Mein Selbstmord
Ich steige bedächtig die Stufen zur Brücke hinauf. Mein Herz schlägt nicht schneller als sonst, aber es scheint in wütendem Protest gegen meinen Brustkorb zu hämmern. Dies sind die letzten Augenblicke meines Lebens.Ich war heute Abend auf dem Geburtstag meiner besten Freundin, wir kennen uns noch aus der Schulzeit, wir hingen immer wie Saugnäpfe aneinander. Noch heute verstehen wir uns fast ohne Worte, manchmal genügt ein Blick und wir werden wie damals von Schulmädchenkichern geschüttelt. Es war eine wunderbare Feier - wie wir gelacht haben, ich war eine der letzten die ging.
Als ich in der sommerlichen Morgendämmerung auf der Strasse stand, beschloss ich, nicht nach Hause zu gehen, sondern durch den menschenleeren Park zum Rhein zu spazieren, das Grün, die Vögel und die taufeuchte Wiese, alles gehörte mir ganz alleine.
Es ist Sonntag, ich sah auf die Uhr – bald halb fünf.
Ich war glücklich. Nach dem lauten Fest war es hier so ruhig, dass ich meine Haut als Grenze zur Welt fühlte. Mein Glücksgefühl hingegen dehnte sich immer weiter aus, wurde Teil des Universums. Während ich noch diese ungewohnt sanfte Luft einsog, beschloss ich, auf die Eisenbahnbrücke zu gehen und herunter zu springen.
Ich wusste in diesem Augenblick genau, dies ist für mich der Tag zu sterben.
Ich will nie wieder sprechen, nicht mehr lachen, denken. Nicht mehr beherrscht oder ausgelassen sein, kein Mensch mehr sein, nur noch die Energie meiner Materie.
Jetzt steige ich bedächtig die eisernen Stufen der hohen Wendeltreppe hinauf. Ich versuche zu verstehen, warum ich so plötzlich diesen Entschluss gefasst habe.
Ich habe selten über meinen Tod nachgedacht, sicher hatte ich auch traurige Tage, aber noch nie ist mir ernsthaft in den Sinn gekommen, mich zu töten. Selbst wenn ich schneidenden Liebeskummer hatte, schien mir mein Tod nie eine Lösung. Eher hegte ich da schon Mordgedanken. Aber das ist alles lange her. Seit fünf Jahren lebe ich in einer Beziehung, wie ich sie mir immer erträumt habe.
Mein Leben ist makellos, ich müsste mich anstrengen, um etwas Belastendes zu finden. Nein, wenn sich jemand vor einer Stunde nach meinem Befinden erkundigt hätte, wäre meine ehrliche Antwort gewesen, dass es mir prächtig gehe. Auch jetzt geht es mir nicht schlecht, ich fühle dass meine Mundwinkel sich kleine Lächelnester gebaut haben. Nein, es geht mir wirklich nicht schlecht.
Obwohl ich völlig sicher bin, in wenigen Minuten von der Brücke zu springen, fühlte ich mich weder bedrückt, noch denke ich über mein Leben nach. Höchstens ein Anflug von Melancholie, der meinem leuchtenden Glück wie ein Kometenschweif folgt. Ich habe auch nicht das Gefühl, einem Zwang zu unterliegen. Ich habe Nachsicht mit den harten Schlägen meines Herzens, wundere mich nur, wie genau es meine Absichten lesen kann. Meine Hand liegt noch auf dem rostigen Treppengeländer, während ich sehe, wie die hellgelbe Sonne den Morgendunst inhaliert. Es wird wieder ein sehr heißer Tag werden. Ich werde ihn nicht mehr erleben, aber es ist gut so.
Vielleicht ist der Abschied von der Welt viel schwerer, wenn man dies aus Trauer, Krankheit oder Schuld tut. Dann gilt es abzuwägen, Gründe aufzuzählen, sich Rechenschaft abzulegen. Ich schwelge darin ohne Not, über mein Leben bestimmen zu können.
Mein Freund liebt mich, aber er wird darüber hinwegkommen. Während ich zur Mitte der Brücke schlendere, scheint mein Blut sich zu Champagner zu wandeln. Ich bin im völligen inneren Gleichgewicht, liebe das Leben ebenso wie den Tod.
Pflichtschuldig hake ich kostbare Erinnerungen an meine Familie und Freunde ab. Noch vor der Brückenmitte bin ich damit fertig. Noch nie hatte ich ein so starkes Empfinden, ein Teil der Welt zu sein. Trotzdem durchwandere ich mein Hirn und versuche ungewöhnliches zu entdecken. Ich will doch sicher gehen, nicht ein Opfer von Drogen zu sein.
Aber bis auf die Gewissheit, dass dies der richtige Augenblick zum sterben für mich ist, lässt sich dort nichts außergewöhnliches entdecken. Ich mache sogar den „mit geschlossenen Augen Finger an die Nase fassen“ Test und benutze den Streifen des Fahrradweges, um zu sehen, ob ich nicht schwanke. Alles ist in Ordnung, der Alkohol ist wohl inzwischen verarbeitet, keiner hat heimlich Drogen in den Krabbencocktail gemischt.
Ich bin achtundzwanzig, ich hatte ein wechselhaftes, aber sicher kein schlechtes Leben. Heute wird es zu Ende sein. Jetzt stehe ich hier, sehe hinunter in den Sog des Stromes. Meine Seele fliegt ihm entgegen, es ist kein Tod, ich werde nur Eins mit der Ewigkeit. Ich habe keine Lust mehr, mein albernes Herz zu beachten, dass sich ausgedehnt zu haben scheint, inzwischen hat es bereits meinen Hals erreicht und macht sich selbst tief in meinem Gedärm zu schaffen.
Erstaunt stelle ich fest, wie genau man wissen kann, wann der richtige Zeitpunkt ist, um zu sterben. Die Indianer wussten das auch; sie gingen dann auf einen Berg, wenn die Sonne aufging, befahlen sie ihrem Herzen aufzuhören zu schlagen. Heute kann das keiner mehr.
Wenn jetzt der Eindruck entstehen sollte, ich sein Esoterikerin, kann ich nur sagen, dass ich mich häufig in Diskussionen zu diesem Thema unbeliebt gemacht hatte, ob meiner rationaler Einstellung. Auch gehöre ich nicht zu den Anhängern von „live fast, die soon“. Die Vorstellung von Alter schreckt mich nicht. Mein Geist war mir immer wichtiger als mein Körper, obwohl das Schicksal mich auch hier vortrefflich ausgestattet hatte.
Während ich über das Geländer gebeugt in die Tiefe sehe, bemerke ich ein vorstehendes Gitter einen halben Meter unterhalb von mir. Das sollte kein Problem sein, nachdem ich über das Geländer geklettert bin, werde ich mich darauf hinab lassen und von dort aus springen. Selbst wenn der Aufprall nicht tödlich sein sollte, werde ich auf jeden Fall ertrinken, weil ich nicht schwimmen kann. Der Tod, den ich gewählt habe, birgt kein Risiko, er erforderte lediglich einen klaren Willen, mehr nicht.
Mit Nachsicht denke ich an Dinge, die Menschen wohl in den letzten Minuten ihres Lebens durch den Kopf gehen. Nebensächlichkeiten - die Erinnerung an das erste Mal, als man dem Schwan das Stückchen Brot gereicht hatte, an das schreckliche Vorsingen in der Schule, die erste Nacht alleine in einem Zelt voller Ameisen und Mücken, das abgerutschte Präservativ und die schrecklichen zwei Wochen Angst, den Geruch von Hühnersuppe, Shalimar, Welpen und Waldmeisterwackelpudding.
Ich bin erleichtert, nicht an all diese Banalitäten zu denken. Ein Schlepper fährt unter der Brücke durch, er zieht vier Kohlekähne. Ein weißer Hund läuft die Reling entlang. Ich muss warten, bis der letzte Kahn durch ist, schließlich will ich nicht mit gebrochenen Knochen auf einem Berg Kohlen landen. Wenn ich Schiffe vom Ufer betrachtete, hatte ich immer das Gefühl, sie bewegen sich kaum. Jetzt, von hier oben betrachtet, scheint das Schiff unter der Brücke hindurch zu rasen.
Wie wenig bewusst lebt ein Mensch. Ich habe immer versucht, jeden Augenblick auszukosten, in mich aufzusaugen und zu begreifen. Möglicherweise ist dies der Grund, dass ich schon in so jungen Jahren weiß: dies ist der Augenblick für mich, zu gehen.
Während ich zusehe, wie das Schiff weiter stromauf fährt, steigt mir der ekelhafte kalte Rauchgeruch meiner Haare in die Nase. Wie mag ich nur aus dem Mund stinken…, ich suche in meiner Tasche nach einem Pfefferminzbonbon und lege es mir unter die Zunge.
Wenn ich jetzt darüber nachdenke, eigentlich war diese Party heute Abend total langweilig und spießig. Ich erinnere mich, über welche Witze ich gelacht habe…, nein, daran will ich jetzt nicht denken.
Nicht ein interessantes Gespräch habe ich geführt, die Musik war viel zu laut und dazu noch schlecht. Angela hatte einfach einen Scheißmusikgeschmack, kein Rap, Soul oder Rock nur Techno, von abends acht bis heute morgen Techno, als wäre sie alleine auf der Welt. Aber die Gäste haben mich eigentlich auch alle nicht interessiert, Grafiker, Studiomusiker und eine überdrehte Goldschmiedin. In einem Wort alles Möchtegernkünstler.
Angela hatte auch Klaus eingeladen, obwohl sie genau weiß, dass ich ihm nicht mehr begegnen will. Natürlich ist sie trotzdem meine beste Freundin, rücksichtsvoll war sie ja noch nie. Dazu fehlt ihr einfach die Sensibilität, aber daran habe ich mich gewöhnt. Allerdings dass sie mir zumutet einen ganzen Abend mit Klaus zu verbringen, ist schon ein starkes Stück; wo sie doch genau weiß was er mir angetan hat.
Ärgerlich schlage ich mit der Hand auf das Geländer. Ich hatte fester geschlagen als ich dachte, es tut verdammt weh. In meiner Handfläche ist ein kleiner roter Punkt. Hier muss ein Eisensplitter stecken, ich habe eine sehr zarte Haut. Hoffentlich gibt das keine Blutvergiftung. Eigentlich sollte ich immer Handschuhe tragen; früher war dies bei Damen ja üblich, aber heute würden mich die Leute für affektiert oder, schlimmer noch, für krank halten.
Während ich über all das nachdenke merke ich, meine Stimmung ist zerstört, wie ein Soufflee in sich zusammengefallen. Ich bin selbstverständlich noch immer ein Teil des Universums, aber ich empfinde es kaum noch.
Natürlich kann ich trotzdem springen, aber es ist nicht mehr das selbe, es würde nicht mehr dieses Glücksgefühl sein, es genau im richtigen Augenblick zu tun.
Während ich langsam zur Uferstrasse zurückschlendere, fühle ich mich ruhig und ausgeglichen. Heute ist nicht der letzte Tag, an dem ich sterben kann, da bin ich mir völlig sicher.
Um halb sieben liege ich dann im Bett, greife aus dem unordentlichen Bücherstapel neben mir den Band, „Österreichische Erzähler“.
Ich beginne eine Geschichte über einen Leutnant zu lesen, ich glaube gleich schlafe ich ein………