Fliegen
Sie flog. Flog wie auf Engelsschwingen durch Welten, die wie Seifenblasen langsam an ihr vorüber schwebten. Obwohl sie nicht wusste, wie es dazu gekommen war, nicht einmal ahnte, wo Unten und Oben war, genoss sie dieses leichte Gefühl. Es war, als wäre sie in einen Fantasyroman gerutscht. Am angenehmsten war, dass es sich so selbstverständlich anfühlte. So angenehm und so erhebend.Und so erstaunlich einfach, nur zu sein, ohne denken zu müssen.
Mühelos und fasziniert hob und senkte sie gleichmässig die Schwingen. Wie in Zeitlupe.
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Grishams Miene verzog sich, als er die Haustüre öffnete. Es wurde Zeit, dass sich der Winter endlich verzog. Es war heute morgen mal wieder so kalt, dass es ihn nicht gewundert hätte, wenn die Tröpfchen seines Atems sich schlagartig in Hagelkörner verwandelt hätten und zu Boden gefallen wären, nachdem sie seine Mundhöhle verliessen. Der Tropfen, der schon nach wenigen Minuten unter seiner Nase hing, fühlte sich auf alle Fälle fast gefroren an.
Wenigstens waren die Wege im Park geräumt. So war es trotz der Affenkälte auch heute Morgen wieder ein Erlebnis, die gewundenen Märchenwege des winterlich weiss glitzernden Parks im Mondlicht entlang zu traben. Von Innen heraus warm, jede Faser, jeden Muskel deutlich zu spüren. Alleine auf der Welt. Stille. Die Stadt schlief noch morgens um halb Fünf.
So war es, als ob er wie ein Stern durch den unendlichen Weltenraum flöge. Frei. Von Innen herau strahlend, sein eigener Ofen. Unendliche Energie.
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Nachdem der Junge sein Fahrrad mit Stützrädchen die lange steile Strasse hinaufgeschoben, sich auf den Sattel gesetzt und die kleinen Füsse auf die Pedale gestellt hatte, ging die Fahrt los. Schon nach kurzer Zeit blies ihm der brausende Fahrtwind die Schildkappe vom Lockenhaar, und er kam sich vor wie ein Formel Eins Pilot . Schneller, immer schneller drehten sich die kleinen Räder.
Die mit einer Wäscheklammer angeklemmte Pappe klang in seinen Ohren wie der Motor eines Rennwagens. Die Bäume und Häuser rasten nur so an ihm vorbei. Die enge Kurve am Ende des Abhangs kam beängstigend schnell näher und die Finger seiner Hände zogen ängstlich und wohl etwas zu abrupt am Bremshebel. Sein Gefährt kam ins Schlingern, es bockte wie ein Pferd und warf seinen Reiter ab.
Die Hände weit nach vorne gestreckt,die Augen vor Schreck weit aufgerissen, begann er seinen kurzen Flug.
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Gerade noch hatte es, Eines unter all den Vielen, lustig im Wind getanzt, gewispert im vielstimmigen Chor. Jetzt wurde es unbarmherzig vom Sturm herumgewirbelt. Es verlor völlig die Orientierung.
Mal ging es aufwärts, mal abwärts. Einen Moment glaubte es, bald mit den Wolken zu verschmelzen, dann wiederum kam der Boden gefährlich nahe. Obwohl es Raunen gehört hatte, dass dies das Schicksal eines Jeden von ihnen war, war es doch ein seltsames Gefühl plötzlich so alleine zu sein, so losgerissen von allem, was seinem Leben bisher Halt und Sicherheit gegeben hatte.
Machtlos den Naturgewalten ausgeliefert.
Da halfen auch all die abenteuerlichen Geschichten von Ozeanüberquerungen, fremden exotischen Ländern mit seltsam stacheligen Bäumen, wunderschönen Bildern in köstbaren Büchern oder gar vom Schwimmen durch wundersam gurgelnde unterirdische Röhren nicht.
Selbst als der Wind nachließ und es in immer enger werdenden Kurven langsam zu Boden sank, sich leicht fühlte, wie die verlorene Feder des majstätischen Adlers, dem es früher so sehnsüchtig nachgeblickt hatte, sehnte sich das Blatt an seinen Ast zurück.
Fortfliegung folgt!