Sturmflut
SturmflutWawa beobachtete ihre Urgroßmutter, die grade zwei Seiten einer Illustrierten mit Tesafilm zusammenklebte. Die alte Dame stand an ihrem Schreibtisch, hantierte umständlich mit Zeitschrift und Schere während Wawa schon ungeduldig an ihrem schwarzen Jackett zupfte. Sie versuchte einen Blick auf das Foto zu werfen, was sie nicht sehen sollte. Ihre Urgroßmutter hatte gesagt, es wäre zu entsetzlich, ein Kind sollte so etwas nicht sehen. Eine Ecke des Fotos hatte sie einen Augenblick erblicken können, einen nackten weißen Fuß mit Schlammspuren daran. Aber alles Betteln half nicht, sie bekam die Zeitschrift erst als die Seiten sorgfältig zugeklebt waren, nicht der kleinste Spalt blieb geöffnet. Schmollend zog sie sich auf ihren Lieblingsplatz, einen abgewetzten Ledersessel in der Diele, zurück. Hier im Dämmerlicht blätterte sie langsam zu den verklebten Seiten. Die Seiten davor und danach waren voller Fotos mit wenig Text. Es waren Bilder einer Überschwemmung, Mauern die von Haushohen Wellen mühelos überwunden wurden, Häuser die in Schlamm und Dreck versanken, das Foto einer ertrunkenen Kuh, deren Bauch aufgebläht war und deren Zunge weit aus dem Maul heraushing. Eines ihrer aufgerissenen Augen war mit Erde bedeckt. Wawa rieb sich ihre Augen, wie scheußlich wenn man Dreck im Auge hat und nicht mehr blinzeln kann. Sie konnte noch nicht lesen, sie ging erst seit einem halben Jahr in die Schule, aber die Bilder waren leicht zu verstehen.
Lange sah sie auf das Bild einer jungen Frau die auf einem ungedrehten Eimer zwischen Trümmern saß. Die Hände hatte sie in dem zerzausten Haar vergraben, das verzerrte Gesicht war gegen den grauen Himmel gehoben. Aus dem weit geöffneten Mund schien Speichel zu rinnen, ihre Augen waren tränenleer. Wawa überlegte ob die Frau auf dem Foto wohl schrie oder stumm so dasaß. Schließlich kam sie zu dem Schluss dass die Frau wahrscheinlich schrie, als sie die Gesichter der beiden Kinder genau ansah die neben ihr standen. Das Mädchen blickte mit tränennassem, erschrockenem Gesicht auf die Frau, die sicher ihre Mutter war. Am Ausdruck des Mädchens konnte Wawa sehen, dass die Frau wohl furchtbar schrie. Ein Junge von ungefähr drei Jahren zerrte mit wütendem Gesichtchen an der Kittelschürze der Frau. Er hatte wohl auch geweint, seine Augen waren verquollen, seine Nase lief. Aber jetzt war er böse, das war leicht zu erkennen. Sicher schrie die Frau schon lange und die Kinder bekamen Angst. Wawa stellte sich kurz vor, sie wäre das kleine Mädchen und müsste ihrer Mutter jetzt helfen. Sie sah sich den Hintergrund des Fotos an, sie konnte einen kleinen Bauernhof erkennen, eine Wand herausgerissen, Fenster die schief aus den Öffnungen hingen, Möbel und Hausrat lagen auf dem ganzen Hof verstreut. Hinter der Frau lag ein schwarzer, länglicher Körper auf dem Boden. Wegen der Kette die von dem Körper zu einer umgestürzten Hütte ging, wusste Wawa, dass es der Hofhund sein musste. Ihr traten Tränen in die Augen, der arme Hund war ertrunken, weil er an der Kette angebunden war.
Wawa wurde durch ihre Mutter gestört, die zielstrebig auf ihr Versteck zukam. Sie konnte nicht weg, saß in ihrem Sessel wie in einer Falle. Sofort bemerkte sie, dass ihre Mutter leicht betrunken war. Wawa roch widerwillig den schwachen Alkoholatem, als sie sich über sie beugte um ihr einen feuchten Kuss auf die Stirn zu drücken während sie neugierig in die Illustrierte starrte.
„Warum sind denn die Seiten hier zusammengeklebt?“
fragte sie erstaunt als sie darin blätterte. Wawa war es peinlich ihr gestehen zu müssen, dass die Urgroßmutter ihr verboten hatte, ein Foto anzusehen. Als sie es mit möglichst gleichgültiger Stimme erzählt hatte, lachte ihre Mutter kehlig und meinte,
„wenn du das Bild doch sehen willst, komm in mein Zimmer“.
Sie entfernte sich summend mit leicht wiegendem Gang und verschwand im hinteren Teil der Wohnung. Wawa hatte vor einer Stunde beobachtet, wie ihre Mutter leise die Wohnungstür aufschloss und sich verstohlen umsah. Als sie dachte, keiner beobachte sie, hob sie ihren weiten Rock und zog oben aus ihren Nylonstrümpfen zwei Flaschen. So schmuggelte sie häufig ihre Tagesration in die Wohnung.
Wawa blätterte missmutig weiter und versuchte nicht an die zusammengeklebten Seiten zu denken. Auf einem anderen Foto war eine lange Reihe von Särgen zu sehen, Menschen standen mit ratlosen, traurigen Gesichtern davor. Wawa dachte an ihre Urgroßmutter, die ihr immer einschärfte, sie solle sofort zu einem Priester gehen, wenn ihre Mutter sie nach Russland zu bringen versuche. Solange ihre Urgroßmutter lebte, würde ihre Mutter das nicht wagen. Aber als letzten Winter ein Flugzeug über der Münchener Innenstadt abstürzte und sie mit ihrer Mutter vor dem Radio saß und die Meldungen hörte, war sie sicher, dass ihre Urgroßmutter die ihre Weihnachtseinkäufe machte, unter den Toten war. Da hatte sie gemerkt, dass sie nie wagen würde zu einem Priester zu gehen, ganz gleich wohin ihre Mutter sie brächte. Zum Glück war nichts passiert, nur wusste sie seitdem, dass sie ausgeliefert war.
Auf einem doppelseitigen Bild sah man die Luftaufnahme eines kleinen Dorfes, bis zu ersten Stock war alles unter Wasser. Kleine Boote fuhren zwischen den Häusern, aus dem Fenster eines Hauses wurde eine alte Frau von kräftigen Armen zu einem Schlauchboot gereicht. Sie trug ein helles Nachthemd das bis über den Bauch hoch gerutscht war. Obwohl die Einzelheiten winzig waren, meinte Wawa zu erkennen, wie sie sich ihrer Würdelosigkeit schämte. Vielleicht wäre es der alten Frau lieber gewesen zu sterben überlegte sie. Ihre Urgroßmutter wäre sicher lieber gestorben als sich so aus dem Fenster heben zu lassen. Aber vielleicht auch nicht, sie sagte ja immer, sie müsse noch leben bleiben bis Wawa groß sei. Der Gedanke machte sie unglücklich, sie konnte nicht ertragen wenn ihre Urgroßmutter nicht würdevoll war. Darum weigerte Wawa sich auch immer einer Straßenbahn nachzulaufen, wenn sie mit ihrer Urgroßmutter einkaufen ging. Ihr kam es so lächerlich vor die alte Dame mit kleinen unbeholfenen Schritten laufen zu sehen. Zum Glück nahmen sie meist ein Taxi.
Schlimmeres als das Bild mit der alten Frau konnten die zusammengeklebten Seiten auch nicht zeigen. Wawa wollte jetzt wissen was man vor ihr verbergen wollte. Sie kletterte entschlossen über die Sessellehne und lief zu ihrer Mutter. Sie hörte Musik durch die geschlossene Tür und musste laut klopfen um eingelassen zu werden. Wawa hielt ihrer Mutter schweigend die Zeitschrift entgegen, als sie in den Raum trat der nur von einigen Kerzen erleuchtet war. Ihre Mutter lächelte, ging ohne ein Wort zu ihrer Frisierkommode, kam mit einer Nagelschere zurück, nahm Wawa bei der Hand, ging mit ihr zusammen zu dem zerwühlten Bett und ließ sich mit einem Seufzer darauf fallen. Der kleine Plattenspieler stand auf dem Boden neben dem Bett und spielte immer wieder die gleiche Platte. Eine Frau mit einer weichen tiefen Stimme sang ein Lied auf französisch. Neben dem Bett lagen noch andere Schallplatten verstreut. Im Kerzenlicht erkannte Wawa die Hülle von „der Wolf und die sieben Geißlein“, noch bevor ihre Mutter angefangen hatte die Seiten zu trennen, fragte Wawa schüchtern, ob sie das auflegen dürfe. Meistens wollte die Mutter wenn sie getrunken hatte Musik hören, aber heute war sie gnädig und legte rasch die Platte auf. Während sie mit kleinen Schnitten den Tesafilm zerteilte, hörte Wawa dem Märchen zu. Sie war ganz versunken, als die Mutter ihr die aufgeschlagene Illustrierte in den Schoß legte. Ihr Blick fiel auf ein doppelseitiges Foto. Einen nackten Fuß hatte sie ja bereits gesehen, er gehörte zu einem kleinen Mädchen, das tot auf der Erde lag. Auch der andere Fuß war nackt. Wawa schauderte zusammen, als sie die kleinen weißen Flecken als Schneereste auf der Erde erkannte. Die Beine des Kindes waren grade ausgestreckt, ein nasses Wollkleid klebte um ihren Körper. Das Gesicht mit den geschlossenen Augen sah entspannt aus, nur der Mund war weit geöffnet, als wolle sie etwas rufen. Das passte nicht zu den geschlossenen Lidern. Über die Wange zog sich eine breite Schmutzspur die dem Mädchen was Verwegenes gab. Lange sah Wawa das Bild an, längst hatten die sieben Geißlein um den Brunnen getanzt und gesungen,
„der Wolf ist tot, der Wolf ist tot“
Sonst tat Wawa der Wolf an dieser Stelle immer leid, der mit den Wackersteinen im Bauch in den Brunnen geworfen wurde. Jetzt war sie so in das Foto vertieft, dass sie nicht einmal das Rauschen und regelmäßige Knacken der abgelaufenen Platte bemerkte.
Wawa starrte dem Mädchen ins Gesicht und versuchte sich vorzustellen, wie sie sich wohl fühlte. Es sah nicht schlimm aus, tot zu sein. Ihre Hand lag locker neben ihrem Körper in einer kleinen Pfütze. Auf einem Knie konnte Wawa noch schwarze Klebereste von einem Pflaster erkennen. Ihr würde nie wieder etwas wehtun. Sie war in Sicherheit, geschützt gegen die Kälte des Schnees, gegen die Angst vor dem Ertrinken, geschützt gegen das Mitleid der Nachbarn, gegen eine betrunkene Mutter. Auch geschützt davor, nach Russland verschleppt zu werden. Zudem sah sie nicht so würdelos aus, wie die alte Frau, die aus dem Fenster gerettet wurde. Sie sah aus, wie ein Wesen, das sich gleich in eine Fee verwandeln würde. Wawa strich ihr leicht über das Gesicht. Obwohl die Lider geschlossen waren, hatte sie das Gefühl dass die Augen dahinter sie freundlich ansahen.
Wawa wurde durch ein Geräusch aus ihren Träumen gerissen. Ihre Mutter hatte ein Glas fallenlassen, nachdem sie es geleert hatte. Schwankend bückte sie sich, um die Scherben aufzuheben. Sie merkte nicht als ihre bloßen Füße in die Glassplitter traten. Sie fluchte leise auf russisch, während sie die Scherben langsam, Stück für Stück, unter das Tischchen neben dem Bett legte, damit niemand drauf trat. Wawa beobachtete sie voller Wut. Schließlich versenkte sie sich wieder in das Foto, sah das Mädchen lange an, um sich alles zu merken und schloss die Augen.