Das 13. Türchen
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Am See
„Guten Morgen meine Damen und Herren, zu einem Verkehrsunfall mit einem Krampus ist es in der vergangenen Nacht im tirolerischen Lengenfeld gekommen…“ Entnervt drücke ich die Off-Taste des Radiogerätes. Radio Tirol, die spinnen doch!
Es ist ein nebliger Dezembermorgen. Obwohl bereits die dritte Tasse Espresso neben mir steht, herrscht eine bleierne Schläfrigkeit. Ich schiele ab und zu auf das Mobiltelefon. Bevor mein Verleger anruft, muss meine Geschichte geschrieben sein. Wie in den letzten Jahren nehme ich an einer vorweihnachtlichen Geschichtensammlung teil und dieses Jahr gelingt es mir nicht etwas auf Papier zu bringen.
Nach einer weiteren Tasse mit dem Lebenselixier, zwei Zigaretten und einem Schluck vom giftgrünen Vitamintrank beschließe ich an den See zu gehen. Mit dicker Jacke, Schal und Handschuhen gegen Kälte und Nebel ziehe ich los. Im Oberdorf blinkt es bereits von Lichterketten und weihnachtlichen Kitschobjekten. Die Bäckersfrau ist dabei ein Schild mit dem Hinweis auf frische Printen aufzustellen. Wir grüßen uns durch Nebelschwaden. Bergab geht es vorbei an großen Hotels und erschreckend munteren Urlaubern, die bereits jetzt für die Feiertage angereist sind. Auf den weiten Auen zwischen den letzten verbliebenen Bauernhöfen sind schemenhafte Umrisse einzelner Kühe und Ziegen zu sehen und wären nicht ihre typischen Glockengeräusche zu hören, so könnte man sie auch für die Staffage eines umtriebigen Tourismusbetriebes halten.
Kurz vor dem See, in Sichtweite der Schiffsanleger, sehe ich die offene Tür eines Cafés. Leise Musik und Wärme dringen nach außen, Walter steht hinter der Theke, hantiert an der Espressomaschine und ruft mir ein munteres Servus zu. Wir wechseln einige belanglose Sätze, dann macht er mir ohne Aufforderung einen Cappuccino. Ich beschließe zunächst die Toilette aufzusuchen. Sie ist im hinteren Bereich des Holzbaus, dicht bei einigen im seligen Winterschlaf vor sich hin dümpelnden Holzbooten. Es quietscht, die Holztür klemmt vor Kälte und nur mit einem kräftigen Fußtritt öffnet sie sich. Sofort kneife ich die Augen zusammen, denn alles in dem kleinen Raum ist in seltsam rosafarbenes Licht getaucht. Die Wände, die Klobrille und der Spülkasten an der Wand sind rosaglänzend angestrichen. In schwarzen Lettern prangen am Spülkasten drei Wörter.
Permafrost – Penisneid – Paranoia.
Ich höre ein leichtes Schaben und Kratzen und dann sehe ich eine schwarze Hand hinter dem Kasten hervorkommen. Die Hand ist an einem langen Arm, der am Spülkasten entlang immer weiter zum Vorschein kommt. Jetzt erscheint ein schwarzer Kopf zischend und ich erkenne die Umrisse von kleinen Hörnern auf dem Kopf.
Klar, denke ich, wer Radio Tirol hört und den Unfall mit einem Krampus für wahr hält, der sieht später kleine Paranoia-Teufel. Doch da spricht eine raue Stimme plötzlich „Hey“. Die Gestalt klettert völlig hinter dem Kasten hervor und schaut mich an. „Du suchst eine Geschichte?“ „Ja, wie kommst du darauf?“ sage ich verdutzt. „Ich kann dir helfen! Höre mir zu und wenn dir meine Geschichte gefällt, so kannst du sie haben!“
Vor mir sitzt oben auf dem Spülkasten ein kleiner schwarzer Mann mit einem quastigen Schwanz, der sich dekorativ um sein rechtes Bein schlingt. In der linken Hand hält er eine Gabel, eine Mistgabel vermutlich!
„Du kannst die Geschichte haben, unter einer Bedingung natürlich.“ „Bedingung, welche Bedingung?“ flüstere ich und spüre wie mein Herz schneller schlägt. „Meine Bedingung ist, dass du mich in diesem Jahr in der sogenannten Heiligen Nacht begleitest und keine Fragen stellst.“
„Okay, so soll es sein“ sage ich leise. Es war mir nicht weiter möglich einen klaren Gedanken zu fassen in dieser bizarren Situation. „Na dann mach es Dir mal auf der Klobrille gemütlich!“ Wie geheißen setze ich mich auf das rosa Oval und schaue ihn fragend an.
Mit einem Sprung wechselt er die Position, schwingt ein wenig am Papierrollenhalter, klettert dann gegenüber auf die Tür und schlägt die schwarzen samtigen Beine übereinander.
„Vor langer Zeit“, so beginnt er, „als die Welt noch jung war und der Permafrost weite Landstriche unter sich gefangen hielt, lebte hier am See eine Gruppe von Urmenschen. Sie bauten ihre Hütten auf Pfählen in den See, um sich vor gefährlichen Tieren zu schützen und auch heraneilende Feinde besser abzuwehren. Es war ein zumeist friedliches Leben über lange Zeiten. Generationen kamen und gingen. Der See hielt immer genug Nahrung bereit und auch die in dieser Gegend zahlreichen Waldtiere erbrachten Felle und Fleisch. Eines Tages kam über den höchsten Berg eine Gruppe von Eindringlingen. Anders als die ortsansässigen Bewohner trugen diese keine Felle, sondern waren völlig unbehaart und nackt. Das erstaunte die Einheimischen sehr, besonders die Frauen. Fasziniert richteten sie ihre Blicke auf die vor Kraft strotzenden Kerle, die alle über außerordentlich geformte Gliedmaßen verfügten und deren Penisse sich in einer beeindruckenden Größe schwungvoll nach oben bogen.
Wie es zu diesen Zeiten üblich war, beobachtete man sich eine Weile. Als man sich sicher war, die friedliche Absicht des Besuches annehmen zu können, fingen die Frauen und Männer an zu kochen und richteten ein großes Gelage aus. Dabei wurde alles, was die Natur zu bieten hatte, aufgetischt und man saß dicht an dicht rund um das Feuer. Die Verständigung erfolgte über Zeichen und unterschiedlichste Lautierungen. Man fasste Vertrauen zueinander, einige Instrumente aus Geierknochen wurden aus den Hütten geholt und zur aufklingenden Musik begann mit vorsichtigen Schritten der Tanz. Einer der Fremden zog aus seiner Felltasche einen Trinkschlauch mit dem Extrakt vergorener Früchte. Reihum nahm jeder einen Schluck und es dauerte nicht lange, bis sich die ganze Gruppe in hemmungslosem Treiben wiederfand. Dies geschah ohne jegliche Furcht und Scham. Besonders erfreute man sich an den Berührungen von fremder Haut und dem außerordentlichen Durchhaltevermögen der fremden Manneskraft.
So ging es lange Zeit bis die Nachtkälte alle in die Hütten trieb. Selbstverständlich nahm man die Besucher auf und es legte sich die Dunkelheit über den See.
Am nächsten Morgen, als die Auswirkungen des nächtlichen Gelages nachließen, fanden die Männer vom See ihre Frauen fast ausnahmslos in den Armen der unbekannten Besucher wieder. Da stieg in ihnen Zorn auf, denn was diese Männer so besonders machte, konnten sie selbst nicht bieten. In wilder Wut beschlossen sie die Eindringlinge zu vernichten. Sie holten Stöcke und Steine, trommelten die ganze Gruppe zusammen und jagten diese zum Leidwesen der Frauen aus den Hütten. Doch damit nicht genug, sie verfolgten sie bis zum Ausgang des Tales und lieferten sich unterwegs tödliche Zweikämpfe.
Zurück bei ihren Frauen ging das normale Leben weiter. Allerdings nach einigen Monden kam es zu sichtbaren Ergebnissen des wilden Treibens mit den Fremden. Es wurden Kinder geboren, die ebenfalls über außergewöhnliche schöne Gliedmaßen verfügten und deren Herkunft ohne Zweifel nicht von den Seebewohnern stammte. Darüber waren die Männer erneut wütend und sie beschlossen ihre Frauen und Kinder zu verlassen, sich auf die Suche nach den Fremden zu machen und Rache zu üben. Der nackte Penisneid war ihr Antrieb. Die Frauen aber lächelten still in sich hinein, denn ein Leben ohne ihre Männer erschien sehr verlockend. Außerdem wussten sie um die Weiterentwicklung ihrer starken Kinder und waren zufrieden.
Die besonderen Körpermerkmale vererbten sich in allen folgenden Generationen und so kommt es, dass bis heute noch die Einwohner am See über außergewöhnliche Schönheit, aber auch über ein Gespür für besonderes erotisches Raffinement verfügen.“
„Oh“, sagte ich leise und schmunzelte in mich hinein, denn das ist mir nicht neu.
„So, das ist die Geschichte, willst du sie haben?“
„Ja, halt, aber woher weißt du von dieser Geschichte kleiner schwarzer Mann?“
„Ich war dabei!“
„Du warst dabei?“
„Ja, aber das ist mein Geheimnis!“
„Wie, dein Geheimnis?“ Und dabei fiel mein Blick zwischen seine Beine auf einen beeindruckend gebogenen Penis.
„Du triffst mich heute Abend an der Brücke über der Ache. Dann werde ich Dir einige Leute vorstellen und wir werden sehen wie der Abend weitergeht. Außerhalb der Menschenwelt gibt es Räume, die sich nur ganz selten öffnen, aber schon immer da sind. Manchmal kommt es vor, dass eine Öffnung stattfindet und Menschenkinder hinüberblicken dürfen. Nur ganz selten dürfen sie diese Räume sogar betreten. Am 24. Dezember ist so ein Tag, du wirst mich begleiten und wir werden viel Spaß haben…“
Elegant schwingt er sich wieder hinter den Spülkasten und ist im gleichen Moment verschwunden.
Völlig benommen verlasse ich den kleinen Holzverschlag. Bei einem Blick über die Schulter glitzern die drei Wörter auf dem Spülkasten silbern…
Walter steht immer noch hinter der Theke und schüttelt den Kopf. „Was machst Du denn so lange auf der Toilette? Der Cappuccino ist ja eiskalt!“ Hektisch trinke ich eine frische Tasse, murmele, dass ich nach Hause muss und verlasse das Café. In meinem Kopf läuft ein Film ab, den ich unbedingt aufschreiben muss. Mein Verleger wird es nicht fassen. Und dann lässt die Aussicht auf neue Erlebnisse am 24. Dezember Hoffnung auf eine mögliche Fortsetzung zu? Ich ertappe mich wie ich kleine Luftsprünge mache. Freudige Erregung oder wie nennt man dieses Gefühl?
Im Oberdorf angekommen werfe ich einen Blick in Richtung der Brücke. Die Nebel sind verschwunden. Vereinzelt sieht man Winterwanderer und Kinder, die von der Schule kommen. Da fällt mir Hubert ein, der Skilehrer, ob er auch eine entsprechende Abstammung hat? Und Stani, Gerhard, Toni, Franzl, Rudi und wie sie alle heißen…
Ich renne die Stiegen zu meiner Wohnung hinauf und höre beim Türöffnen bereits das Telefon. „Der wird Augen machen“ spreche ich grinsend vor mich hin. „Zum Teufel geht’s an Weihnachten!“ rufe ich munter ins Telefon, bevor ich merke, dass es gar nicht der Verleger ist.
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