Das zweiundzwanzigste Türchen
*
Die Verwandlung
Drei Wochen vor Weihnachten
Weihnachten hatte ihr noch nie viel bedeutet, die Weihnachtsmärkte jedoch waren wirklich die Krönung des vorweihnachtlichen Konsumwahns, der die Stadt und seine Bewohner befiel wie ein unaufhaltsamer Virus. Der penetrante Glühweingeruch verursachte ihr schon von weitem Übelkeit. Dazu die kitschigen Tannenbäume mit ihren bunt blinkenden Lichterketten, der unerträgliche Singsang der Weihnachtsschlager in Wiederholungsschleife und die grölenden Touristen, die nach Anbruch der Dunkelheit mit blinkenden Rentiermützen über den Platz taumelten. Amalia reagierte von Jahr zu Jahr allergischer darauf und schwor sie sich, dass es das letzte Mal war, dass sie sich das antat.
Doch nun war sie schon einmal hier und konnte ebenso gut nach einem Geschenk für ihren Freund Gabriel suchen. An einem kleinen Schmuckstand mit keltischen Symbolen und Edelsteinen aus Osteuropa und Russland blieb sie stehen. Die ältere Verkäuferin beäugte sie misstrauisch, als Amalia die Anhänger der Auslage in Augenschein nahm. Die keltischen Kreuze gefielen ihr besonders gut. Sie entschied sich für eines und reichte der Verkäuferin einen Schein, doch diese hielt ihre Hand fest. „Lassen Sie mich in ihre Hand schauen, Madam?“
Ehe Amalia etwas erwidern konnte, drehte sie deren Hand und betrachtete eingehend die Innenfläche. Widerwillig und amüsiert ließ Amalia sie gewähren. Doch plötzlich ließ die Frau abrupt ihre Hand los, fast so, als hätte sie sich verbrannt. Amalia hob die Brauen: „Was haben sie denn gesehen, gute Frau? So sagen sie es mir doch!“ Doch die Verkäuferin schüttelte nur den Kopf. Sie war kreidebleich geworden, bekreuzigte sich schnell ein paar Mal und murmelte etwas Unverständliches in ihrer Muttersprache. Amalia steckte den Anhänger ein und ging langsam weiter.
Was für eine seltsame Alte! Was sie wohl in ihr gesehen hatte?
Zwei Wochen vor Weihnachten
In den letzten Tagen litt sie wieder häufiger unter diesen heftigen Hitzewallungen. Von einem auf den anderen Moment wurde ihr so heiß, als würde ihr ganzes System sekundenlang ultrahocherhitzt. Alle ihre Schleusen öffneten sich, die Nervenbahnen pulsierten, als seien sie an einen unterirdischen Strom angeschlossen. Einfach alles an ihr wurde heiß und feucht, bis in die letzten Winkel ihrer Schleimhäute. Manchmal konnte das ja äußerst lustvoll sein, aber es war vor allem beängstigend, wenn sie abrupt und ohne Vorwarnung die Kontrolle über ihren Körper verlor. Die Erklärung ihres Frauenarztes war nicht wirklich hilfreich. „Das sind wohl die ersten Auswirkungen der Wechseljahre, Frau Beezel. Ich weiß, sie sind noch etwas zu jung dafür, aber das ist nicht ungewöhnlich,“ war seine Diagnose. Die pflanzlichen Mittelchen, die er ihr verschrieb, hatten nicht die geringste Wirkung und Amalia blieb skeptisch.
Die letzten Jahre war sie über die Feiertage immer auf Tauchstation gegangen und hatte ihr Handy einfach ausgeschaltet. Wenn die Welt dort draußen aus den Fugen geriet, tat man gut daran, sich auf sich selbst zu besinnen und all die Bücher zu lesen, die sich die letzten Monate über angesammelt hatten. Warum nicht dieses Jahr mal zur Abwechslung auf eine weit entfernte Insel fliegen? Möglicherweise gab es ja einen Ort, an dem Weihnachten komplett unbekannt war. Und vielleicht würde Gabriel, ihr italienischer Liebhaber, sie begleiten. Sie schloss die Augen, sah sein Gesicht mit den blonden Locken vor sich und lächelte. Ja, sie würde ihn fragen, bei nächster Gelegenheit.
Eine Woche vor Weihnachten
Sie hatte sich schon die ganze Woche darauf gefreut, ihn wiederzusehen. Der Kühlschrank war mit verschiedenen italienischen Vorspeisen gefüllt und ein guter Rotwein stand bereit. Kerzenlicht sorgte für eine wohlige Atmosphäre, als sie sich nebeneinander auf Amalias riesiger, weicher Sofalandschaft ausstreckten.
„Sag mal, Gabriel, findest du, dass ich mich in den letzten Wochen irgendwie verändert habe? Ist dir etwas an mir aufgefallen, was irgendwie unangenehm oder zum Fürchten war?“
Einen Moment lang sah Gabriel sie verdutzt an. Dann warf er den Kopf in den Nacken und lachte schallend.
„Cara mia, was denkst du dir denn für Sachen aus? Wie kommst du denn bloß auf sowas?“
Amalia rückte ein Stück von ihm ab und drehte sich auf den Rücken.
„Du nimmst mich nicht ernst! Jetzt hör mir doch mal zu!“
Gabriels blonde Locken streiften ihren Unterarm, als er sich über sie beugte und sie mit gespieltem Ernst ansah. „Aber sicher doch, Amalia! Erzähl mir davon.“
„Auf dem Weihnachtsmarkt letzte Woche hatte ich eine seltsame Begegnung. An einem Schmuckstand wollte mir eine Frau aus der Hand lesen.“
Während sie erzählte, gingen Gabriels Hände weiter auf Wanderschaft. Sie hielt ihn davon ab, die Knöpfe ihrer Bluse zu öffnen und fuhr fort: „Doch anstatt mir zu sagen, was sie gesehen hatte, hat sich diese Frau bekreuzigt! Und sie starrte mich an, als sei ich das inkarnierte Böse! Wirklich, ich übertreibe nicht!“
Gabriel konnte ein Grinsen nicht unterdrücken und streichelte behutsam über die Innenseite ihres Unterarms.
„Vielleicht bist du ja ein Teufelsweib, Bellissima?“
Amalia schlug nach ihm und er wich ihr schnell aus, bevor er sie erneut in die Arme zog. „Nein, wirklich, Amalia, warum musst du immer alles so ernst nehmen? Komm her zu mir, lass mich das Tier in dir wecken…“
Er küsste sie stürmisch und sie erwiderte seinen Kuss, ließ sich nur zu gern von ihm ablenken und mitreißen.
„Du bist so heiß, Carissima … ich war noch niemals mit einer Frau wie dir zusammen!“, flüsterte Gabriel und ließ seine Lippen über ihren Bauch abwärts wandern.
„Und du bist ein Lügner!“, flüsterte sie heiser und kicherte.
Es dauerte nicht lange, bis nur noch das Stöhnen und Seufzen der beiden den Raum erfüllte. Gabriel kannte Amalia als sehr leidenschaftliche Geliebte, aber in dieser Nacht brachen alle ihre Dämme. Rittlings saß sie auf ihm und gab ihm die Sporen wie ein Dämon seinem Feuerpferd. Sie war der Vulkan, der über ihn hereinbrach und ihn verbrannte, ja, zu verschlingen drohte. Wie ein heißer Lavastrom nahm sie alles von ihm, als habe es schon immer ihr gehört.
Sterne zerbarsten und Sonnen explodierten. Gabriel war, als würde er mit Wucht hochgeschleudert. Sie kam schließlich mit einem lauten, klagenden Schrei, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es klang wie der markerschütternde Schrei einer Hexe auf dem Scheiterhaufen.
Erschöpft sank sie neben ihm auf die feuchten Laken und schlief sofort ein. Gabriel lag wach und starrte in die Dunkelheit. Dass Amalia anders war, hatte er immer gespürt. Nach außen hin reserviert und spröde, oft undurchschaubar und sprunghaft. Doch bisher hatte er anscheinend nur ihre Oberfläche gesehen. Heute Nacht hatte er in Abgründe geblickt, die er lieber nicht gesehen hätte. Das sollte ihm Warnung genug sein. Leise stand er auf, zog sich an und ging.
Equinox – Wintersonnenwende
Amalia starrte missmutig aus dem Bürofenster, vor dem graupelige Eisflocken tanzten. Von Gabriel hatte sie seit ihrer letzten, gemeinsamen Nacht nichts mehr gehört. Seine letzte Nachricht war seltsam ausweichend und vage gewesen. War er also auch einer von denen, die den Schwanz einzogen, wenn es ein wenig intimer wurde? Anscheinend hatte sie sich gründlich in ihm getäuscht. Teufelnocheins! Mit einem Schlag war ihr wieder heiß und dieses Feuer kam von tief innen, aus der Mitte ihres Körpers. Ungeduldig zog sie sich den Pullover über den Kopf, riss das Fenster auf und genoss die eisige Luft auf ihrer heißen Haut.
Das Summen des Telefons erinnerte sie daran, dass es Zeit war für die wöchentlichen Auswertungen bei ihrem Chef, Dr. Mannso. Sie raffte ihre Papiere zusammen und warf noch einen schnellen Blick in den Spiegel. Und erschrak über das, was sie sah. Sie sah gehetzt aus, die Augen stechend und fast schwarz, mit riesigen Pupillen. Das kurze Top saß etwas zu eng, aber es würde so gehen müssen. Ihr war immer noch viel zu heiß. Sie wandte den Blick vom Spiegel ab und machte sich auf den Weg.
Als sie im Büro ihres Chefs stand und ihm die Vertriebsergebnisse der letzten Woche vortrug, perlten ganze Bäche von Schweiß über ihren Rücken die Wirbelsäule hinab und durchnässten ihr weißes Shirt.
Mit gewohnt herrischem Tonfall unterbrach sie ihr Chef nach wenigen Sätzen:
„Frau Beezel, Sie wollten mir doch noch die genauen Zahlen nachreichen…?“
Er betrachtete sie stirnrunzelnd, erfasste die Schweißperlen auf ihrer Stirn und die roten Flecken auf ihren Wangen. Er wollte schon nachsetzen und stockte, während er sie weiter musterte. Sein Blick blieb schließlich an ihren Brüsten hängen, deren dunkle Höfe durch den feuchten Stoff schimmerten.
Amalia ermahnte sich selbst, ruhig zu bleiben. „Herr Doktor Mannso, ich sagte Ihnen doch schon, dass ich noch auf die Zahlen der Buchhaltung warte.“ Sie spürte, wie er sie ansah und verdrehte innerlich die Augen. Hör auf, mich so anzuglotzen, du schleimiger Widerling!
In diesem Moment erfasste sie ein unkontrollierbares Zittern. Es war, als ob der Fußboden unter ihr beben würde. Etwas in ihr richtete sich auf und dehnte sich aus, hart und unnachgiebig wie ein glimmendes Schwert, dass sie fürchtete, ihr Brustkorb würde bersten unter diesem Druck. Doch dieses Etwas war lebendig und unberechenbar wie ein wildes, ungezähmtes Tier. Sie spürte das glühende Pulsieren seines Herzschlags in jeder Zelle ihres Körpers.
Ihr Chef antwortete nicht. Die Kontrolle über seine Gesichtszüge schien ihm zu entgleiten. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er sie an, unfähig, sich zu artikulieren. Sein Mund stand offen, Speichel tropfte ihm über das Kinn.
Amalia fragte sich gerade, ob sie nicht besser den Notarzt rufen sollte, als er im nächsten Moment die Augen verdrehte. Ein langgezogenes, heiseres Stöhnen entwich ihm, das an Eindeutigkeit kaum zu überbieten war. Dann sackte er in sich zusammen auf seinen Bürostuhl.
„Herr Doktor Mannso? Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“
Amalia beobachtete ihn mit einer Mischung aus Ekel und Entsetzen. Sie konnte nicht glauben, was sich gerade vor ihren Augen abgespielt hatte. War das eine Sinnestäuschung gewesen oder war ihr Chef soeben hier vor ihr gekommen wie ein erbärmlicher Wichser in einem Pornokino?
Als er wieder zu sich kam, starrte er sie an, als sei er gerade dem Teufel persönlich begegnet. Verwirrt wischte er sich mit der Hand über das Gesicht und sah dann nach unten auf seinen Hosenstall. Der prompte, reflexartige Griff zur Box mit den Taschentüchern bestätigte Amalias Verdacht. Er sah reichlich mitgenommen aus, beschämt und schockiert, aber auch aufgebracht.
„Haben Sie, ich meine… wie konnten sie… Was zum Teufel haben Sie da eben mit mir gemacht?!“
Der Zorn loderte in ihr hoch wie eine Stichflamme. Diesem Ekelpaket ging einer ab mitten in der Dienstbesprechung und er gab ihr die Schuld daran? Sie hatte endgültig genug von diesem Sklaventreiber und seinen Frechheiten! Die Luft um sie herum brannte. Amalia spürte einen Auftrieb, der sie hochzuheben schien, mindestens eine Handbreit über dem Boden. Sie konnte und wollte es nicht verhindern, dass ihre Augen sich in glühende Kohlen verwandelten, die ihn jetzt festnagelten, ihn aufspießten und durchbohrten, mit einer Lust und Genugtuung, wie sie sie selten empfunden hatte.
Zunächst schien Dr. Mannso wie paralysiert. Dann schnappte er japsend nach Luft und griff sich an die Brust. Amalia erschrak, als sie deutlich seine Lebensenergie schwinden fühlte. Sie kniff verzweifelt die Augenlider zusammen und zwinkerte in paar Mal, bevor er in den kritischen Bereich absacken konnte. Bevor sie aus dem Büro rannte, sah sie noch, wie ihr Chef mit fahlem, grauen Gesicht auf seinen Schreibtisch sank.
Blindlings schnappte sie Tasche und Mantel und floh auf die Straße. Der Wind pfiff durch die nackten Äste der Platanen und schlug ihr eisige Regentropfen ins Gesicht. In ihrem Kopf drehte sich alles. Was zum Teufel ging hier eigentlich vor sich? Was geschah da mit ihr? Was hatte sie bloß getan? Schockiert und panisch lief sie durch die Straßen und achtete dabei weder auf ihre Umgebung, noch darauf, in welche Richtung sie lief. Als die Dämmerung einsetzte, hatte sie sich etwas beruhigt und verlangsamte ihr Tempo. Der Regen hatte aufgehört und sie war bis auf die Haut durchnässt. Ein heißer Grog würde ihr jetzt bestimmt guttun.
Auf der Straßenseite gegenüber lockte eine Bar mit rot erleuchteten Fenstern. „Seelenrausch“ stand in großen Neonlettern auf dem Schild über dem Eingang. Die Bar übte eine hypnotische Anziehungskraft auf sie aus und ließ sie direkt darauf zusteuern. In ihrem Kopf wirbelten fremdartige Töne und Silben durcheinander, die alle anderen Gedanken einfach auslöschten. Der dunkelhäutige Barkeeper polierte die großen Cognacschwenker und summte dabei leise vor sich hin, als Amalia durch die Tür trat und sich neugierig umsah. Ein breites Lächeln erhellte sein schmales Gesicht, bevor er sich zu ihr umdrehte. Das Warten hatte nun also ein Ende.
Als sie zögernd an die holzgetäfelte Bar trat, versanken ihre Blicke ineinander. In der Schwärze seiner schräg geschnittenen Augen glommen rote Funken. Amalia hätte schwören können, dass sich unter seinem wilden Haarschopf zwei gebogene Hörner verbargen.
*