Das neunte Türchen
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Zum Teufel mit Weihnachten
"Es sind nicht die ausgekrempelten Seelen…
Licht, welches nur scheint,
versprüht nur Funken ohne zu glühen…"
Zur Weihnachtszeit trifft man ja allerlei unterschiedliche Menschen. Während ich unter ihnen weile und mich an ihren warmen, erhitzten, schweißnassen Körpern reibe, dabei ihre strahlende Seele spüre, die die Luft um sie herum vor Erregung und Emotionen hell aufleuchten lässt und zum Wabern bringt, dann beobachte ich – besonders zu dieser Zeit - ihre Gefühlsregungen, die sich für mich in hell leuchtenden Farben darstellen.
Es gibt solche, die vor Freude übersprudeln. Sie leuchten sehr hell. Insbesondere diese jungen Menschen, Kinderseelen, die erst einige Jahre auf der Welt wandern, scheinen sehr intensiv - in einem sonnenähnlichen, weißen, fast unerträglichen und engelsgleichen Leuchten. Dieser Anblick schmerzt mich zutiefst. Es scheint gar nichts Trauriges und Böses in ihnen zu sein, alles ist voller Liebe, alles so perfekt, alles im Einklang!
Alte Menschen, die mit sich im Reinen sind, leuchten besonders intensiv. Vor allem dann, wenn sie mit ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln, mit ihrer Familie zusammen sind, dabei bilden sie eine Verbindung und Einheit zwischen Jung und Alt. Diese gemeinschaftlichen Seelen verbreiten eine Heiterkeit und Wärme um sich, so dass der ganze Raum um sie in Grellweiß leuchtet. Diese Idylle ist für mich abstoßend, dem kann ich mich nicht lange aussetzen. Es zehrt an meiner Energie und ich muss ihr ausweichen.
Dann gibt es noch die frisch verliebten Menschen, deren Seelen glänzen von weiß-rosa über pastellfarbenes gelb bis hellblau. Diese pastelligen Farben sind typisch für das Gefühl, dass sie Liebe nennen. Diese leuchtenden Seelen sind mir genauso zuwider wie Zuckerwatte, eklig süß.
Aber, Teufel sei Dank, hält diese Phase bei den meisten Menschen nicht lange an, häufig nur eine sehr kurze Zeit des Verliebt Seins. Sie verfallen irgendwann wieder in den normalen Alltag und ihre Seelen verfärben sich wieder in ein farb- und trostloses Grau.
Das Spektrum an unterschiedlichen Emotionen ist auf den Weihnachtsmärkten besonders vielfältig. Alle Farben des Regenbogens reichen nicht aus, um die Vielfalt der Gefühle und Emotionen in den Seelen der Besucher und Händler darzustellen.
Dort treffe ich die, die mich gleichermaßen abschrecken, besagte engelsgleich leuchtende Seelen. Sowie auch die, die aus meiner Sicht schon ein großes Potenzial aufweisen, in meine bevorzugte Richtung zu gehen. Das sind die gierigen Seelen, mit ihren aufgedunsenen Leibern, die Münder vor Fett triefend von all der Bratwurst, den goldenen Kartoffelpuffern, dem ölig frittierten Gebäck voller Zucker und dem Lebkuchen, mit seiner schmierigen dicken Schokoladenschicht. Ich sehe es an ihrer gelbgrün leuchtenden Aura, dass sie den Hals nie voll genug bekommen können, von all diesem Zucker und den fetthaltigen, sie weiter aufblähenden Leckereien.
Dann gibt es noch die alkoholsüchtigen Seelen, die in einem dunklen Blau leuchten, in Lila oder Petrol. Solche, für mich vielversprechende süchtige Seelen finden sich zuhauf auf den Weihnachtsmärkten. Sie glauben, dass sie dort, zwischen all den Massen an verschiedenfarbigen Seelen, nicht auffallen und sich verbergen können. Nicht zuletzt, weil sich viele ihres gleichen dort herumtreiben.
Es lohnt sich für mich besonders, unter diesen Menschen zu verweilen. Denn es gibt Gestalten, die sich - ähnlich wie ich - von dieser zuckersüßen Heiterkeit angewidert abwenden. Solche, die von der heiteren Menge flüchten, weil sie das Gefühl haben, nicht dazuzugehören. Diese köstlich grauen, nur äußerst schwach schimmernden Seelen, die so unscheinbar sind, dass sie in einer Nebellandschaft nahezu völlig unsichtbar wären und sich auflösen würden. Solche Seelen suche ich und labe mich an ihnen. Diese Seelen werden, ganz besonders in dieser Zeit der Lebkuchenfratzen und Glühweingrimassen immer trübsinniger, einsamer und damit zunehmend grauer. Sie fangen nahezu an, völlig zu verblassen und sich gänzlich unter den grellbunten Farben aufzulösen.
Während ich mich langsam zwischen den leuchtenden, ja regenbogenfarbenen Seelen auf der Jahresendkonsumorgie treiben lasse, sticht ab und zu so ein blasses Grau aus dem bunten Umfeld heraus. Beim Zusammentreffen mit den hell leuchtenden Seelen wirkt es nahezu wie ein schwarzer Fleck in diesem Flickenteppich der grellen Farben. Das ist meist ein Zeichen für Neid, Wut und Traurigkeit, die dann aufflackert in diesen einsamen, verlorenen Seelen. Je näher Heiligabend heranrückt, desto häufiger treten ihre schwarzen Flecken zu Tage. Durch den Kontrast zwischen der hell leuchtenden Heiterkeit und ihrem grauen Dasein werden die betrübten, zuweil wütenden Seelen noch deutlicher erkennbar.
Ich nenne diese einsamen Seelen die menschlichen Schwarzen Löcher. Im Gegensatz zum Schwarzen Loch im All, das alle Materie und Energie, sogar Licht anzieht und verschluckt, sind die menschlichen Schwarzen Löcher Energie abweisend. Je mehr sie sich in ihren depressiven, trübsinnigen und blassgrauen Mantel zurückziehen, desto mehr werden sie von den grellbunt leuchtenden Seelen übersehen oder gemieden.
Dann kann ich tief in ihren Gedanken ihre Ängste und die wachsende Unsicherheit erkennen. Resignierend und unscheinbar wie ein Häuflein Elend, ziehen sie sich meist mit einer Flasche Whisky oder Wein zurück, suchen einen Fluchtweg aus ihrem grauen Alltag und versuchen so, ihren Frust zu ertränken.
Am Vorabend des 2. Advent war Jan in der Großstadt Berlin auf dem Heimweg. Da er nur schnell beim Discounter das Nötigste für den Abend besorgen wollte, hat er sich nur sein „Stone Island Hoodie“ übergezogen. Das letzte Geschenk seiner Ex…
Es wurde schon langsam dunkel, die Kälte schlug ihm förmlich ins Gesicht. Eiligen Schrittes überquerte er den Weihnachtsmarkt, welcher sich über den gesamten Platz um die Gedächtnis-Kirche erstreckte. Normalerweise machte Jan einen weiten Bogen darum, er hatte es jedoch eilig und nahm diesmal die Abkürzung über den Platz.
Bunt strahlte die Weihnachtsbeleuchtung mit der betäubend lauten Musik um die Wette und der Menge an heiteren Menschen. Er hatte seine Mühe, dem auszuweichen, um schnell voranzukommen.
'War doch nicht so eine gute Idee, die Abkürzung über den Platz zu nehmen´ dachte er.
„Hey, passt doch auf! Vermaledeite... Arschlöcher!“
Das lachende Paar hatte ihn gar nicht bemerkt, wie sie mit Glühwein anstießen und dabei Arm in Arm schunkelten. Jan wurde richtig wütend. Dass die nicht aufpassen konnten. Ein verliebtes Paar, klar, die hatten ja keine Augen für andere. Sie erinnerten ihn an seine Ex und ihren neuen Lover. Das frustrierte ihn noch mehr. Er klammerte sich an seine Einkaufstüte, seinen Seelentröster. Ein bisschen Schnaps, zwei Flaschen „Castillo del Diabolo“ aus dem Angebot - und Chips.
Nach dem seine Frau ihn verlassen hatte, mit der Begründung, dass er seinen Alkoholkonsum nicht in Griff bekam, hatte er kurz darauf auch noch seinen Job bei Air Berlin als Flugzeugtechniker vermasselt, weil er wiederholt betrunken zur Arbeit erschien. Jetzt darbte er sein trostloses Dasein alleine in einer Drei-Zimmerwohnung in Berlin am Ku'damm. Bald konnte er sich die Miete auch nicht mehr leisten, dann würde er wahrscheinlich in der Gosse landen.
`Und die olle Zicke, die macht et sich schee mit ihrem Hannes uff de Malediven, oder war et uff Malle... Det is doch allet det jleeche, wo die sich rumtreibe, an der Sonne ebent und icke, muss mir hier den Arsch abfriern!`
Auf der Suche nach solch einem Kleinod, einer haltlosen Seele, trieb es mich in der Hauptstadt auf einem dieser bunten Plätze der zurschaugestellen Habgier und Zufriedenheit. Und dann endlich spürte ich dieses eine, unscheinbar graue Exemplar auf. Ein männliches Wesen, welches inmitten des heiteren Trubels von einem ausgelassen feiernden Paar angerempelt wurde. Seine Seele flackerte in einem schwarzgrauen, tief traurigen und wütenden Gefühl auf. Welches seiner Seele weitere düstere, tiefschwarze Flecken beibrachte, die sich immer mehr über seine schon schwache und dünne Aura ausbreiteten.
Seine Gemütsverfassung war so erfüllt von Finsternis, das der Mann einen dunklen Schatten um sich verbreitete, welche seine Aura weiter schwächte und nahezu völlig verschwinden ließ. Diese Finsternis weckte meine Aufmerksamkeit. Offensichtlich war er auf der Flucht und nahm den schnellsten und kürzesten Weg nach Hause. Ich witterte seine trübe Stimmung und folgte ihm sofort auf der dünnen, kaum sichtbaren Fährte. Die Schritte verloren sich fast auf dem dunklen Asphalt, doch sein Schatten zog mich magisch an. Ich heftete mich an seine Fersen. So eine freudlose Seele durfte ich mir auf gar keinen Fall entgehen lassen.
Es waren diese düsteren Seelen, scheinbar nur genährt von unsäglicher Wut, enormer Frustration bis hin zur Selbstaufgabe. Deren Bitterkeit über die Enttäuschung des Daseins, nicht erfüllter Träume und Gefühle. Genau diese Seelen, die meine Lebenssäfte erneuerten und auffüllten. Mein Elixier, das ich so dringend benötigte, an dem ich mich auflud und Kraft tankte.
Wie einfach wäre es doch, diese verlorenen Seelen ohne viel Federlesens einzusammeln. So wenig Energie, die sie noch hatten. Je näher ich ihm während der Verfolgung kam, desto intensiver konnte ich seine trüben Gedanken, seine Verzweiflung und seine Mutlosigkeit spüren. Ein Entzücken breitete sich in mir aus und ich saugte diese dunkle Energie voller Verlangen in mich auf.
"Dit is doch für die Katz, …" Jan gab ein tiefes Seufzen von sich, ein Atmen, ein langes Ausatmen. Sein ganzer Körper erbebte von seinem Schluchzen. “Ick hasse dieset Jesülze zu Weihnachten, dieset „Friede, Freude, Eierkuchen“. Ick will und kann dit nicht einfach mehr aushalten, dieset widerliche Jetue!"
Je mehr er trank, desto düsterer wurden seine Gedanken – einfach köstlich. Genau das war sie, die ideale, völlig verbitterte Seele, wie ich sie suchte, liebte, brauchte. Das waren mir die schmackhaftesten Happen.
“ Ick hasse meene Eltern dafür, dass sie mir auf diese Welt jesetzt habn! Ick hasse meene Ex, diese Schlampe, die sich eenen Dreck um mir schert und stattdessen sich in Malle die Sonne uff'n Wanst scheinen lässt. Aber am meisten hasse ick mir selber, das ick Unjlücksrabe mir nich von der janzen Scheiße lösen kann. Zum Teufel mit Weihnachten!"
Er schluchzte, seufzte, war zutiefst betrübt und er trank - inzwischen hatte er schon die dritte Flasche geöffnet und trank einfach immer weiter. Seine Seele wurde immer schwärzer und seine Lebensenergie schwand immer schneller.
“ Zum Teufel mit diesem janzen christlichen Quatsch! Dem Gerede von Nächstenliebe; und mit dit janzen Jedöns von Jeschenke und Heiterkeit. Wat nutzt dir mir allet, wat hab ick davon. Ick Jammerjestell sitze hier mutterseelen alleene. ICK hab niemanden, mit dem ick eenen Zwitschern kann. Dit is so eine verdammte Scheiße! Mein Leben hat keenen Sinn mehr!"
Jan hatte bereits so viel getrunken, dass er in sich zusammensackte. Er kauerte auf seinem Balkon und hatte nicht einmal mehr die Kraft und Energie, sich auch nur etwas aufzurichten. Es war dunkle Nacht und ein bitterkalter Wind wehte, das kleine Thermometer an der Wand zeigte -21 °C.
Ich brauchte nur noch wenige Momente zu warten, dann würde er wahrscheinlich den Kältetod sterben und meinen Triumph perfekt machen. Aufgedunsen vom Alkohol merkte er nicht, wie sein bisschen armseliges Leben aus ihm herausströmte wie der Alkoholdunst aus seinem Atem. Das waren die Augenblicke, in denen ich zupackte, mir diese traurige Seele nahm, von ihr Besitz ergriff und mich noch einmal an ihr labte. Ich sah das Grauen in seinen Augen, wie sich seine dunklen Pupillen weiteten in dem Moment, als er spürte, wie ich seine Seele packen wollte.
… einen kurzen Augenblick blitzten meine Augen triumphierend in einem dunkelroten Glühen auf. Ich hielt inne, denn ich erkannte, dass ich ihm dadurch nur eine Erlösung seiner Qualen schenken würde. Das jedoch würde mir keine Genugtuung verschaffen, so ließ ich von ihm ab und löste mich im Äther auf.
Jan erschrak, als er einen Ruck spürte; seine Augen erblickten 2 rot leuchtend Kreise, wie glühende Kohlestücke! Sie flößten ihm eine panische Angst ein. Fast zu Tode erschrocken hievte er sich mit letzter Kraft hoch und kroch ins warme Wohnzimmer zurück. Ins selbst zurückgeworfen, sank er müde auf das Sofa und schlief ein.
Jeder von uns ist sein eigener Teufel, und wir machen uns diese Welt zur Hölle. (Oscar Wild)
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