Blutopfer
Unser Dasein war hart und entbehrungsreich. Ein kühler Sommer in der kargen Vegetation in der Höhenlage der rauen Mittelgebirgslandschaft.
Unsere Kolonie befand sich gut verborgen am Rande einer Magerwiese. Häufig drang in diesem Jahr der Regen in unseren Unterschlupf, alles war feucht und klamm.
Ständig mussten wir auf der Hut sein: Feinde, bedrohliche Wesen, überall rings um uns her.
Unsere Mutter hatte große Mühe, uns alle satt zu bekommen. Sie kümmerte sich aufopferungsvoll um uns. Sie sorgte allein für Nahrung, nachdem unser Vater bereits von einem der fliegenden Ungeheuer hinweg getragen worden war.
Viele unserer Freunde und Nachbarn hatten wir an die Bestien verloren, aber wir waren zahlreich genug, dass unsere Art sich behaupten konnte.
Auch von meinen Geschwistern waren schon mehrere den Feinden zum Opfer gefallen, als sie allzu neugierig das Gelände außerhalb unseres Lagers erkundet hatten. Am Anfang waren wir zu sechst, nun waren nur noch drei graubraune Gestalten übrig.
An diesem Abend kuschelten wir uns eng aneinander in unserem gut gepolsterten Lager, bevor wir im Schutze der Dunkelheit aufbrachen.
Unsere Mutter bewegte uns dazu, sie auf ihren Streifzügen in der Dämmerung zu begleiten. Sie musste uns lehren, selbst für unsere Nahrungsbeschaffung zu sorgen.
Wir huschten durch dunkles Dickicht, stopften uns die Backen mit trockenen Grassamen voll, tranken frisches, klares Wasser am nahe gelegenen Bachufer. Ab und zu ein wenig frisches Grün, die eine oder andere Himbeere, mühsam, schwerlich sättigend.
Plötzlich gab meine Mutter einen Warnlaut von sich.
Meine Geschwister traten geduckt den Rückzug an, schlichen in Richtung unseres Unterschlupfes und konnten diesen noch sicher erreichen.
Ich war ein wenig voraus gelaufen und zu weit weg vom schützenden Lager. Somit blieb mir nur die Chance, mich zu verstecken. Ich kauerte mich hinter der Blätterwand einer Pflanze zusammen. Zu spät!
Der Feind hatte mich gewittert, auch wenn er meine graue Silhouette im Versteck mit seinen schwarzen, kurzsichtigen Knopfaugen nicht ausmachen konnte.
Er kam unaufhaltsam heran gewalzt. Sein so plump wirkender Körper näherte sich mir unerwartet flink auf erstaunlich dünnen Beinen. Sein schrecklicher, stachelbewehrter Panzer wogte hin und her. Schon hörte ich sein Schnüffeln, sah seine glänzende schwarze Nase, unfähig mich zu rühren, spürte den feuchten Atem und duckte mich noch tiefer, in Erwartung des sicheren Todes.
Seine spitzen Gesichtszüge verzerrten sich zu einer riesigen gierigen Fratze, als er sein Maul weit aufriss. Ich konnte aus meinen vor Erschrecken weit geöffneten Augen seine nadelspitzen Zähne auf mich zu kommen sehen. Plötzlich nahm ich meine Mutter wahr, die sich todesmutig dazwischen warf. Das gefräßige Monster war kurz verwirrt, ließ jedoch davon ab, mich zu attackieren.
Entsetzt musste ich mit ansehen, wie die Zähne sich in das graue, weiche Gewand meiner Mutter bohrten. Sie wurde vor meinen Augen zermalmt. Ich hörte ihre zarten Knochen splittern, sie quiekte nur noch einmal kurz auf, hing dann regungslos im Maul der Bestie. Schmatzend begann die grausame Kreatur, meine Mutter zu verschlingen.
Nach dem ersten Schock konnte ich mich von dem grausigen Schauplatz hinfort schleichen. Ich war noch einmal entkommen, konnte mich zusammen mit meinen angstschlotternden Geschwistern in unserem Lager verbergen. Der grausige Anblick ließ mich nicht los:
Meine Mutter, die tapfere, zarte, graue Feldmaus im grässlichen Fang des gierigen, gefräßigen Igelweibchens...