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Leto (Kalendarium 8. Teil Sextilis)

red
*******tee Frau
7.203 Beiträge
Die Unvollkommenheit des Menschen macht seinen Charakter aus. *love*
**********hylen Mann
1.142 Beiträge
Themenersteller 
12. Abteilung (Epilog-Amphitryon)
Vorläufig- ein Schlussakkord. Aus ureigenen und auch strukturellen Gründen habe ich mich entschieden, der (mehr oder weniger) geneigten Leserschaft das zehnte und elfte Kapitel meines Geschmieres zu ersparen (leichter Anflug von Humanismus) und vorerst den Schlussteil der Erzählung hier zu posten.
Vielleicht kommen ja noch Ideen, Anregungen und vor allem Kritik, welche vielleicht den noch ausstehenden Passagen Leben einhauchen könnten...


12. Abteilung (Amphitryon)

Niederländische Nordseeküste. Nebensaison.
Beim Übergang von den schützenden Dünen zum Strand trifft Titus das Grollen des ungebändigten Windes. Drohend aufgetürmte Wolken entlassen nahezu minütlich ihre schwere Fracht, um dann im nächsten Moment von der Messerschneide der Sonne durchtrennt zu werden. Die unbändige Kraft des eisigen Wassers belohnt Titus mit einem nahezu menschenleeren Strand.
Ein paar hundert Meter östlich verliert sich eine Gruppe von Kitesurfern zwischen hochaufgetürmten Wellen. Es scheint eine Kitesurfschule zu sein, so oft, wie eine der Gruppen mehr im Wasser als denn auf den Brettern ist. Titus verfolgt minutenlang das Hinabtauchen in den Wellentälern und die anschließende Berührung der parachutes mit dem Himmel. Absturz und Wiederauferstehung im ständigen Wechsel.

Poseidon scheint einen guten Tag zu haben. Frischt er doch in dem Maße das Schweben der Kitesufer zwischen Himmel und Tiefe auf, so wie die Wellenausläufer nur leicht Titus Füße befingern. Nur ein leichtes Betasten der heranrauschenden Wellen. Wohl auch nur zu dem Zweck, Titus wieder behutsam in die Umarmung der Erde zurückzutreiben und nicht in die unergründlichen Tiefen des Ozeans zu reißen.

Er entfaltet den Kontaktabzug der „Hochzeit des Theseus und der Hyppolyta“. Wie so oft in den letzten Tagen und den schier endlosen Monaten zuvor. Die Struktur des Fotos war mittlerweile durch das ständige Falten mittig durchbrochen. Wie ein Koordinatenkreuz vierteilen die weißen Linien die Farben und Körper auf dem Bild. Fast schon sinnbildlich für die im Motiv vereinten Elemente. Wasser, Erde, Luft…und das sich dem Betrachter verbergende Feuer. Schwimmende Inseln.
Auf der Rückseite verfängt sich sein Blick auf einen Satz der Duineser Elegien. Die treuen Begleiter dieser Tage und Wochen, in denen seine Seele das zu füllen versuchte, was sein Körper ihm verweigerte. Verdammtes Glück, so sagten alle, hatte er letztendlich gehabt.
Oder auch nicht.
„Jeder Engel______ ist schrecklich“ steht da in krakeliger Handschrift. Zittrige Manifestation der Tage, als das erste Zucken der Hände in koordinierte Bewegungen überging.
Eine Fallböe reißt das Foto fast aus der Titus´ Hand und er sinniert einmal mehr über die Trennzeile in diesem Satz. Womöglich Trennfuge zwischen dem regelmäßigen Raunen „Lass es zu Ende bringen“ und dem Aufbäumen eines Mondkalbes, das sich noch irgendwie auf dem Schwebebalken des atmenden Kompromisses zu halten versuchte.

Das Surren des Smartphones reißt ihn aus seinen Gedanken.
„Wo bist Du?????“ Mittlerweile schon fünf Fragezeichen seit der gleichlautenden SMS vom gestrigen Abend.
Seine Finger gleiten über die Tastatur: „Scheveningen. Starker Nordwest und das Wasser ist eisig“.
Wieder nach Sekunden ein Fragezeichen. Es hilft nichts. Wieder einmal auf dem Schwebebalken. Er drückt die Wahlwiederholung.
Sofort ein Knacken in der Leitung, dann ein:
„Hej? Du warst nicht mehr in der Kurklinik…;“
Titus versucht, durch das Telefon zu lächeln.
„Ich bin…zumindest nicht im, sondern am Wasser. Alles okay“.
„Und...woher weißt Du, wie kalt das Wasser ist?“
„Die Gesicht spritzt ziemlich hoch und- ach ja: Ich spüre meine Zehen wieder. Herrlich und verwirrend zugleich“.
Eine Nanosekunde Schweigen. Dann augenblicklich dieser so für Leto typische Übergang eines unterdrückten Schluchzens zu einem befreiten Durchatmen.
„Heißt das, du kannst…wieder gehen?“
Titus beschließt zu verschweigen, dass er von der Strandpromenade noch fast eine Stunde brauchte, um die gut hundert Meter durch die Dünen zu kommen. Es war unwichtig.

In beiden Stimmen findet sich wieder diese stille Gleichung. Begegnung als schöne Kunst. Leto wirkt zunehmend gelöst und berichtet von der Aufregung in der Klinik, als Titus sich kurzentschlossen bei der Stationsleitung abmeldete und sich nach einer durchzechten Nacht im Club in St.Georg nur mit einem Seesack auf einem Fender in Richtung Ärmelkanal einschiffte.
Es fällt Titus noch immer schwer, das konzentrierte Schweigen aufzulösen, welches sich in den letzten Monaten in ihm gestaut und gesammelt hatte.
Letos Lachen unterlegt Titus Erzählungen über die Nacht in St.Georg mit einem farbigen Rauschen, ohne ihn zu unterbrechen.
Der Übergang vom Aufbruch aus den festgefügten Tagesabläufen zu den turbulenten Stunden, als die Poledancerinnen ihn in seinem Rollstuhl -schon restlos abgefüllt- auf die Tanzfläche schubsten und unter dem Gejohle der Gäste in lasziven Posen an der Pole tanzen ließen.
Dann die Stunden auf See, in denen das gleichmäßige Grollen des Schiffsdiesels Taktgeber für die Antworten auf Fragen war, die sich wohl nur in der Weite der See finden lassen. Titus erzählte von der aufgewühlten See, welche sich in ungezählten Stunden gleichermaßen vor dem Bullauge seiner Kabine und vor seinem inneren Auge auftürmte. Im Pendelhub der Dünung gelang es immer mehr, mithilfe des I-Ging festgefahrene Gedanken und stockendes Schweigen zu entzerren und in neue Wort-Sinn-Gleichungen zu bringen.
„Mir ist halt klar geworden, dass vieles, was ich vor dem Unfall gesagt hatte, vollends falsch war.“
„Du meinst, deine Gedanken zum Fressen. Ja- es hat mich sehr schockiert. Nicht die Worte, sondern dieser Ausdruck in deiner Stimme.“
„Ich weiß- es war auch falsch. Bereits seinem Inhalt nach.“
Er erinnerte sich an die Worte, die Leto während der Fahrt zum Stadtfest so fassungslos machten.
„Der heutige Mensch unterscheidet sich in nichts von den Vorfahren, die noch ziellos in Höhlen hausten. Der Mensch frisst um sich herum. Er frisst ständig in sich hinein- das Laub der Bäume, die Erde, die ihn hält, Gelegenheiten, Chancen, Kummer. Und wenn er in seiner Umgebung alles abgegrast hat, dann frisst er seine Brüder und Schwestern. Und zum Schluss…frisst er sich selbst.“

Titus Gedanken werden durch Letos unruhiger werdende Stimme durchbrochen.
„Bist Du noch ´dran? Ich habe erst da so richtig gespürt, wie entwurzelt Du warst. Ich habe auch nie verstanden, wie Du dann auf der Intensivstation…“
Leto stockt. „Ich meine- nach dem Aufwachen. Deine erste Frage an mich war, ob mit dem Kind alles in Ordnung ist. Keine Frage, ob und wie schlimm es um dich steht, wo Du warst, wie deine Aussichten sind. Es war zugleich wunderschön und so unendlich grausam. Als wenn Du mit Gewalt das letzte Band zwischen uns zerteilen wolltest.“
„Das war nicht meine Absicht, Leto. Aber unabhängig davon, dass das Kind nicht von mir ist, lebt mit diesem Kind ein Teil deiner Ewigkeit fort.“
„Ja- es hat gedauert, das dann auch so zu verstehen, Und noch länger, das so zu akzeptieren“.

Ein leichtes Zittern in ihrer Stimme, mäandernd in schweren Atemzügen.
„Geht…es dir auch wirklich gut?“
„Mach dir keine Sorgen, Leto. Solange ich unsere Gemeinsamkeit denken kann, gab es nie einen Moment, wo wir uns die Ewigkeit geschworen haben“.
Leto Atem streifte durch den Hörer.
„Ich habe noch niemals vor dir so vieles verstanden und doch verstehe ich dich manchmal nicht.“
Titus versuchte, durch das Telefon ein wenig gesammeltes Licht zu senden.
„Ich bin nun mal so.“
„Nun Titus- auch du hast dich verändert. Ich habe bis heute nicht ganz verstanden, weshalb du immer noch so gut zu mir bist, obwohl ich dich eigentlich bereits bei diesem Stadtfest verlassen habe.“
„Ist es nicht besser, daran zu glauben, dass wir uns nie verlassen haben? Gemeinsamkeit und die damit verbundene Verbindlichkeit muss nicht zwangsläufig das Scheitern beinhalten. Vor allem dann nicht, wenn sich nur die Position verändert.“
Leto lachte auf. So wie in den besten gemeinsamen Zeiten.
„ Ich denke oft an das, was Du nach meiner Verletzung zu mir gesagt hast: Das der Begriff der Einsamkeit schon wesensimmanent im Wort Gemeinsamkeit enthalten ist. Und das man Einsamkeit nur dann fühlen kann, wenn man um den Wert von Gemeinsamkeit weiß, ohne gemein zu sich zu sein. Es hat Zeit gebraucht…
„Dort, wo die Geburtswehen der wahren Empfindung ihre Kraft entfalten kann, relativiert sich der erodierende Sinn von Zeit. Und es dauert zu erkennen, dass im Scheitern auch immer das Juwel des Neuanfangs liegt.“
Sie stutze einen Moment. „ Aber… wozu dann das Ganze?“
„Du hast scheinbar nie verstanden, welches Geschenk Du mir gemacht hast.“
Im Hintergrund ein Klingeln an ihrer Haustür.
„Du…ich muss. Die Tagesmutter kommt und ich bin spät ´dran. Moment eben“.
Kurzes Stimmengewirr im Hintergrund. Untermalt von den persistierend anbrandenden Wellen, die von der Nordsee kommend den Sand von seinen Zehen spülen. Ein Wetterwechsel kündigt sich an, so wie sich über der Nordsee dunkle Wolken auftürmten.

Der nunmehr landseitige Wind zehrt an dem Bild in Titus Hand und löst seine Gedanken.
„Jeder Engel ist…schrecklich.“
Noch vor Monaten in der stickigen Atmosphäre der Kurklinik schien in diesem Satz einfach nur eine finale Bestimmung zu liegen. Titus Hand schreckte noch gerade so zurück, als ihn in der Ergotherapiegruppe ein weißes Din-A-3-Blatt anstarrte. Minutenlanges Verharren suchender Augen auf weißer Fläche. Ein aufmunterndes Lächeln der Gruppenleiterin, begleitet mit der wohlwollenden Aufforderung, gerade das zu malen, was man so vor sich sieht.
Titus Begeisterung für die freie Fläche unterdrückte rabulistisches Hinterfragen der Sinnhaftigkeit von Maltherapien. Nach einer Dreiviertelstunde dann Abgabe eines leeren Blatts. Unten rechts verziert mit einem Smiley. Die Zuversicht in Titus Ausdruck beim Abgeben des Bildes begegnete dem nachdenklichen Blick der Ergotherapeutin.
„Was haben sie denn da gemalt?“
Titus wirkte aufgeräumt: „Meine Zukunft! Und ich bin sehr zufrieden damit“.
„Ja…aber das ist doch gar nichts auf dem Bild.“
„Eben!“ Titus lächelte und das Quietschen der Rollstuhlreifen auf dem Linoleumboden war so unbedeutend gegenüber dem geteilten Lächeln, welches die Gruppenleiterin ebenfalls mit in den Tag nahm.

Er erreicht den wogenden Wellenkamm des Strandhafers an der Dünenkante, gerade als die ersten schweren Regentropfen wie Geschosse auf dem Strand einschlagen. Beim Überstreifen der Kapuze trudelte eine weitere Message von Leto ein.
Ein Herzemoji, danach ein „immer…“.
Auf den ersten Moment hin sieht Titus sie in Gedanken wie so oft hektisch auf dem Weg zu einem Termin. Die Nachricht eben schnell in Eile schreibend in ihrem Auto. So verrückt, wie sie manchmal war, versuchte er sich gar nicht erst auszumalen, dass ihre zarten Finger womöglich während laufender Fahrt über die Smartphonetastatur flogen.

Titus beschließt, auf dem Rückweg durch die Dünen darüber zu sinnieren, welches Wort Leto da sich nicht traute auszuschreiben. Ein gutes Projekt für den Rest des Tages. So wie er sie kannte, würde sie sich dabei etwas gedacht haben.

Formung des Seins, ohne im Korsett eines linearen Lebensentwurfs zu verkümmern.
Gefangenschaft im Fangen segelt durch das Fangen im Gefangensein. Die Fesseln der Katastrophen schwelgen in der Flaute.
Aber überall dort, wo der feste Boden des Daseins vom Treibsand des Vergessens durchsetzt scheint, lohnt sich immer das Schweben auf schwimmenden Inseln.

Er wusste es sofort…

© Anchises65
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Tragisch schön!

Nur zwei "das" solltest Du noch in "dass" umwandeln.

*spitze* laf
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