Das vierte Türchen
Kill Dill – oder Zum Teufel mit Weihnachten
„Untervögelt oder liegt es an deiner Diät?“ Fragte mich Susanne über den Rand ihres Monitors mit einem Augenzwinkern.
„Beides!“ Raunzte ich übellaunig zurück und schämte mich direkt, während ich frustriert in eine Stange Bleichsellerie biss und mich innerlich dabei schüttelte.
Was konnte die Gute für meine miese Laune, die sich aus zu wenigen Kohlehydraten, zu viel Rohkost und eindeutig mangelnder Nutzung meines Döschens speiste? Welcher Maso-Teufel hatte mich nur geritten, mitten in der Hochzeit von Lebkuchen, Plätzchen, Punsch und fettem Getier mit Knödeln und Rotkraut eine Abmagerungskur zu beginnen? Glaubte ich ernsthaft, das durchhalten zu können? In meiner grenzenlosen Hybris – ja! Denn wo ein Wille war, war ja auch wohl ein Weg! Schließlich gab es das sexy rückenfreie Kleid, in dem ich ohne Zweifel eine fantastische Figur machen und bei der betrieblichen Weihnachtsfeier hoffentlich meinen heimlichen Schwarm aus der Internen um den berühmten Finger wickeln würde – nur noch in Größe 38. Was blieb mir also anderes in den noch wenigen verbleibenden Tagen bis dahin übrig als eine Radikalkur mit Säften, Tee und viel rohem Gemüse?
So mühte ich mich tapfer seit bereits sechs langen frustrierenden Tagen. Wirklich? Erst so kurz? Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Ich hatte ständig Appetit, litt unter Heißhungerattacken, war mies gelaunt und das Gemüse wuchs mir bereits zu den Ohren heraus. Jegliches Grünzeug, allein der Gedanke an Grünkohl & Konsorten machte mich aggressiv. Eine Ausnahme wäre allenfalls ein praller und dicker Spargel, ich leckte meine Lippen während ich ausnahmsweise nicht an Sauce Hollandaise und Schnitzel dazu dachte.
Ich hatte keine Ahnung wie Veganer diese Askese aushielten. Aber ich hatte dieses Ziel vor Augen, das tolle Kleid, das ich für meinen schönen und durchtrainierten Angebeteten tragen wollte, damit ich ihm endlich auffiel. Warum waren die meisten Männer immer so verpeilt, dass echtes Interesse nicht zu ihnen durchdrang und sie zumeist nur auf entsprechende Reize wie eine sündige Verpackung reagierten? Oder war ich ihm nicht hübsch genug? Ich redete mir ein, dass sich lediglich meine Linie verschlanken müsste, um ihn zu erobern. Jedoch hatte ich bei meinem tollen Plan etwas nicht bedacht: die Verlockungen der Weihnachtsmärkte.
An jeder Ecke duftete es nach kandierten Äpfeln, gebrannten Mandeln, weihnachtlichen Gewürzen und Glühwein. Auch waren die lieben Kollegen nicht sonderlich hilfreich, die ständig selbstgemachten Christstollen oder Spekulatius mitbrachten und einen zum Probieren nötigten. Sich dem Gruppendruck zu widersetzen, erforderte unendlich viel Kraft, die ich einfach nicht hatte.
Ich nahm einen Schluck ungesüßten Kräutertees und seufzte ein leises „Sorry“ in Richtung meiner Freundin Susanne. Wie gern hätte ich jetzt einen starken Kaffee mit viel Zucker drin oder eine heiße Schokolade. Am liebsten aber einen heißen Typ mit dekorativem Sahnehäubchen an exponierter Stelle und einem Faible für kurvige Frauen. Denk an was Anderes!
„Mensch Heidi, jetzt hör doch endlich damit auf, dich selbst zu kasteien. Diäten beginnt man doch nicht im Winter, wo der Körper seine Fettreserven mit aller Gewalt zusammenhält. Das ist wider die Natur. Da gibt es doch angenehmere Arten, Kalorien zu verbrennen.“ Sie zwinkerte vielsagend und flüsterte: „Wusstest du, dass ein langer Kuss 12 Kalorien verbraucht? Und Sex erst – pro Akt ca. 70 Kalorien bei uns Frauen, bei den Herrlichkeiten sind es sogar 100 Kalorien. Wenn du das zweimal pro Tag mind. viermal in der Woche – hochgerechnet auf einen Monat machst - dann…“
Susannes Rechenkünste im Geiste wichen einem genießerischen Seufzer, so als erlebe sie gerade ihr letztes diesbezügliches Kalorien-Waterloo in Gedanken nochmals. Vermutlich verbrannte sie selbst in der Erinnerung daran noch jede Menge von diesen lästigen Dingern. Sie hatte gut reden – in ihrem safranfarbenen Kleid mit schwarzen Querstreifen (Querstreifen!) in Größe 36.
„Vielleicht kannst du ja zaubern, ich nicht. Wen bitte soll ich mehrfach täglich mindestens drei Minuten lang küssen und von wem mich so oft bespringen lassen, Susanne? Meinen Ex? Unseren Chef oder dem Meier aus der Buchhaltung? Da wähle ich doch lieber einen Frosch!“ Die Ironie tropfte nur so aus meinen Worten.
„Den Frosch kannst du haben!“ Susannes Gesichtsausdruck wirkte seltsam entrückt.
Ihre Augen hatten sich zu schmalen Strichen verengt und sie funkelte mich regelrecht an. Mir erschienen ihre Pupillen mit einem Mal schwärzer als sonst. Ich rieb mir meine Augen und schaute ein zweites Mal ungläubig. Schwebte da etwa eine Miniaturgewitterwolke über ihrem Kopf? Zuckte daraus ein Blitz? Die Leuchtstoffröhre an der Decke flackerte, ging aus und wieder an. Irgendwie unheimlich. Ein Schauer jagte über meine Haut, eine kalte leichte Brise schien mich zu umfangen und an meinen Haaren zu ziehen. Eindeutig – ich litt an Halluzinationen, ausgelöst durch Unterzuckerung.
Zum Glück schlug es eben zwölf Uhr und ich flüchtete mich in die kleine Küche, um meinen Gurke-Avocado-Gelbe-Paprika-Limetten-Smoothie zu schlürfen, der heute die Ehre hatte, mein Mittagessen zu sein. Ich öffnete den Kühlschrank und hörte ein langgezogenes „Kroak“. Verwirrt streifte mein Blick durch alle Fächer, bis ich den kleinen grünen Frosch erspähte, der fröhlich in meinem Glas eine Runde kraulte und mich dabei frech angrinste. Ich schrie, schlug die Tür zu und flüchtete mich aufs Damen-Klo. „Hl. St. Josef“, betete ich, „wenn du mich das hier mit heilem Kopf überstehen lässt, dann huldige ich dir mit einer Leberkäs-Semmel.“
Es klopfte an der Tür und ich zuckte zusammen. „Susanne?“ flüsterte ich. „Susanne – da badet ein Frosch in meinem Smoothie.“ Ich weinte leise vor mich hin. Mein Mittagessen konnte ich heute vergessen, mein Magen knurrte bedrohlich. Blöder Frosch!
Keine Antwort, doch es klopfte nun energischer und ich öffnete die Tür. Niemand war zu sehen. Ich war wirklich reif für die Klapse. Irgendwie fiel mein Blick nach unten und da saß er – der kleine, freche, grüne Frosch, auf seinem Köpfchen noch ein Stückchen Gelbe Paprika, die aussah wie ein Gemüsekrönchen. Er wich keinen Millimeter zurück, sondern starrte mich an. Und dann bewegten sich doch tatsächlich seine „Lippen“. „Küss mich, ich bin ein verzauberter Bodybuilder.“
„Was soll ich mit einem Bodybuilder?“ Fragte ich ihn, in der Annahme, dass ich mir das alles sowieso nur einbildete und hob meinen Fuß, um diesen Essensverunreiniger zu zermatschen. Das makellose Weiß des Damen-WCs fand ich schon immer langweilig und ein paar hingespritzte grüne Kontraste auf Boden und den Wänden wären sicher hübsch.
„Warte!“ Rief das Untier aus. „Lass mich leben, ich habe Schokolade, viel Schokolade.“
Mein Fuß senkte sich tiefer, mein Gesichtsausdruck war unerbittlich – dieses schleimige Getier hatte gerade mein schmales Essen ruiniert und wollte, dass alles Leid der letzten Tage umsonst gewesen wäre, indem ich gleich wieder an Gewicht zunähme, ginge ich auf seinen Deal ein. Ich tobte los: „Was soll ich mit Schokolade, du Mistvieh? Ich will lieber einen Mann! Und zwar einen ganz bestimmten!“ Ich liebäugelte allerdings mit seinen Froschschenkeln, die konnte man doch essen, oder? „Hör zu du – was auch immer – ich habe Hunger und eine Scheißlaune, also nerv mich besser nicht, wenn dir dein Leben lieb ist!“
„Kriegst du! Alles! Wirklich! Und ich verspreche dir, dass du nie wieder eine Diät halten musst. Aber nun bitte - küss mich Schöne, sonst…“Quakte er.
„Sonst was?“
„Sonst werde ich von der mächtigen Zauberin in deinem Büro weiter in einen schönen rotbackigen Apfel verwandelt, dem absolut niemand wiederstehen kann. Und der Meier aus der Buchhaltung macht gerade eine Apfel-Kur, damit er den Knopf seiner Anzugshose zur Feier wieder zu kriegt. Ich hab aber keine Lust darauf, seine Gedärme von innen zu polieren. Bitte, bitte meine kurvige Schönheit – küss mich, du wirst es auch nicht bereuen.“
Er klang so verzweifelt. Und nun tat er mir doch leid. Er bettelte so süß. Tja ja und mit dem Meier würde ich auch nicht gern auf Tuchfühlung gehen, weder innerlich noch äußerlich. Dass meine liebe Freundin Susanne magische Kräfte besaß, überraschte mich nicht wirklich. Warum eigentlich nicht? Weil das hier nur ein Alptraum war – deshalb!
Na schön, was konnte schon groß passieren? Ich nahm dieses irgendwie niedliche Wesen auf meine Hand und führte es langsam in Richtung meines Mundes. Gut, dass mich niemand so sah! Was für eine kranke Halluzination auf der Damentoilette, ich würde mal mit der Putzfrau über die verwendeten Reiniger sprechen müssen. Da schienen einige giftige Dämpfe in mein Gehirn gestiegen zu sein. Denn ich spürte das Leichtgewicht tatsächlich auf meiner Hand, so als säße da wirklich ein Frosch. Oder lag es doch an der Unter-Kohlenhydratisierung? Denn nun sah ich wie das Tierchen seine Lider schloss und die Lippen zu einem Kussmund verzog, ein perfektes „Duck Face“.
Eines war klar: Noch heute würde ich dieses irrwitzige Fasten beenden. Kleid hin oder her, Typ hin oder her. Wenn ich ihn nicht mit meinem Wesen verzauberte, dann könnte er mich mal. Andere Mütter hatten auch schöne Söhne. So!
„Warte!“ Quakte er aufgeregt, kurz vor meinen Lippen. „Es gibt noch eine Bedingung.“
„Welche?“ Diskutierte ich hier echt mit einer Amphibie? „Susanne – Hilfe!“
„Ein Blutopfer ist nötig.“ Verkündete er mit Grabesstimme, sich meines entsetzten Gesichtsausdrucks gewahr. Vorsichtig sprach er weiter:
„Du musst deinen Salatköpfen und Artischocken daheim gnadenlos die Herzen herausreißen und mit dem Blut eines zermalmten Coeur de Boeuf besprengen. Gib dazu frisch ausgestochene Kartoffelaugen, die schleimigen Innereien eines Kürbisses und einen Bund grausam zerstückelten Dills. Vergrabe das alles beim ersten Neumond, also heute Abend um 22:00 Uhr auf einem Totenacker, aber in ungeweihter Erde. Wirst du das tun? Du musst es schwören.“
„Jaja, ich schwöre!“ Woher wusste er, dass es der Dill war, den ich am meisten verabscheute? Ich fragte mich ernsthaft, ob ich mich möglicherweise bereits in einem komatösen Zustand befand und in einem abgedunkelten Krankenzimmer an fiepende Gerätschaften angeschlossen lag, während mein Kopf mir seltsame Bilder vorgaukelte.
Nur noch Millimeter trennten unsere Münder, schließlich berührten sie sich. Irgendwo in meinem überdrehten Gehirn sang ein hysterischer Chor Halleluja. Er schmeckte so unglaublich gut. Ein Bild von einem Mann materialisierte sich aus einem weißen Nebel vor mir. Ich hing an echten Lippen und spürte unter der Haut, die meine Finger berührten, ein hammerhartes Sixpack.
OMG! Das war er! Meine Hand fasste in schulterlanges lockiges Haar, ein Vollbart kitzelte mein Kinn. Ich sah in wunderschöne braune Augen. „Mein“ strammer Hans aus der Internen, ein Typ wie Jason Momoa, der, den ich seit Monaten anschmachtete und der mich nie bemerkt hatte, küsste mich wie ein junger Gott. Was für ein wunderbarer Traum! War ich etwa schon tot? Verhungert auf dem Damen-Klo und man würde meine bleichen Gebeine fristgerecht zur Weihnachtsfeier finden?
Der wundervolle Kuss wollte gar nicht enden. Vermutlich knackten wir gerade die Hundert-Kaloriengrenze als er mich an sich zog, packte und sich leichtfüßig erhob, ohne den Kuss zu beenden. Meine Hände umklammerten seinen Nacken und ich schlang meine Beine um seine Taille. Wow! Das hatte ich mir schon immer gewünscht und hoffte, ich würde aus dieser Fantasie niemals erwachen.
Gerade als ich spürte wie sich seine Mitte erhob und verlockend gegen meinen Bauch klopfte, hörte ich, dass jemand eintrat. Aus den Augenwinkeln erkannte ich Susanne, die grinsend und von blitzenden Wolken umhüllt, in der Tür stand. Ich schätzte, mein Blick war unbezahlbar.
„Frag nicht wie und warum. Tu, was du geschworen hast, sonst wird er wieder zum Frosch und bleibt es auch. Er ist ein Geschenk für dich – von ihr, der Mutter, der Allesbeherrschenden. Eine Mutter sorgt für ihre Kinder und lässt sie nicht darben, weder körperlich noch seelisch. Nicht wahr? Anders als der, der immer nur Verzicht predigt und angeblich demnächst seinen Geburtstag feiert. Also, was sagst du nun, außer Danke?“
„Ich sage: Zum Teufel mit Weihnachten und dem ganzen Kram drum herum. Ab sofort bin ich Heidi(n) aus Überzeugung. Es lebe die Gnade der Mutter! Susanne, ich weiß nicht, was ich sagen soll, außer Tausendmal Danke. Gehört er jetzt für immer mir?“
Susanne quittierte meine Frage mit einem Lächeln. „Das liegt an euch beiden, was ihr daraus macht.“ Meinte sie augenzwinkernd. „Übrigens, er wird sich nicht an sein Froschsein erinnern. Erst wenn ich mit dem Finger schnippe. Denk dir also rasch eine Geschichte aus, wie ihr zusammengekommen seid und was ihr hier drinnen wolltet.“ Sprach`s, schnippte mit ihrem Finger, hängte grinsend ein „Toilette defekt“- Schild an die Tür und schloss sie von außen.
Heute Abend würde ich die Aktion „Kill Dill“ starten und zur Göttin des Gemüse-Gemetzels mutieren, aus vollster Überzeugung. Doch nun würde ich mein herrliches Geschenk auspacken und darauf hoffen, dass sein Schwert vor Ende der Mittagspause nicht müde würde.