Das zwölfte Türchen
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Wellkamm Fjuhdscha
Lihroi Kwarnegger erwachte vom penetranten Durchdrington an seinem Kommunikations-Oszillator-Implantat, im allgemeinen Sprachgebrauch kurz ‚Kosim‘ genannt. Er spannte die Wangenknochen an und das üble Surren in seinem Schädel hörte augenblicklich auf, dafür aktivierte sich der Resma, der vollständig ausgeschrieben ‚Reactive-Smart-Screen-at-Home‘ heißen würde, was aber seit Jahren niemand mehr sagte; vielleicht, weil es schon niemand mehr wusste.
Ällis Sundstroms Blondschopf manifestierte sich aus dem grauen Rauschen auf dem Resma und Lihroi seufzte. Er schaute aufs Date-and-Time-Window und schüttelte den Kopf. Dann richtete er sich auf, immer darauf bedacht, dass sich ja kein Stückchen Bettdecke über seine Nacktheit schob. Wie erwartet bedeckte Ällis sofort ihre Augen mit einer Hand. „Lihroi, du Äss! Schalt sofort deine Imcap aus!“
„Geht klar, Schieboss.“ Er tippte mit einem Finger kurz an sein linkes Handgelenk, wo seit seinem 18. Lebensjahr die Kontrols implantiert waren. „Image Capture ist aus, Schieboss.“
Er klang müde. In dieser Jahreszeit gab es für einen Dronop kaum etwas zu tun, und so hatte er in der letzten Nacht ausgiebig gefeiert. Die Saison begann allerdings jedes Jahr früher und Lihroi befürchtete Schlimmstes. Der Umstand, dass ihn seine Vorgesetzte schon jetzt, noch vor Ende der Darkteim und überdies noch in seiner Preiflätt callte deutete darauf hin, dass es bald an die Wörk gehen würde.
Er rieb sich die Augen und überprüfte noch einmal das Date-and-Time-Window, was mehrheitlich nur noch Datwin genannt wurde. So wie Preiflätt eigentlich ‚Private Flätt‘, also private Wohnung, hieß und damit absolut tabu für jeden He-Boss oder She-Boss war. Dennoch hatte Ällis ihn hier gecalled, morgens um 07:43, mitten in seiner Frieteim. Er räkelte sich ausgiebig. „Was gibt’s, Schieboss? Sag nicht, dass Wörk losgeht?“
„Doch, Lihroi. Wir müssen einen Einsatzplänn machen. Getdress dich bitte und dann geh wieder auf Imcap. Ich will dir in die Augen sehen!“ Ihre Stimme klang ungeduldig, aber was erwartete sie an einem Tag wie dem 17. Dezember um diese Uhrzeit von ihren Dronops?
Lihroi seufzte und schlüpfte in seine Wörkswiet. Privatklamotten hatte er eh keine mehr, weil er seine Frieteim immer nackt verbrachte, wenn er allein war. Während der Wörk war er selten allein aber dennoch nackt, denn sein Job als Dronop eröffnete ihm höchst illegale Möglichkeiten, an willige Frauen heranzukommen, zumindest für einen Schortfack. Ihm war allerdings bewusst, dass Ällis eine diesbezügliche Ahnung hatte und gar nicht erfreut darüber war. Es gab schon viel zu viele Gerüchte über die Dronops, man munkelte, dass es bald staatliche Kontrollen geben sollte, aber das würde teuer werden und die überlebenswichtige Arbeit, die Lihroi und seine Kollegs verrichteten, deutlich behindern und vor allem verzögern.
Das konnte man sich im Jiar 2061 aber längst nicht mehr leisten. Der Kleimäht Dschäinsch war schneller und rapider ausgefallen, als alle Prognosen Anfang des Jahrhunderts für möglich gehalten hatten. Ab 2032 waren die Forschungen in Richtung Nanotechnik forciert worden und die ersten erfolgreichen Befruchtungen von Obstplantagen liefen bereits in 2036. Im Jiar 2042 meldete die UNO Bienen und andere Bestäubungsinsekten als ausgestorben. Danach ging es mit der Gilde der Dronops steil bergauf.
„Lihroi, träumst du? Schalt endlich dein Imcap ein!“ Ällis Stimme, die noch eine Spur ungeduldiger geworden war, riss ihn aus seinen Gedanken.
Er tippte wieder an sein linkes Handgelenk. Das Gesicht von seinem Schieboss verzog sich zu einem Grinsen. „Schon reddi-dressd? Sehr gut. Du wirst bald zu tun haben. Eine Woche, schätze ich, dann beginnt rund um Lähk Konstanz die Äppelblossom, also die frühen Sorten. Kannst Du einen Einsatzplänn dafür machen? Du kennst die dortige Kontrol-Stäschn doch schon?“
Lihroi nickte mechanisch. Irgendwie steckte ihm die letzte Nacht noch in den Knochen, vor allem der Leimes. Oder war es Zidräh gewesen? Er wusste es nicht mehr. In seiner Frieteim soff er, was das Zeug hielt. Und zwar allein. Doch damit würde nun Schluss sein, wenn die Wörk schon so bald wieder losging. Es wurde jedes Jiar früher.
„Wirklich schon in einer Woche, Ällis? Das wäre dann der 24. Dezember. Das ist doch Krismäs, Weihnachten!“
„Scheiß auf Weihnachten, Lihroi. Die Blüten müssen pollinäted werden und wir haben zurzeit niemanden in der Gegend, der dich unterstützen kann. In Jäipän steht die Tscherriblossom kurz bevor, wir mussten allein sieben Junits dorthin schicken. Und die Äppel vom Lähk Konstanz sind wichtig. Also: Zum Dewill mit Krismäs, klar?“
Lihroi winkte ab. „Alles klar, Schieboss. Ja, ich war schon mal da und ich mach’n Plänn. Kriegen wir hin.“
„Schick ihn mir, wenn du reddi bist. Ich hab noch ne Menge zu koordinäten. Ach, und Lihroi…“
Er horchte auf und blinzelte in die Imcap. „Ja, Schieboss?“
Sie lächelte. „Lass das Saufen sein. Musst bald wieder klier im Häd sein. Wörk geht los, alles Rodscha?“
Er nickte und tippte auf sein Handgelenk. Als er sicher war, dass ihn Ällis weder hören noch sehen konnte, murmelte er die Worte, die er gern einmal gegenüber einem Hie- oder Schieboss aussprechen wollte. „Fack ju.“
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Lihroi Kwarnegger saß im Kontrol-Ruhm und überwachte die Anzeigen. Er hatte siebzehn Schwärme unter sich, allesamt Wunderwerke der Nanotechnik. Ein Schwarm bestand aus etwa 200 Drohnen, auch Wörker genannt, die in Größe und Form viel Ähnlichkeit mit den früheren Bienen hatten. Jede Drohne war mit ungefähr zweitausend Mikrorobotern besetzt, die nicht einmal einen hundertstel Millimeter groß waren und im Jargon der Dronops Kliener hießen. Die Wörker bestäubten die Blüten, während die Kliener die Fruchtstände mit Botenstoffen impften, die das Wachstum beschleunigen und Schädlinge fernhalten sollten.
Von den siebzehn Schwärmen waren sechzehn schon seit Stunden im Einsatz. Den siebzehnten Schwarm hielt Lihroi aber noch zurück. Der war auf eine spezielle Einsatzart programmiert worden, von dem weder Schieboss Ällis noch sonst jemand etwas wissen durfte. Er wartete nur noch auf ein geeignetes Einsatzgebiet.
Die Sonne war spät aufgegangen, an diesem Vormittag des 24. Dezembers im Jiar 2061, der Frühfog hatte sich lange gehalten. Jetzt, um 12:33 Uhr strahlte das heiße Gestirn auf die dampfende Erde, und endlich, endlich erschien im Aufnahmebereich des Lied-Wörkers von Schwarm Siebzehn ein lohnendes Objekt.
Sie mochte zwischen zwanzig und zweiundzwanzig Jahre alt sein, dunkler Typ, vielleicht syrischer oder türkischer Abstammung, aber das würde die Genanalyse genau feststellen. Sie hatte schwarze, glatte Haare, lange Beine, und soweit das unter dem leichten Fleece-Stoff erkennbar war, eine recht nette Figur. Eine Joggerin. Lihrois Lieblingsziel. Joggerinnen achteten nicht so sehr auf ihre Umgebung, da hatte der Schwarm ein leichtes Spiel. Lihroi aktivierte den Enter-Code und Schwarm Siebzehn setzte sich in Bewegung.
Die ersten Wörker setzen programmgemäß all ihre Kliener an den Ohren der jungen Frau ab. Die Mikroroboter drangen durch die Gehörgänge in den Kopf ein, überwanden die Blut-Hirn-Schranke, erreichten den Neokortex und dockten zu tausenden an bestimmten Synapsen an. Es hatte Lihroi einen hohen Studienaufwand gekostet, diesen Vorgang sauber zu programmieren, jetzt funktionierte aber alles einwandfrei: Die Kliener mischten sich gezielt in den Botenstoff-Austausch des besetzten Gehirnes ein, während die Wörker sich zu den reizempfindlichen Körperstellen der Joggerin vorarbeiteten und dort mit einer emsigen, aber höchst subtilen Stimulation begannen.
Nach wenigen Minuten verlangsamte die junge Frau ihr Tempo und blieb plötzlich stehen. Die vier Beobachtungs-Wörker lieferten klare Bilder vom Erfolg der Mission. Sie fiel auf die Knie und griff sich in den Schritt. Auf ihrem Gesicht spiegelten sich Unglauben und höchste Erregung. Während sie ihren ersten nanotechnisch erzeugten Orgasmus erlebte, im Sonnenschein, direkt neben der Apfelplantage, aktivierte Lihroi den zweiten Teil des Programmes. Von nun an würden die Drohnen die Joggerin für den Rest des Tages in einer Art sich steigernder Dauergeilheit halten und dabei immer wieder Lihrois Bild in ihr Bewusstsein einspeisen.
Wenn er heute Afterwörk vor ihrer Tür stand, würde sie ihn für den fleischgewordenen Gott der Erotik halten. Einen Schortfack hatte Lihroi also sicher. Er grinste. Heute Abend, Heiligabend, Krismäs. Er nickte zu sich selbst. Was hatte Ällis gesagt?
„Zum Teufel mit Weihnachten – heute ist Schortfack angesagt.“
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