Das siebzehnte Türchen
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Zum Teufel mit Weihnachten
Nachdenklich mustert sie ihr Spiegelbild im kleinen Badezimmerspiegel. Traurige, rot geweinte Augen blicken ihr aus einem verquollenen Gesicht entgegen, als Resultat einer weiteren durchweinten Nacht. Wieder einmal hatte sie vergebens auf ihn gewartet. Wieder einmal konnte er wegen einer der vielen großen und kleinen Katastrophen, die halt so im Leben passieren, nicht kommen. Wieder einmal hatte sie sich auf eine Nacht mit ihm gefreut, auf einen schönen Abend, mit ihm einschlafen, seine Nähe und seine Wärme spüren, sich festhalten, Zärtlichkeiten, aber, wie so oft in den letzten Jahren, dann doch vergebens. Sie schilt sich selbst eine Närrin, dass es ihr immer noch weh tut. Er, das ist der Mann, bei dem sie sich endlich angekommen fühlte. Sie erinnert sich noch genau, wie alles begann.
Eigentlich mehr eine Zufallsbekanntschaft im World Wide Web. Dennoch hatte seine erste Mail sie von Anfang an gefesselt. Die Worte, die er wählte, seine Art des Schreibens - sie spürte so etwas wie eine Seelenverwandtschaft. Nach vielen Wochen des Schreibens und auch mal ein Telefonat standen sie sich endlich gegenüber. Ihre Blicke tauchten ineinander und sie konnte es kaum erwarten, bis er sie endlich das erste Mal in den Arm nahm. Ein unendliches Glücksgefühl. Sie war sich sicher: Das war der Mann für den Rest ihres Lebens. Sie schwebte auf Wolken, konnte nur noch an ihn denken. Tägliche Anrufe, sanfte Liebesworte, Zukunftsträume. Das volle Programm des Verliebtseins.
Dann der tiefe Fall von Wolke sieben als sie herausfand, dass er verheiratet ist. Alle Zukunftsträume geplatzt in wenigen Minuten. Dennoch blieb sie bei ihm, glaubte immer wieder den neuen Versprechungen, dass alles besser würde, sie eine gemeinsame Zukunft hätten, weil sie es glauben wollte. Sie konnte sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen. Wenn sie die Augen schloss, sah sie sein Gesicht. Sie kannte jede Stelle seines Körpers, würde ihn mit verbundenen Augen aus allen Männern dieser Erde herausfinden, nur durch ihre Berührungen. Die ganze Liebe ihres Herzens gehörte nur ihm. Sie zehrte von den wunderschönen gemeinsamen Stunden, den seltenen kurzen Urlauben, den Wochenenden, an denen sie so unsagbar glücklich mit ihm war. Nur zu seinem eigentlichen Leben, gehörte sie nie. Bis heute kannte sie weder seine Kinder noch sonst jemanden aus seiner Familie. Das war alles seiner Frau vorbehalten.
Ihr Blick kehrte zurück zu ihrem Spiegelbild. Wo ist sie nur jetzt im Moment, die Frau, die die Menschen fasziniert mit ihrer Ausstrahlung, sie in ihren Bann zieht? Tagtäglich erntet sie bewundernde Blicke, erhält Komplimente, sie liebt den Umgang mit Menschen. Das ist ihr Leben. Natürlich gibt es auch Männer, die sich mit ihr verabreden möchten, aber das ignoriert sie. Ihr Herz sehnt sich nur nach ihm. Sie läuft durch die Straßen, sieht überall Paare, die zusammen einkaufen, spazieren gehen, ihr gemeinsames Leben leben. Sie fühlt sich allein.
Die wenigen Stunden, die sie am Wochenende gemeinsam haben, reichen für Vieles, das eigentlich zu einer Beziehung gehört, einfach nicht aus. Kinobesuch, ein Shoppingtag, Ausflüge, Veranstaltungen – alles sehr rar gesät auf ihrem Lebensplan. Geschweige denn das Gefühl: Da gibt es jemand, der abends auf Dich wartet, wenn Du nach Hause kommst, in dessen Arme Du das erlebte des Tages abschütteln kannst. Wie lange wird sie das noch durchhalten?
Morgen ist Heiligabend – der dritte, seit sie sich ein Paar nennen. Sie wird ihn wieder allein verbringen. Ihr Herz krampft sich zusammen bei diesem Gedanken. Sie erinnert sich an wunderschöne Weihnachten mit ihrer Familie – nun ist sie allein. Er hat seine Familie und sie ist außen vor. Langsam wird ihr bewusst, dass er ein Leben hat, zu dem sie keinen Zugang hat.
Mit einer Handbewegung wischt sie die Gedanken fort und lebt ihren Tag. Die Arbeit macht ihr Spaß, lenkt sie ab und bringt sie unter Menschen. Nur die Abende sind einsam. Der teure Rotwein, den sie sich heute im Supermarkt mitgenommen hat, purpurn und tiefgründig, verspricht ihr schöne Träume. Sie möchte einfach nur vergessen. Zu ihren Füßen kauert Devil, ihr schwarzer Riesenschnauzer, im Kratzbaum schnurrt Katze Lucy behaglich in ihre Träume vertieft. Ihre Tiere sind ihre treuesten Begleiter.
„Zum Teufel mit Weihnachten!“
Sie muss diesen Gedanken wohl laut und energisch ausgerufen haben. Devil springt erschrocken auf und schaut sie aus großen Hundeaugen fragend an.
„Schon gut, Großer, Du warst nicht gemeint!“
Lächelnd klopft sie auf den Platz neben sich auf der Couch. Das versteht Devil sofort. Mit einem Satz ist er auf der Couch und kuschelt sich an sein geliebtes Frauchen. Die Wärme seines Körpers, der beruhigende Duft Ihres Räucherwerkes, das sie sich jeden Abend anzündet und sanfte Lieblingsmusik lassen ihre Gedanken langsam zur Ruhe kommen.
Fasziniert folgt sie den schwebenden Irrlichtern in Richtung ihres Zauberwaldes. Barfuß läuft sie über den Waldboden, doch sie spürt keine Kälte. Die kleinen Irrlichter fliegen vor ihr her als wollten sie ihr etwas zeigen. Hier in der Natur fühlt sie sich wohl und zuhause. Sie sind an ihrem Lieblingsplatz angekommen. Eine große alte Weide breitet wie beschützend ihre Äste über einem umgestürzten Eichenstamm. Golden schimmern die Sonnenstahlen durch die dichten Zweige. Ausgelassen tanzen die Irrlichter um den Baum und laden sie ein, es ihnen gleich zu tun. Sie setzt sich auf den Stamm und schaut dem lustigen Treiben zu.
„Komm zu mir!“
Erstaunt schaut sie sich um, wo kommt nur diese Stimme her?
„Du dummes Menschenkind, ich bin es, der Baumgeist. Ich wohne nun schon über 100 Jahre in dieser Weide. Komm ganz nah zu mir und labe Dich an meiner Kraft und Stärke. Ich beobachte Dich schon lange. Du bist einer der wenigen Menschen, die das Wunder Natur zulassen, versuchen zu verstehen, zu begreifen, zu lernen und Kraft daraus schöpfen. Das macht Dich zu einem ganz besonderen Menschen. Versuche eins zu sein mit der Natur. Glaube an Dich und vertraue dem Leben. Ich gebe Dir Kraft, Standfestigkeit und
Selbstvertrauen mit auf Deinen Weg. Nimm es an und komm wieder, um aufzutanken!“
Leichter Bodennebel steigt auf. Ein durchscheinendes Wesen, zartgliedrig, blond, mit lockigem Haaren und gütigen Augen geht daraus hervor.
„Ich bin Dein Schutzgeist. Ruf mich, wann immer Du mich brauchst, ich werde da sein!“
Sie ist verwirrt, aber gleichzeitig fühlt sie sich wohl und aufgehoben. Etwas regt sich im bunten Laub zu ihren Füssen. Der Wald ist voller Leben. Ein winziges verkrüppeltes Männlein wühlt sich durch die Blätter. Trotz seiner Winzigkeit strahlt er eine gewisse Ehrwürdigkeit aus.
„Das Volk der Gnome lässt Dich grüßen. Auch wir möchten Dir helfen. Wir sind die Bewahrer der Vergangenheit und Träger großer Weisheit. Schließe Deine Augen und lass alles los, was Dich belastet. Alles aus der Vergangenheit, aber auch aus der Gegenwart. Du bist ein wunderbarer Mensch mit einer großen Liebe im Herzen. Menschen, die nicht pfleglich mit Dir umgehen, Dich und Deine Liebe nicht zu schätzen wissen, lass sie los! Prüfe gut und verabschiede Dich von allem, was nicht gut für Dich ist. Ich werde es für Dich verwahren, ohne dass es Dich belastet und wenn Du es wirklich wiederhaben möchtest, wird es da sein.“
Sie schließt ihre Augen und spürt, wie die Last auf ihrer Seele weniger wird mit jedem
Atemzug. Dann aber ein Brennen, ganz tief in ihrem Herzen. Ein unsagbarer Schmerz und ein Gefühl, als ob mit aller Macht etwas herausgerissen werden soll, was für immer dort hineingehört. Es tut unsagbar weh, Tränen schießen aus ihren Augen. Sie zittert am ganzen Körper, ein Weinkrampf nach dem anderen schüttelt sie, aber auch das geht vorbei. Das Bewusstsein, dass da etwas für immer in ihrem Herzen tief verschlossen bleiben wird, lässt sie ruhig werden.
Plötzlich ein Kichern, das sich zu lautem Lachen steigert. Ein weiterer Waldbewohner. Freche
Augen blitzen unter einem Wuschelkopf aus roten zerzausten Haaren hervor. Eine vorwitzige Stupsnase mit unzähligen Sommersprossen verleiht dem kleinen Wicht ein keckes Aussehen.
Er beginnt mit dünner Stimme zu einer seltsamen Melodie zu singen:
„Hey Du Mensch, Du Menschenkind, weißt Du, was Deine Fähigkeiten sind?
Weißt Du, was in Dir alles schlummert und so vor sich hin verkümmert?
Mann oh Mann, könntest Du Dich selbst anschauen, Du würdest Dir vor Lachen auf die Schenkel hauen.
Du bist nicht klein, Du bist nicht dumm, das schaffst Du Dir so! Warum?
Was sollen all der Kummer und die Sorgen? Du bist doch im göttlichen Lichte geborgen!
Ich rüttel Dich, ich schüttel Dich, weck Dich aus dem Dämmerschlaf Deiner Seele-
So ruf ich aus lauter Kehle.
Hey Mensch, siehst Du denn nicht, ich bin der Wicht, nicht Du und Dein wunderbares Erdengesicht.
Erkenne Dein wahres schönes, helles Licht, vergiss das Lachen und die strahlende Freude nicht.
Erhebst Du Dich zu Deiner wahren Größe empor, dann stimmen wir ein in den jubelnden Chor!“
(Die Botschaft der Kobolde
aus: Jeanne Ruland, Im Reich der Naturgeister)
An diesem Morgen wacht sie auf mit neuer Frische und Elan. Sie stürzt sich in die Hausarbeit, geht einkaufen, kocht sich etwas Schönes – doch dann holt es sie wieder ein: Es ist Heilig Abend und sie ist allein. Sie hört die Glocken läuten und sieht Menschen Hand in Hand den Gottesdienst besuchen, beleuchtete Weihnachtszimmer, in denen Menschen gemeinsam auf die Bescherung warten. Er ist bei seiner Familie, sie ist allein. Heiße Tränen rinnen über ihre Wangen. Sie spürt eine raue Hundezunge - der treue Devil! Trotz allem Schmerz, der ihr Herz gefangen hält, muss sie lachen.
„Lass uns noch eine Runde in den Wald gehen!“
Das muss man Devil nicht zweimal sagen. Er kann es kaum erwarten, dass Frauchen ihm seine Leine anlegt. Aufgeregt wedelnd springt er um sie herum und schon geht es los, Richtung Zauberwald. Heute scheint er zielstrebig ein Ziel zu erfolgen. Sie kann ihm kaum folgen. Da Devil ein sehr folgsamer Hund ist, der sich nie weiter von seinem geliebten Frauchen entfernt, leint sie ihn ab.
„Lauf Devil, aber Du weißt, nicht zu weit weg!“ ermahnt sie ihn.
Sie bleibt kurz stehen und breitet ihre Arme aus. Tief atmet sie die würzige Waldluft ein.
Diese legt sich wie eine beruhigende Decke auf ihre verwundete Seele. Aber wo ist Devil? Aufgeregtes Bellen beunruhigt sie. Er steht vor der alten Weide und bellt eine dort auf dem Baumstamm sitzende Gestalt an.
„Devil hierher!“ Sie nähert sich der Gestalt.
„Entschuldigen Sie, ich habe nicht damit gerechnet, dass ich heute hier jemanden treffe. Sind sie auch allein?“ Entschuldigend blickt sie ihn an.
„Jetzt nicht mehr!“
Ein warmer Blick aus rehbraunen Augen trifft sie bis in ihr Herz.
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