Das dreiundzwanzigste Türchen
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Zum Teufel mit Weihnachten
Alle haben mich verlassen. Ich bin nicht traurig darüber. Tatsächlich schleicht sich eine gewisse Genugtuung in mein Herz. Es gibt dieses kurze Einsamkeitsgefühl welches mir immer mal wieder Gelegenheit gibt, einmal mehr mein Leben zu überdenken.
Versonnen beobachte ich die kleinen Spatzen, Meisen und Rotkehlchen, wie sie gierig und beflissen mein bereitgestelltes Fettfutter naschen. Brav. Der Winter naht. Die kräftigen Herbstfarben vermögen es nur unzureichend, mir ein Wohlgefühl zu vermitteln. Ach, könnte ich diesen trübsinnigen Moment nur einfrieren. Wie schön wäre es, in diesem Zustand zu verweilen. Einer Mischung aus Selbstmitleid, Traurigkeit und Hilflosigkeit.
Meine Augen nehmen die neuesten Informationen bei Facebook wahr, aber es dringt keinerlei Interesse in mein Denkzentrum. Mein japanischer Freund hackt wieder einmal den halben Baumbestand an Bambus nieder, chinesische Händler wollen mir ein original Luke Skywalker Laserschwert verkaufen und irgendwer in Belgien hat Geburtstag. Vollkommen belanglos. Mein Leben ist vollkommen belanglos. Wie schrieb meine Freundin aus Halle letztlich: „Wenn die Kinder groß sind, ist das Leben für Eltern wider die Natur. Geh sterben!“
Ja, heute ist ein guter Tag, zu sterben. Um mit Lieutenant Commander Whorf zu sprechen: „Heute ist ein besonders guter Tag, zu sterben.“
In Momenten wie diesen hilft mir ein fernöstliches Denksystem. Der so genannte 7-5-3 Code. Im alten Japan half diese philosophische Anleitung so manchem Samurai, durch das Leben zu finden. Bei weitem nicht allen, Gott bewahre. Es ist eine recht romantische Vorstellung, dass alle Samurai ehrenhaft waren und nach dem Kodex lebten. Es ist faktisch nicht möglich, ohne Gesichtsverlust, Ehrverlust oder des Lebens verlustig, nach dem Kodex zu leben. Aber es ist eine moralische Richtlinie, die in manchen Situationen Klarheit bringt, weil sie viel tiefes Wissen und Reichtum birgt.
In Augenblicken des Trübsales und der Verlustigkeit der Klarheit erinnere ich mich gern an den Code. In der Tat baut er aufeinander auf, ein Punkt bedingt den vorherigen. Wird die Kette unterbrochen, was nicht selten geschieht, beginnt man von vorn. Der Reigen beginnt mit den sieben Tugenden des Bushido. Der erste Punkt ist: Mut. Der Mut, nach vorn zu schauen. Das Leben zu meistern, Menschen um sich herum zu ertragen und nicht aufzugeben. Dann kommt die Ehre. Ohne den Mut ist Ehre nichts als eine Wortklauberei für arme Geister. Rechtschaffenheit. Sie bedingt sowohl Ehre, als auch Mut, denn was ist Rechtschaffen, wenn es nicht mutig umgesetzt und ohne Ehre ist? Die Folge davon ist Ehrlichkeit. Hier werden zumeist die ersten Brüche gelegt. Ehrlichkeit. Was, wenn die Mutter fragt: „Schmeckt dir mein Essen?“
Als guter Sohn müsste ich sagen: „Köstlich, Mutter.“ Als Samurai, der den Kodex lebt, wäre die Antwort bestenfalls: „Nein“, und schlimmstenfalls: „Mama, es schmeckt wie angeleimter Haferschleim mit Tapetenkleister und ich bekomme es kaum herunter.“
Tun wir das unseren Müttern an? Nein. Selbst eine Umgehung des Themas, wie: „Mutter, die Soße ist außergewöhnlich!“ ist gelogen, denn es ist keine Antwort auf eine direkte Frage. Womit wir beim Wohlwollen sind. Wohlwollen steht so manches Mal im Widerspruch zur Aufrichtigkeit und doch bedingen sie einander. Wobei auch noch eine Tugend mit hineinspielt: Höflichkeit. In der Summe der Abwägungen, das mütterliche Essen betreffend, wäre es höflich, das Essen der Mutter so zu verschlingen, dass sie denken möge, es wäre von außergewöhnlicher Güte. Wohlwollend wäre das dann auch zu loben. Die Aufrichtigkeit allerdings träte zurück, sprächen nicht zwei andere schwergewichtige Tugenden gegen diese Aussprache. Der letzte Punkt ist die Loyalität, die den alten Samurai besonders wichtig war, daher ist es auch der letzte Punkt, der alle anderen einschließt.
Doch was bedeutet Loyalität? Wem gegenüber bin ich loyal? Meinem Ehemann ganz bestimmt. Meinem Kind gegenüber auch. Aber dann beginnen die Abwägungen. Ist es meine Pflicht, meinem Arbeitgeber gegenüber loyal zu sein? Jein. Kommt er seiner Pflicht zur Loyalität mir gegenüber nach, auf jeden Fall. Aber in unseren heutigen Zeiten ist das schwierig, denn die meisten Arbeitgeber denken nur an sich und an Profit. Theoretisch bin ich zur Loyalität verpflichtet, aber das wäre mein Untergang. Und ich entnehme dem Kodex, dass wenn ich stürbe, er nicht gelebt wäre, ergo bin ich quasi zum Selbsterhalt ebenso verpflichtet. Und hier beißt sich die Katze in den Schwanz. Es sei denn, der Arbeitgeber ist ebenso loyal wie ich.
Ich öffne eine Flasche Weißwein. Ein Riesling aus Würzburg von einem guten Freund. Fasziniert beobachte ich, wie die klare Flüssigkeit in mein Glas rinnt. Vorfreude kommt auf. Der Geruch dieses Weines ist einzigartig. Zögernd nehme ich den ersten Schluck, mit den Tugenden des Bushido im Hinterkopf. Ich hoffe so sehr, dass ich mich zu jeder Sekunde richtig verhalte, dass ich richtig handle und ich beziehungsweise mein Ego es nicht zulässt, dass ich Machtgelüste hätte oder ich mir selbst irgendeine Bedeutung zuwiese.
Das Weinglas in der Hand komme ich zu den nächsten Punkten: 5. Die fünf Schlüssel zur Gesundheit. Gleich er erste Punkt: „Rationale Ernährung“ erinnert mich eher an Askese, denn an ein gutes Glas Wein. Ist nicht Wein gleichbedeutend mit Luxus und Völlerei? Ist es gut, Wein zu trinken?
Die fünf Schlüssel zur Gesundheit sind in Asien erfunden worden. Dort gab es aber nur Pflaumenwein und Sake. Ich erinnere mich, dass die Krieger dort dem Sake sehr zugetan waren und entschließe mich, Wein zur gesunden Ernährung zu zählen. Da ich nach Weißwein immer recht müde werde, komme ich gleich zur nächsten Überlegung und dem Punkt: Effiziente Ruhe. Wein und ein anschließendes Nickerchen scheinen mir extrem gut aufeinander abgestimmt. Das bedingt gleich den dritten Punkt: Positive Einstellung! Alle drei Punkte harmonieren rechtschaffen miteinander. Ist man dann erwacht nach einem erholsamen Schlaf, geht man den vierten Punkt an. Sinnvolle Übung. Das Kriegshandwerk ist nicht einfach. Mannigfaltig und anstrengend sind die täglichen Übungen. Aber auch abwechslungsreich und wohltuend. Wenn man dann den fünften Punkt: Richtige Hygiene ebenfalls erfolgreich gemeistert hat, ist man eher auf der Sonnenseite des Lebens angekommen.
Doch dann konstatiere ich die Königsdisziplin: Die drei Geisteszustände. Mittlerweile ist die halbe Flasche Riesling in mir und ich denke nach über Zanshin. Also Wachheit, Bewusstsein, Bereitschaft. Das haben sie mir eingetrichtert. Ich kann nicht anders, als wachsam oder bereit zu sein. Gehe ich aus dem Haus, schaue ich zuvor aus einem sicheren Winkel aus dem Fenster. Gehe ich durch die Haustür, wittere ich und bereite mich darauf vor, aus dem Hinterhalt angegriffen zu werden. Betrete ich einen Raum, egal ob Kaufhaus oder Dönerbude, zähle ich die anwesenden Personen, die Fenster, die Ausgänge und scanne die Personen, ob sie eventuell eine Gefahr darstellten. Bereitschaft, sofort angemessen zu reagieren, um sich und seine Lieben zu schützen, ist immer oberstes Gebot. Und es ist vielfach anstrengender als alles Vorherige.
Dem folgt „Mushin“, das als „Leere des Geistes“ bezeichnet wird. Mushin bedeutet aber auch eine klare Stellung zu haben. Eindeutig, wohldurchdacht und argumentativ schlüssig. Dabei erwartungsfrei und ohne Stolz. Wie sehr wollte ich nächstes Jahr an den deutschen Meisterschaften teilnehmen. Monatelang habe ich meine potenziellen Gegner studiert, sie analysiert, meine Chancen austariert. Doch meine Lehrer sagten: „Du bist noch nicht bereit!“
Mein Ego war so sehr gekränkt. Als ob drei Jahre der Übung und der Schinderei umsonst gewesen wären! „Ich kann gewinnen! ICH KANN GEWINNEN!“ möchte ich ihnen zuschreien, aber dann denke ich an Mushin. Einfach nicht machen, nichts erwarten, Eitelkeit ist der erste Schritt ins Verderben. Ja. Ich habe es akzeptiert.
Der letzte Punkt brennt. Fudoshin, die Balance. Emotionale Ausgeglichenheit, das Universum in mir im Gleichgewicht und das schließt alle Punkte ein.
Ich schaue auf den Wandkalender. 24. Dezember 2019. 22 Uhr 31. Ich lächle. Zum Teufel mit Weihnachten, es gibt Wichtigeres. Langsam und voller Respekt greife ich hinter mich. Wie ein guter Freund schmiegt sich der Griff der Katana in meine Hand. Mein Mann hat den Griff für mich geflochten. Leder. Weiches, zartes Leder. Ich ziehe die Klinge aus der Saya und betrachte zum gefühlt zwölftausendsten Male die Härtelinie, den Klingenrücken und die Habaki mit der stilisierten Schlange. Mein Schwert. Mein Leben. Meine Berufung. Zum Teufel mit Weihnachten. Meine Welt ist eine andere.
Ich weiß, dass ich es bald brauchen werde. Weihnachten ist das Fest der Liebe, angeblich. Aber es ist Konsum. Es ist Kommerz. Es ist nicht ehrlich. Es ist nicht Bushido. Das System wird bald kollabieren und dann sind wir da. Loyalität, den Menschen gegenüber. Bereit sein. Wehrhaft sein, denn die Zeiten werden grimmiger. Zanshin. Ich warte…
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