Das achtunzwanzigste Türchen
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“Das Weihnachtsdorf”
Malerisch, zwischen zwei Hügelketten eingebettet liegt ein wunderschönes, beschauliches Dörfchen. Die Zeit scheint hier den Atem anzuhalten. Auf den Hügelkuppen glimmen kleine Lagerfeuer, zwei an der Zahl. Holzfäller die nach geschafftem, anstrengendem Tagewerk ihren Feierabend mit einer Tasse Tee oder einem Becher Glühwein begehen, dazu eine kräftige Suppe aus dem altbackenen, gusseisernen Feuerkessel. Leise klirren die Ketten des Dreibeins im leichten Abendwind. Lustig flackernd lecken die Flammen am Kesselboden herum. Eine Burg thront majestätisch über den vielleicht dreißig Häusern. Anheimelnd erleuchtet, obwohl niemand auf dem Burggelände zu erblicken ist.
Das alte Wehrgemäuer erglänzt in weihnachtlichem Zauber. Auf der Kuppe neben der Burg posiert mit stolzgeschwellter Brust, eine Reihe mit Lichterketten geschmückter Bäume. Tief verschneit ist die Landschaft, doch auf dem Marktplatz herrscht geselliges Treiben. Alt und Jung flanieren die Menschen des kleinen Dorfes durch die Straßen, hin zum wunderschön anzuschauenden Weihnachtsmarkt. Kutschen rollen heran und bringen Besucher aus den etwas entfernt liegenden Gutshöfen. Ein kleiner Zug hält am noch kleineren Bahnhof, selbst Gäste aus der Stadt kommen hierher, genießen die Ruhe und Beschaulichkeit des kleinen Marktes.
Gut vier Dutzend Verkaufsstände und Händler sind auf dem Marktplatz mit ihren Waren eingetroffen und haben ihre Buden aufgebaut. Drehorgelspieler und Schuhputzer bieten ihre Dienste an, Maronenverkäufer schreien sich die Kehle wund und bieten ihre köstliche Ware feil. Ein Fischhändler ist genauso vertreten wie Brezel und Christstollenstände. „Gebrannte Mandel,“ ruft ein anderer und ein nächster „Popcorn, frisches Popcorn.“ Wunderschön geschmückt verbreiten die kleinen Holzbuden und individuell gestalteten Stände besinnliche Weihnachtsstimmung, Vorfreude allerorten und Hunderte glückliche Gesichter. Lichterketten, Laternen verbreiten romantisches Licht, geschmückte Weihnachtsbäume verfeinern das stimmige Bild. Keinen Tand und Schund gibt es hier zu erwerben, wie so oft auf den großen Märkten. Dafür aber Handwerkskunst und weihnachtliche Dekoration. Ein Hutmacher ist genauso vertreten wie ein Gewürzhändler, ein anderer verkauft feste Winterschuhe. Adventskränze und Weihnachtsbäume stehen zum Verkauf.
Der Spielwaren Stand ist umlagert von neugierigen Kindern, genau wie die Verkäuferin welche flauschige Teddys anbietet. Einen Nikolausstand gibt es und Fotoshooting mit dem heiligen Mann. Kinder laufen glückselig mit riesigen Zuckerwattebäuschen über den Platz. Dazu ein reichhaltiges Angebot an Speisen und Getränken zur Verköstigung und Erfrischung der zahlreichen Besucher. Brezelstand und Crêpes, Reibekuchen und Flammlachs, feine Lebkuchen, Christstollen, hausgemachtes Gebäck und Deftiges, Bier, Wein, Kaffee und alkoholfreie Getränke. Inmitten des Trubels erhebt sich die große Glühweinpyramide.
Weihnachtliche Musik erklingt in besinnlichen Tönen. An mehreren Stellen des Marktes werden Lieder und Gedichte vorgetragen. Der Pfarrer schreitet, begleitet von seinem Messdiener ruhig durch die Schar der Einheimischen und Besucher. Der Bürgermeister stolziert hochwichtig und würdevoll mit seinen Hunden an der Leine durch die Menge, huldvoll grüßend und begutachtend schauend. Auf den Schultern seines teuren Mantels breiten sich Schneeflocken aus. Hellerleuchtete Fenster bieten Einblicke in gemütliche Stuben oder emsige Handwerksbetriebe. Am Dorfrand erstrahlt ein großes Gutshaus in hellem Licht, davor ein mit Laternen geschmückter Zaun. Daneben tobt eine Schneeballschlacht, die Dorfjugend tobt im weißen Zauber. Schneemänner stehen lustig und schweigsam zwischen den Häusern, die Karottennasen vorwitzig in die kalte Luft gereckt. Frieden und festliche Vorfreude schwebt über dem Dorf. Der Dorfpolizist mischt sich gutmütig lächelnd in die freundliche Menschenmenge. Eiskristalle glitzern an seinem Mützenschirm. An einer Stelle ist die Kinderecke aufgebaut, Rutschbahn, ein zugefrorener Tümpel zum Schlittschuhlaufen und ein Pferde - Karussell.
Die kleine Klara ist mit ihren Eltern schon einige Zeit unterwegs auf unserem Weihnachtsmarkt, besinnliche Freude und eine glückliche Weihnachtsstimmung beseelt die kleine Familie. Ein wunderschöner Ausflug ist das hier und richtig tolles Winterwetter. Das kleine Mädchen genießt diesen wunderbaren Tag voller Harmonie und freudigen Überraschungen. Auch mit dem Nikolaus hat sie schon gesprochen und ihren bescheidenen Wunschzettel abgegeben. Es ist einer ihrer schönsten Tage in diesem Jahr und es geht ihr gut. Das war leider nicht immer so, erst als Klara zu Paul und Petra kam, die Adoption genehmigt wurde wandelte sich ihr Leben zum Guten! Die bösen Träume die sie früher oft heimsuchten blieben aus. Liebende fürsorgliche Eltern, ein gemütliches Zuhause und die Wärme einer Familie sorgten für dieses kleine Wunder.
Allerdings gibt es hier im Ort, trotz aller Beschaulichkeit, zwei giftige Menschen die sich gegen Weihnachten und seinen Zauber stemmen, dies allerdings mit ganzer Kraft und einer gehörigen Portion Bosheit. Mit einem schlechten Charakter gesegnet scheinen sie allem Positivem, ihren Mitmenschen und gar sich selbst aggressiv entgegenzutreten. Alles Gute, alle Freude scheint diesen beiden Menschenkindern abhold zu sein, sie passen so gar nicht in die dörfliche Harmonie und sind vielen Einwohnern ein schlimmer Dorn im Auge. Besonders er ist als Trunken- und Raufbold verschrien, jähzornig bis zur Raserei. Seiner Frau billigt man im Dorf den Status einer alten Keifzange zu. Ebenezer Scrooge aus den Erzählungen von Charles Dickens, oder jemand noch Schlimmeres, scheint das Vorbild dieses mürrischen, Händel suchenden Gesellen und seiner zänkigen, immer keifenden Frau zu sein.
Waldemar Bärhaupt und seine streitsüchtige Else finden nichts an diesem ganzen festlichen Getue. Jedweder Trubel, jedwede Freude ist ihnen verhasst. Glück bei anderen Menschen gilt als verpönt, wohl auch weil sie selbst als Sonderlinge ein tristes und einsames, bar jeder Freude liegendes Leben führen. Warum dies so ist, weiß hier niemand. Vor etwas über zwei Jahren tauchte das seltsame Ehepaar hier auf, kaufte ein altes leerstehendes Haus und nistete sich ein. In dieser Zeit ist das Haus noch mehr heruntergekommen, verwahrlost sozusagen, weil niemand etwas daran tut. Das schadhafte Gemäuer scheint Bosheit, Laster und Arglist auszuatmen und die Dorfbewohner meiden es wo es eben geht. Zum Glück liegt das kleine Grundstück etwas außerhalb des Dorfes. Oft klingen laute Stimmen heraus, Geschrei und Gebrüll. Zank und Streit gehört dort wohl zum normalen Alltag. Die Bärhaupts entsagen dem dörflichen Leben, weichen der Obrigkeit und dem Pfarrer weitgehend aus.
Die achtjährige Klara bestaunt schönen Eindrücke mit großen, weit aufgerissenen und verwundert schauenden Augen. Hier war sie noch nie und sie ist ihren neuen Eltern mehr als dankbar für diesen zauberhaften Besuch des kleinen Dorfes. Auf ihre Bitte, ist man heute am Nikolaustag auf diesen altertümlichen Weihnachtsmarkt gefahren. Die Eltern haben sich extra früher frei genommen. Gerade spazieren sie an einem vereisten Bachlauf entlang, Kinder spielen hier und man hat einen guten Überblick über den kompletten Weihnachtsmarkt.
„Papa, gehen wir auch hoch zu der Burg?“ fragt Klara aufgeregt.
„Ja, ganz bestimmt, die möchte ich auch sehen,“ erwidert Klaras Mama und wirft ihrem, mit Geschenkpaketen beladenen Mann einen verschwörerischen Blick zu.
„Aber erst bringen wir die Geschenke zum Auto und essen etwas an einem der vielen Stände,“entgegnet Klaras Paps und atmet tief die verführerischen Essensgerüche ein.
Frohgemut macht sich die kleine Familie auf den Weg zu ihrem Wagen. Sie haben vor dem Ort geparkt, am Waldrand in der Nähe eines alten, etwas verfallen wirkenden Hauses. Aber anscheinend ist es noch bewohnt, denn es brennt nun Licht und laute Stimmen ertönen. Ein Streit scheint stattzufinden, denn je näher sie kommen, desto heftiger wird das Geschrei. Lautes Klirren ertönt, so als ob Geschirr oder Gläser zu Boden gefallen sind, oder gar geworfen. Plötzlich steigert sich das Gebrüll der Männerstimme zum wütenden Crescendo.
Klara fühlt sich an vergangene Zeiten erinnert, Beklemmung und Angst breiten sich in ihr aus. Dieses Gebrüll, das laute Geschrei, klirrendes Porzellan, knallende Türen und das Geräusch von Schlägen, Schmerzensschreie… all dies erinnert die Kleine an die düstere Zeit in ihren ersten Lebensjahren. Vor gut fünfzehn Monaten kam Klara durch ein langatmiges Adoptionsverfahren zu Paul und Petra, ihren Adoptiveltern. Mit ganz viel Liebe und Vertrauen, Gefühl und Zuneigung gewannen die beiden Klaras kindliches, wenn auch früh gereiftes, Herz. Alles Böse versank nach und nach in der Vergangenheit, eingeschlossen wie in einer schweren Truhe. Aller Streit zuhause, die Trunkenheit des Vaters, das Schreien und Schlagen, kaputtes Geschirr und die vielen blauen Flecken und die weinenden Augen ihrer Mama bis sie endlich dem brutalen Vater entfloh und mit ihrer Tochter Klara in einem Frauenhaus der großen Stadt unterkam.
Die Achtjährige zittert wie Espenlaub, die kleine Familie ist nur noch wenige Meter von dem maroden Haus entfernt. Ihre Eltern umfangen Klara liebevoll aber die Eindrücke des anzuhörenden Streites und die Flut der bösen Erinnerungen lassen die Kleine hemmungslos schluchzen. Dann birst ein Fenster unter lautem Getöse, ein Kochtopf poltert über die kleine Straße, verteilt heiße Suppe im Schnee, zeichnet ein unheiliges Muster im friedlich leuchtendem Weiß. Die Männerstimme bricht nun quasi ungedämpft über die drei peinlich betroffenen Menschen herein.
„Dusselige Kuh, du alte Hexe, geh zum Teufel, du und deine ganze dämliche, verblödete Sippschaft. Zur Hölle mit dir, Weihnachten und allen anderen Feiertagen.“ Die brüllende Stimme schnappt über vor Zorn und weiteres Gepolter ertönt.
„Deinen Fraß kannst du dir sonst wohin schmieren, du kannst nichts und bist zu nichts nütze. Und dieses erbärmliche Grünzeug braucht hier niemand, verdammter Dreck.“
Etwas Dunkelgrünes fliegt aus dem Fenster und entpuppt sich als ein Bündel Tannenzweige. Die Zweige und eine große Wachskerze folgen dem Weg des Suppentopfes, der Versuch einer adventlichen Dekoration? Hell kreischt eine weibliche Stimme, schreit Hass und Zorn heraus.
„Du bist ein abgefeimter, unmenschlicher Schuft,“ erklingt das Gezeter, abrupt beendet durch ein klatschendes Geräusch.
Paul nimmt die hemmungslose weinende Klara auf den Arm und trägt seine Tochter die wenigen Meter bis zu ihrem Auto. Beruhigend redet er auf Klara ein. Petra eilt hinterher, einen letzten verzweifelten Blick in Richtung des Hauses werfend. Geschenkpakete liegen im Schnee, unbeachtet im Moment. Später wird Paul sie holen, erst müssen sie ihrer Tochter helfen. Die besorgten Eltern ahnen was in dem kleinen Mädchen vorgeht, kennen Paul und Petra doch Klaras Vorgeschichte genauestens. Mit viel Liebe und Trost versuchen sie ein winziges Lächeln auf die verweinten Gesichtszüge der Kleinen zu zaubern. Und endlich, endlich gelingt es. Ein paar freilaufende Katzen haben mit dazu beigetragen, welche neugierig auf die verschneite Motorhaube klettern und die drei Menschen im Auto unschuldig verspielt mustern.
Trotzdem dauert es über eine Stunde bis Klara sich einigermaßen beruhigt hat. Der böse Streit ist wohl abgeklungen. Allerdings beobachteten Paul und Petra eine weglaufende, wohl weibliche Gestalt. Die gekauften Geschenke und Leckereien sind eingesammelt und im Wagen der Familie verstaut. Die Katzenbande verschwunden, wohl nachhause hinter den wärmenden Ofen. Langsam fährt Paul an, seine Frau sitzt im Fond und hält schützend ihre Arme um die kleine Klara geschlungen. Niemand mag mehr an diesem schrecklichen Haus vorbeilaufen. Paul erinnert sich an sein Versprechen und sucht einen freien Parkplatz in der Nähe der Burg. Zu guter Letzt wird er auch fündig. Ein blauer Opel parkt aus und Paul lenkt seinen Wagen flugs in die freie Lücke.
„Komm, kleiner Schatz, wir sind bei der Burg, du wolltest sie doch so gerne sehen,“ sanft klingt Petras Stimme als sie ihre Tochter liebevoll auf die hellerleuchtete Burg zu ihren Köpfen aufmerksam macht. Schnell laufen die drei nach oben, Hand in Hand, über verschneite Treppen erreichen sie den Burghof. Klaras Blick fällt nach unten. Am Fuße der Burgmauer ein kunterbuntes Hexenhaus, zwei Bänke, ein Brunnen und einige kleine Bäume. Ein Schornsteinfeger steht am Brunnen, bestimmt hat er heute in der Burg gearbeitet. Noch einige Meter darunter breitet sich der Weihnachtsmarkt aus, mit all seinem Treiben, seinen Ständen und Buden, den geschmückten Bäumen und tausend Lichtern. Ein die Seele rührender Anblick für die Erwachsenen und Kinderherz ergreifender für die jüngeren Besucher. Ein innig zufriedenes Lächeln breitet sich auf Klaras Gesicht aus. Fest umfasst die Kleine die Hände ihrer Eltern. Staunend stehen sie noch eine Weile da, saugen diesen geradezu himmlischen Anblick in sich auf, atmen den Geist der Weihnacht. Später fährt eine glückliche Familie nach Hause. Im CD Spieler tönen leise Weihnachtslieder.
„Leise rieselt der Schnee,“ nicht nur im Radio, sondern auch auf der im friedlichen Mondlicht gelegenen Landstraße.
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