Das sechzehnte Türchen
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BORGWARD ISABELLA
Frohe Weihnachten?
„Glück sieht anders aus.“ Er wollte die Zweifel nicht wahrhaben, die sich aus den Tiefen seiner düsteren Gedanken erhoben, wie Gärgase der Verrottung über einem Sumpf. Geschenke musste er noch besorgen. Für die Kinder, die verwitwete Schwiegermutter und Ilse, seine Gemahlin. In seinen Erinnerungen klebten süße Bilder von glücklichen Weihnachtstagen, als die Kinder noch klein waren. Sie feierten in der engen Wohnung über der Werkstatt in der Innenstadt. Die Kleinen freuten sich über die beleuchtete Yuccapalme, eine Tanne brauchten sie nie. Manni übernachtete freiwillig auf dem Klappsofa im Wohnzimmer, dafür schlief die Schwiegermutter mit Ilse im Ehebett. Als Gegenleistung konnte er nach Bescherung, Weihnachtsliedern und Christmette, mit Ilse um die Häuser ziehen und in ihren angestammten Szenekneipen feiern, während Ilses Mutter über die selig schlafenden Kinder wachte. Am nächsten Morgen ein ausgiebiges Frühstück und ein ausgedehnter Spaziergang am Elbufer, um den Kater aus dem Kopf zu vertreiben. Im Stamm-Café Freunde treffen und die Kinder mit heißer Schokolade beglücken. Es war alles so einfach und so leicht – damals.
Heute Morgen noch drückte die von Erwartungen überladene Weihnachtszeit auf sein Gemüt, als wäre ein SUV von der Hebebühne gerutscht und stünde mit einem Vorderrad auf seinem Brustkorb. Der Anruf von Ilse, welcher ihn am späten Nachmittag erreichen würde, sollte ihm einen letzten Stich versetzen, doch zugleich für neuen, freien Atem sorgen. Der SUV stünde wieder auf der Hebebühne und Manni könnte in Gedanken die Werkstatt für immer verlassen ...
Kurzschluss
Dieser Tag begann so, wie er für viele Männer kurz vor Weihnachten beginnt. In letzter Minute konnte er sich mit dem Gedanken befassen, für seine Familie Weihnachtsgeschenke zu besorgen. Natürlich stand er um neun Uhr bereits im Stau, der die Innenstadt einschloss wie die Belagerung durch die Schweden im Dreißigjährigen Krieg. Als zum gefühlten 121sten mal „Last Christmas“ aus dem Radio plärrte, schlug er mit unkontrollierter Kraft auf das Entertainment-Element seines gepflegten Firmenwagens ein. Das Display splitterte, aber Georg Michael trällerte ungehindert weiter. Im selben Moment ruckelte sein Fahrzeug mit einem dumpfen Knall. Der Hintermann, ebenfalls im Georg-Michael-Koma, war seinem Wagen auf die Stoßstange geknallt. Manni stieg aus. Er reagierte nicht unkontrolliert wütend. Er schaute dem Mann direkt in die Augen, der schüchtern und gestresst durch die feuchte Windschutzscheibe stierte. Manni spürte den Impuls, jemandem Schmerzen zuzufügen, aber er beließ es dabei, am Wagen des Unfallverursachers den Außenspiegel schwungvoll abzutreten und mit einer kurzen Bewegung seiner linken Hand die Antenne abzuknicken. Georg Michael verstummte im Wagen des völlig verdatterten Unfallverursachers. Danach verließ Manni die Szene wortlos und ließ seinen eigenen Wagen mit laufendem Motor und offener Tür einfach stehen. Der Radiomoderator kündigte die Kelly Family mit „An Angel“ an.
„Singende Altkleidersammlung“, dachte sich Manni, „wieso ändert sich nichts in all den Jahren?“
Irrwege
Dabei hatte sich so viel geändert in seinem Leben. Sein Aufstieg vom einfachen KFZ-Lehrling zum Edelschrauber der gehobenen Gesellschaft war meisterhaft. Sein Vater, damals ständig besoffen, hatte es immerhin geschafft, Manni bei Kalle eine Lehrstelle zu beschaffen. Mannis Mutter war zu der Zeit schon längst über alle Berge. Kalle fand Gefallen an dem Lehrling, der nach anfänglicher Schüchternheit es verstand, mit den Kunden freundlich und sachlich den Kontakt zu pflegen. Kalle war maulfaul, Manni entdeckte seine eigene Begeisterung an der Kommunikation, gerade wenn es um schwierige Fälle ging.
Als Helmut Kohl von Gerhard Schröder abgelöst wurde, stürzte Kalle in der Werkstatt in die Grube und brach sich alle Knochen. Manni kaufte sich in die Werkstatt ein und wurde bald sein eigener Herr, nachdem klar wurde, dass sich Kalle niemals von diesem Unfall erholen würde. Wie auch, wenn er sich nicht mehr bewegte, unzufrieden mit dem Leben den Puls ständig auf 180 peitschte und sich nur noch von Bier und Bratwürsten ernährte? Sich nicht aufregen und nicht schimpfen tat Kalle nur noch, wenn er im Rollstuhl auf dem Werkstatthof seine selbstgedrehten Schwarzer Krauser rauchte. Kalle starb zwei Jahre später mit verfetteter Leber und einem verbliebenen halben Lungenflügel an den Folgen eines Schlaganfalls.
Manni wurde schnell mit Kalles Erben einig und übernahm den Laden komplett. In der Zwischenzeit wandelte sich sein Stadtviertel von der einstigen Schmuddelecke zur schicken Wohngegend im Speckgürtel der Stadt am Ufer der Elbe. Während gammelige Siedlungshäuser der dreißiger Jahre abgerissen wurden, um durch sterile Wohnanlagen oder teure Villen ersetzt zu werden, modernisierte Manni den Betrieb Schritt für Schritt. Als hätten die neuen Grundbesitzer in den Ruinen der einstigen Arbeitersiedlung jede Menge alter Fahrzeuge gefunden, kamen immer mehr wohlhabende Kunden in seine Werkstatt, um sich ihre Oldtimer pflegen zu lassen. Geld spielte für die meisten Kunden keine Rolle. Ihre alten Autos waren Spielerei und Wertanlage zugleich. Man hängte sich keinen Picasso mehr in die Wohnung, man stellte sich alte Porsches, Opels oder Borgwards in die beheizte Doppelgarage.
Manni mauserte sich zum Fachmann, der lobende Erwähnungen in den einschlägigen Fachzeitschriften erreichte. Darum wurde er auch von Ersatzteillieferanten auf Messen und Ausstellungen eingeladen. Auf einer dieser Messen begegnete er Ilse. Besser gesagt: Sie begegnete ihm. Noch treffender: Sie überfuhr ihn. Im Nachhinein konnte Manni nicht sagen, ob es ihr tapsiger Charme war oder einfach nur die Unfähigkeit eines Kindes, das mit dem goldenen Löffel im Mund aufgewachsen war. Trotz aller Ehewidrigkeiten musste er immer wieder über diese Episode schmunzeln, wenn sie ihm in den Sinn kam:
Ilse würgte ihren Borgward Isabella Cabrio, Baujahr 1959, in der Einfahrt zum Essener Messegelände ab. Kalle stand zufällig daneben, hörte das erfolglose Jaulen des Anlassers und das wütende Hupen der andere Klassiker, die auf das Messegelände wollten. Sie sah hinreißend aus, in einem roten Kleid mit großen, weißen Punkten, dazu trug sie über ihren Locken ein Kopftuch im Stil der fünfziger Jahre. Die Augen verdeckte eine passende Sonnenbrille, deren Gestell weit und spitz über ihr schmales Gesicht hinausragte.
Manni schob ihren Isabella mit Hilfe weiterer Passanten auf die Seite, um die Fahrbahn wieder frei zu machen. Danach bat er sie, die Motorhaube zu entriegeln. Zuerst dachte er an einen Fehler in der Zündspule, eine typische Schwachstelle der Isabellas aus diesem Baujahr. Bald stellte sich jedoch heraus, dass zwischen Verteilerfinger und -kappe kein Kontakt bestand, da die Feder nicht mehr genug Druck ausübte. Mangels Ersatzteile überbrückte er den Kontakt mit einem Stück Stanniolpapier, welches er von einer Kaugummiverpackung noch in der Hosentasche trug.
Manni bat Ilse, den Motor zu starten, während er vor der aufgeklappten Motorhaube stand. Ilse startete. Es funktionierte. Die Isabella sprang an. Dummerweise hatte Ilse in ihrer Aufregung vergessen, den Gang heraus zu nehmen. Der Wagen machte einen Satz nach vorne, Manni fand sich halb liegend, halbsitzend unter dem Fahrgestell wieder und der Motor erstarb aufs Neue.
Später trafen sie sich an der Hotelbar wieder, Ilse zeigte sich spendabel, um sich für diese unglaublich peinliche Panne zu entschuldigen, was Kalle gar nicht für nötig befand, da er begeistert war von ihren Brüsten, derer er sich nachts in ihrem Zimmer annehmen durfte. Die Formen ihres Körpers waren tausendmal sinnlicher als jene kalten Blechkarossen, die hundertfach auf dem Messegelände ruhten.
Die Isabella gehörte nicht Ilse, sondern ihrem gut betuchten – und ebenso betagten – Vater. Er sammelte die Klassiker aus dem deutschen Wirtschaftswunder. Neben der Isabella waren da noch ein super breiter Diplomat B, ein schnittiger Karmann Ghia, ein 1955er Mercedes-Benz 300S und die Diva aus Frankreich. Ihr Vater liebte alles aus dieser Zeit, in der er vom einfachen Baulehrling mit Migrationshintergrund zum Baulöwen mit lokalpolitischem Einfluss mutierte. Manni kam ihm als Schwiegersohn genau recht. Ilses Vater hatte genug von diesen Universitäts-Schnöseln, die wie seine Tochter einem nutzlosen Studium der Geisteswissenschaften nachgingen. Germanisten, Historiker und Soziologen langweilten ihn zu Tode – und dieser würde noch früh genug kommen. Er wünschte sich nichts weiter, als endlich Enkelkinder zu haben, die er in einem seiner Oldtimer durch sonnige Landschaften kutschieren durfte.
Seine Wünsche wurden erhört. Manni schwängerte Ilse auf den umgelegten Sitzbänken eines Schneewittchensargs von Volvo, nachdem sie an einem lauen Sommerabend in der Werkstatt einen lohnenden Rechnungseingang mit einer Flasche Champagner gefeiert hatten. Danach kam das, was immer kommt. Heirat, erster gemeinsamer Haushalt in der Drei-Zimmer-Wohnung über der Werkstatt, zweites Kind, Hausbau im Speckgürtel der Stadt. Manni war zufrieden und zum ersten Mal in seinem Leben satt, ruhig und glücklich.
"Männlein, Männlein, Timpe Te,
Buttje, Buttje in der See,
Meine Frau, die Ilsebill,
Will nicht so, wie ich wohl will."
Manni wollte sein Leben zu einem langen, ruhigen Fluss machen, Ilse wollte höher, schneller, weiter. Es rächte sich, eine Frau aus reichem Hause und einer viel höher gestellten Gesellschaft geheiratet zu haben. Beim dritten Kind wurde ihr das Haus zu klein, der erste Bau musste verkauft werden, um mit einer waghalsigen Finanzierung ein kleines Schlösschen zu errichten. Er stürzte sich in noch mehr Arbeit mit zwei weiteren Filialen, worunter seine Gesundheit litt und sein Gemütszustand in einem Burnout mündete. Weihnachten fand öfter statt als einvernehmlicher Sex im fünfzig Quadratmeter großen Schlafzimmer.
Stadtgespräch
Manni hatte die Revue seines Lebens durch seinen Kopf gleiten lassen, während er ziellos durch die Stadt irrte. Er versuchte noch, Ideen für Geschenke zu finden, um seine konsumorientierten und ihm mittlerweile völlig entfremdeten Kinder zu beglücken. Beim Gedanken an Geschenke für Ilse setzte sein Verstand aus. Sie hatte die letzten zwanzig Jahre alles bekommen, was sie wollte. Von ihm selbst war nichts weiter übrig als eine leere, geistlose Hülle, die Manni hieß.
Unvermittelt wurde er aus seinen Gedanken gerissen, als er realisierte, dass er vor der Stammkneipe seines Vaters stand. Sein alter Herr gehörte nicht zur feinen Familie, Manni konnte sich kaum daran erinnern, wann er ihn zum letzten Mal zu Gesicht bekommen hatte. Spontan trat er ein. Er erkannte ihn sofort, ein kleines graues Männchen, das zusammengesunken an der Theke saß. Manni trat von hinten an seinen Vater, legte ihm die Hand auf die Schulter flüsterte ihm ins Ohr:
„Frohe Weihnachten – und entschuldige, dass ich nie ...“
„Alles in Ordnung, Manni. Bei mir muss sich niemand mehr entschuldigen. Dafür ist mein Leben nicht mehr lange genug.“
Sie umarmten sich innig. Manni konnte sich nicht daran erinnern, seinem Vater jemals so nahe gewesen zu sein. Als sie sich wieder voneinander lösten, raunte der alte Mann seinem Sohn schmunzelnd zu:
„Ich habe schon von deinem Wagen gehört, der die Innenstadt blockiert. Lass mich raten: Es läuft nicht so gut mit deiner Ilsebilse?“
Es folgte eine lange Aussprache mit viel Schnaps und Tränen. Sie erkannten familiäre Wiederholungszwänge und befreiten sich gegenseitig von jeglicher Schuld. Mannis Vater verlangte nichts von seinem Sohn, aber Manni wurde klar, dass er in Zukunft mehr Zeit mit seinem Vater verbringen wollte. Spontan entstand eine kleine Weihnachtsfeier, denn Manni konnte ebenso gut sein Geld hier ausgeben, als es zum Wohlgefallen seiner Konsumfamilie dem Einzelhandel zu spenden. Manni lernte jede Menge skurriler Freunde seines Vaters kennen. Dies war keine asoziale Kaschemme, dies war der letzte ruhige Platz für ehemalige Ärzte, Akademiker oder Abgeordnete, die einfach nur noch ihre Ruhe haben wollten. Das letzte Refugium für alte, weiße Männer.
Ilses Anruf
Mannis Mobiltelefon vibrierte. Er hatte die letzten Stunden keinen Gedanken an sein Smartphone verwendet. Als er es in die Hand nahm, sah er unzählige, unbeantwortete Anrufe. Er berührte das grüne Symbol und hielt sich das Gerät ans Ohr, ohne ein Wort zu sagen. Dafür strömten hasserfüllte Worte lautstark zu Mannis linkem Ohr hinein und zum rechten wieder heraus:
„Bist du komplett wahnsinnig? Die Polizei macht mir hier die Hölle heiß, weil du dein Auto mitten auf der Straße mit laufendem Motor und offenen Türen abstellst. Bist du komplett von allen guten Geister verlassen? Wir schämen uns hier für dein Verhalten, du bist schon das Stadtgespräch. Warum tust du mir das an? Gewalttätig bist du jetzt auch noch geworden. Ich wusste es doch immer, dass so einer wie du immer ein grober Rohling bleiben wird.
Es wäre am besten, du ziehst zu deinem versoffenen Vater, wer weiß, was uns hier zuhause sonst noch für Gefahren drohen!“
Manni berührte den roten Knopf auf dem Display und steckte das Mobiltelefon einer Frau in die Handtasche, die gerade seinen Platz auf dem Barhocker passierte, um das Lokal zu verlassen. Wenig später verabschiedete er sich von der Runde und versprach seinem Vater ein baldiges Wiedersehen, vielleicht in zwei oder drei Monaten. Manni bestellte sich ein Taxi und ließ sich zu einer Fahrzeugvermietung am Rande der Stadt bringen. Unterwegs ließ er den verblüfften Taxifahrer an einem Campingladen anhalten, um sich einen winterfesten Schlafsack zu kaufen.
Es dauerte etwas, bis er sich mit dem Fahrzeugvermieter einig wurde, denn schließlich kommt es nicht so oft vor, dass jemand mit Schnapsfahne vorbeikommt, um für sofort ein Wohnmobil zu leihen, um noch auf dem Hof die erste Nacht darin zu verbringen. Die lange Mietzeit von drei Monaten und eine kleine, finanzielle Zuwendung konnten den Vermieter schließlich überzeugen und ließen ihn darüber hinweg sehen, dass wilde Wohnmobilübernachtungen in der Stadt nicht erlaubt sind.
Als sich Manni in seinen dicken Schlafsack einrollte, fühlte er sich erstmals seit langem ruhig und gelassen. Morgen würde er eine lange herbeigesehnte Reise antreten. Mit einem tiefen Seufzer brummelte er noch die Worte „zum Teufel mit Weihnachten“ und schlief augenblicklich tief und fest ein.
Die Borgward Isabella, die noch immer in der Werkstatt eingelagert stand, würde er zu Weihnachten an seinen Vater liefern lassen.
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