es gibt Tausende, denen sie auf die Füße getreten sind und Hunderte, die auch die Möglichkeiten für den technischen Background haben, wie Labors und Wissenschaftler. Regierungen, Geheimdienste, große Konzerne, reiche Weltverbesserer – jeder kommt dafür infrage.“
„Die ersten beiden können Sie vergessen. Nur Erfüllungsgehilfen und Befehlsempfänger.“
Borg hatte es satt, von allen Seiten wie ein Schuljunge behandelt zu werden. „Lernt man das bei der Fremdenlegion? Oder hatte eines Ihrer Opfer noch Zeit, Ihnen Unterricht in Politologie zu geben, bevor Sie es umgebracht haben?“
„Über Nacht erwachsen geworden, hm?“
Wenger beugte sich vor und schrieb auf Borgs Notizblock: Überwachung aus!
Borg war verblüfft. Er selbst hätte nicht wissen dürfen, dass hier alles aufgezeichnet wurde und wie man es abstellte, erst recht nicht. Was Wenger wollte, sagte eine ganze Menge über dessen Position hier aus und auch darüber, was er von Borgs Fähigkeiten hielt. Eine Minute brauchte Borg, dann hatte er das Problem gelöst und gleich noch eine Schleife derselben Zeit des gestrigen Tages hinzugefügt. Einer genauen Überprüfung würde seine Manipulation nicht standhalten, aber für einen flüchtigen Blick genügte es.
„Wir haben eine Stunde“, sagte er.
„Beeindruckend. Wie ich schon fragte - was treibt Sie an, Borg?“
„Und Sie?“
Die weiße Narbe an Wengers Mundwinkel bewegte sich wie eine winzige Schlange und gab seinem Lächeln etwas Bitteres. „Ein kleiner Spaziergang. So ungefähr sechstausend Meilen lang. Nachts; keine Verkehrsmittel; alle Menschen meiden; durch Europa und Asien bis nach Tunesien zu einem bestimmten Offizier der Fremdenlegion. War der Rat eines alten Freundes nach meinem ersten Mord. Ich hätte Talent, meinte er. Bräuchte nur ein bisschen Weiterbildung. Ist ein langer Weg mit viel Zeit zum Nachdenken. Sollten Sie auch einmal probieren, ‚Reisen bildet‘ bekommt da eine ganz neue Bedeutung. Also, was wissen Sie?“
Es war keine Antwort auf das, was Borg gefragt hatte oder vielleicht doch. Das würde sich später zeigen. Nicht nur seine Computer ließ Borg Daten sammeln, er selbst tat das auch und er wusste, dass sich irgendwann aus den einzelnen Steinen ein Bild ergeben würde. Das des kompletten Wenger, nicht nur das des Soziopathen, dass der Mann vor sich hertrug wie einen Schild, davon war Borg überzeugt.
Er erzählte Wenger, was er bis jetzt herausgefunden hatte und schloss: „Stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn man das Zeug in einem Fußballstadion freisetzt - ein Massaker wäre die Folge. Es ist nicht nachzuweisen, nur erkennbar an seinen Wirkungen. Weder weiß ich, wer es entwickelt hat, noch wer es einsetzt. Aber ich werde es herausfinden. Das ist nur eine Frage der Zeit.“
„Duchamp wird Ihnen einen Orden umhängen und Sie lieben wie einen Sohn. Vielleicht gibt er Ihnen auch einen dicken Schmatz. Wenn sein Zinken dabei nicht im Wege ist.“
Wenger schüttelte den Kopf. „Hochintelligent und doch so dumm. Wie so viele Genies, die einen Raketenantrieb mit Papier und Bleistift konstruieren können, aber nicht wissen, dass zwischen Austria und Australia ein paar zehntausend Kilometer liegen. Ist ja auch Wurst, wo das Ding einschlägt, Hauptsache, es knallt ordentlich. Denken Sie, Borg. Denken Sie nach. Welchem Menschen können Sie eine solche Waffe in die Hand geben, ohne dass er ihrer Macht erliegt?“
„Ihnen ganz bestimmt nicht.“
„Da liegen Sie verdammt richtig. Hinsetzen und Anschnallen. Jetzt gibts einen Crashkurs in Lebenskunde. Hundert Familien, so reich und mächtig, dass alle anderen nur Figuren in ihrem Sandkasten sind, weltweit. Regierungen sind austauschbaren Marionetten; mal da einen kleinen Krieg wie in Vietnam oder auch zwei wie im Irak; mal da einen Regimechange oder mal eine kleine Völkerwanderung Richtung Europa wie sie gerade in Planung ist - Hauptsache, sie haben Spaß. Egal, wie viel Millionen dabei draufgehen, sie selbst und ihre Familien sind tabu, tun sich nichts, außer sich gegenseitig ihre Sandburgen kaputtzumachen. Ein elitärer Club und die Plätze auf der VIP-Tribüne sind leider schon weg. Aber irgendjemand will das nicht kapieren; pfeift auf ihr Geld, Leibwächter, Armeen, Regierungen und macht sie alle platt. Macht fast Spaß, ihm dabei zuzusehen. Die Special Perverdrin Force ist die Antwort des Eliteclubs. General Duchamp hat nahezu unbegrenzte Geldmittel. Er muss nur auf jemanden zeigen und dann kann er die amerikanischen Navy Seals, die russische GRU Speznas oder die deutsche KSK einsetzen. Dumm nur, dass er noch nicht weiß, auf wen er zeigen soll. Genau dafür hält er sich Leute wie uns, und zwar eine ganze Menge davon. Suchen Sie nach außergewöhnlichem Ehrgeiz, gnadenloser Rücksichtslosigkeit und unbändiger Machtgier bei Newcomern ohne Stammbaum. Damit füttern Sie ihre Siliziumknechte, und während die an der Antwort rechnen, überlegen Sie, was Duchamp mit einer der perversesten Waffen tun wird, die je erfunden wurde, wenn er sie in den Händen hält.“
„Wann waren sie das letzte Mal beim Doktor?“
„Nie. Wenn Sie meine Akten knacken, die sie geklaut haben, werden Sie das sehen.“
Borg schnappte nach Luft. Er hatte keinen Fehler gemacht, das wusste er genau.
Wenger grinste, kurz und böse. „Treffer und versenkt. Ich habe es Duchamp nicht erzählt. Meinetwegen können Sie sich ein Ei auf meiner Vergangenheit braten, aber hören Sie gefälligst auf, mich für einen Idioten zu halten. Reicht, wenn ich das tue. Weiter. Warum können Sie auf alle Datenbanken der Welt ohne Probleme zugreifen? Woher stammen die netten Progrämmchen, die Ihnen das ermöglichen? Vor allem aber - warum gibt es sie überhaupt? Wer hat so viel Macht, so etwas durchzusetzen, weltweit? Und wenn Sie das verstanden haben, machen Sie sich gefälligst Gedanken darüber, wie Ihr weiteres Leben aussieht, wenn Sie einmal von Ihrem Lieblingsabsinth zu viel trinken und darüber nachdenken, nicht mehr mitspielen zu wollen. Könnte nämlich sein, dass ich Sie dann besuchen komme. Sie wären nicht der Erste und Sie würden es nicht einmal merken.“
Er reckte sich und ließ seine Gelenke knacken. „Und jetzt ab in die Trainingshalle. Sie kriegen heute noch eine zweite Lektion. Sie müssen weg von Ihren Computern. Raus ins Leben.“
Launig setzte er hinzu: „Ich schüttel Ihr Gehirn ein bisschen durch. Will doch mal sehen, was Ihr dritter Dan in Karate taugt. Wenn Sie das überstehen, filzen wir ihre Datenbanken, ob in den letzten eintausend Jahren schon mal eine Waffe wirklich so vernichtet wurde, dass sie nicht wiederhergestellt werden kann. Ich setze eine Kiste Bier, dass Sie nichts finden werden und dann, Borg ...“
Er legte Borg eine Hand auf die Schulter und zog ihn zu sich heran. Borg war zu perplex, sich dagegenzustemmen.
„Und dann?“, fragte er und seine Kehle war plötzlich trocken.
Ein wildes Feuer schien in Wengers Augen aufzuleuchten. „Gehen wir auf die Großwildjagd. Sie und ich.“