Das neunundzwanzigste Türchen
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Nikolaus, hol' die Rute raus!
Nie mehr wollte er diesen Weihnachtsmann-Job machen. Die letzten zwanzig Jahre dachte er, es geschafft zu haben. Stetig wuchs der Erfolg, doch plötzlich war alles vorbei. Der Weg nach oben ist lange und erfordert Ausdauer. Runter geht ganz schnell. Kann jeder Bergwanderer bestätigen.
In der Wirtschaft ist es nicht anders. Sein Vater sagte immer:
„Junge, investiere nie in Unternehmen, die von Entscheidungen der Politik abhängig sind.“
Gundolf glaubte ihm nicht. Er hielt es für Feigheit. Sein Vater baute Särge. Klar war das ein sicheres Geschäft. Gestorben wird immer. Gundolf hätte das Unternehmen übernehmen können. Aber er wollte nichts vergraben. Er wollte etwas erzeugen. Wenn er schon – aufgrund eines genetischen Fehlers - keine Kinder zeugen konnte, so wollte er für alle Menschen etwas erzeugen.
Er fand seine Erfüllung in der Erzeugung von Strom. Die alternative Energie wurde sein Geschäft. Schnell waren die passenden Partner gefunden, ein Geschäftsmodell erarbeitet, um die Chance zu nutzen, den Energiewandel nach Tschernobyl in klingende Münze umzusetzen und gleichzeitig etwas Gutes zu tun. Die ersten Windparks entstanden und Gundolf machte Karriere als Vermittler. Er handelte die Verträge mit Landbesitzern aus, die an Windparkbetreiber verkaufen oder verpachten wollten. Zusätzlich versorgte er Landwirte, die Scheunen mit großen Dachflächen besaßen, mit Sonnenkollektoren.
Die Provisionen sprudelten, er kaufte sich ein Häuschen in seinem schönen Bayernland und heiratete seine Resi, die er zur Hochzeit tatsächlich mit dem Traktor abholte. Bad Füssing stand Kopf, sie feierten ein komplettes Wochenende durch. Von der seltsamen Erscheinung, die er damals beim Pinkeln am Ufer des Inn hatte, erzählte er nie jemandem weiter. Entweder war sie real, aber man hätte ihm nicht geglaubt, oder sie war nicht real, und man hätte ihn für verrückt erklärt – oder ihm einfach nur unterstellt, in seiner Jugend zu viel von dem harzigen Zeug geraucht zu haben:
Gundolf pinkelte tiefenentspannt in den Inn, am Rande des Grundstücks seines Vaters, auf dem sie seit zwei Tagen Hochzeit feierten. Über dem Inn waberte der Nebel und verzog sich in Richtung Österreich. Da gehörte er nach Gundolfs besoffener Ansicht auch hin. Er schaute ihm nach und erkannte eine dunkle Gestalt, die ein seltsam verzwirbeltes Gehörn auf dem Kopf trug und in der rechten Hand einen mannshohen Stock hielt, der oben dicker war als unten. Wie ein langer, schwarzer Eiszapfen, der auf den Kopf gestellt wurde.
Gundolf kicherte: „Nee, oder? Ein Krampus? Wer will mir denn diesen Schmu weiß machen? Halt, stopp. Du stehst drüben – dann ist es Schmäh!“ Er lachte zunehmenden unkontrolliert und pisste sich dabei auf die eigenen Schuhe.
Eine tiefe, basslastige und gutturale Stimme drang über den Fluss an sein Ohr:
„Ich bin ein Krampus. Ich bin eine Warnung. Nimm dich in acht. Manche schwimmen im Erfolg, manche schwimmen zu weit raus!“
„Hä?“
Es war immer das Gleiche mit mystischen Erscheinung. Egal ob in Filmen, Märchen oder modernen Phantasy-Storys: Sie redeten niemals Tacheles. Sie machten verschwurbelte Andeutungen, schürten Ängste, sorgten für vage Vermutungen. Gundolf konnte damit nichts anfangen. Er war Pragmatiker und kein Phantast. Darum gab er nichts auf die Aussage des Krampus, erklärte es für Stuss und ließ einen dicken Furz fahren, genährt aus zwei Tagen Bier, Leberkäs und Schnitzel. Er redete nie über den traumhaften Vorfall, damals am Rande seiner Hochzeit.
Jetzt, gute zwanzig Jahre später, kam ihm die Erscheinung wieder in den Sinn. Irgendwas an der Aussage des Krampus war richtig. Es ging Gundulf jahrelang gut, dann kam zuerst die Reduzierung der Einspeisevergütung und danach kam Seehofer. Abstandsregelung für Windkrafträder. Niemand wollte die Rotoren vor seinem Haus haben. Es wollten zwar alle Ökostrom, aber den „gefährlichen Schattenwurf“, die „Todesmaschinen für Vögel“ und die „elektromagnetische Strahlung der Trafos“ fanden alle plötzlich schlimmer als radioaktive Strahlung, Kohlenstaub in der Luft und Verschmutzung der Weltmeere durch havarierte Öltanker.
Gundulf hatte seit zwei Jahren kein einziges Windkraftgrundstück mehr vermittelt. Resi hielt trotzdem zu ihm. Das rechnete er ihr hoch an. Sie hielt ihm das Weihnachtsmannkostüm vor die Nase und meinte nur mit einem Lächeln:
„Back to the roots!“
Sie hatte so recht. Bevor er sich in Gedanken verlor wie „Bleib lieber unten, dann fällst Du nicht so tief“, sollte er sich lieber damit beschäftigen, wie eine positive Zukunft aussehen könnte. Als Weihnachtsmann zu enden, war nie sein Ziel, aber eine Zwischenlösung und vielleicht ein neuer Anfang.
Die Agentur „Kling Glöckchen“ konnte ihm schnell gute Jobs vermitteln. Es gab viele Darsteller für den Weihnachtsmann, denn unter Bart, Mantel und Mütze konnte man kaum erkennen, ob der Darsteller jung oder alt, schwul oder hetero, männlich oder weiblich war. Trotzdem merkten die Leute, was unter dem Kostüm steckte. Gundolf war in seinem Alter mit leicht ergrauten Haaren und der sonoren Stimme genau der passende Darsteller, um den typischen Weihnachtsmann zu geben.
Dummerweise sprach Gundolf mit den Jahren der Erfolglosigkeit mehr und mehr dem Alkohol zu. Er trank nicht täglich, er trank nie alleine, aber er trank gerne, sobald sich eine gesellige Möglichkeit ergab. Nun waren Weihnachtsfeiern von Firmen und Vereinen nicht gerade Zentren der Enthaltsamkeit. In seiner grenzenlosen Hybris glaubte Gundolf, mit allen Trunkenbolden mithalten zu können. Auf der ersten Weihnachtsfeier ging es noch gut, auf der zweiten wurden seine Sprüche schon leicht kryptisch.
„Von drauß' vom Wald komme ich her,
ich muss Euch sagen, es dürstet mich sehr!
Allüberall auf den Nippelspitzen,
sah ich goldene Ringlein blitzen.
Und droben aus dem Himmelstor,
sah mit roten Augen das Christkind hervor;
Und wie ich ihn roch, den schwarzen Afghan',
komm mein Freund, zünd' die Lunte mir an.
'Frau Ruprecht', rief es, 'altes Gestell,
Hebe die Beine und rubbel Dich schnell!
Die Kerzen fangen zu tropfen an,
das müde Loch ist aufgetan' …“
Die Verballhornung des Gedichts kam in diesem Fall noch gut an, denn er war auf der Weihnachtsfeier der südbayerischen Bordellbetreiber gelandet, offiziell deklariert als „Weihnachtsfeier des Verbands der Steckrübenzüchter“.
Sein dritter Einsatz des Abends war die Weihnachtsfeier einer lokalen Bankfiliale. So fuhr er mit seinem Gedicht fort:
„'...hast denn das Säcklein auch bei dir?'
Ich sprach: 'Das Säcklein, das ist hier:
Doch Konto, Strumpf und Sack sind leer,
die fetten Banker geben nix mehr her'.
'Hast denn die Rute auch bei dir?'
Ich sprach: 'Die Rute, die ist hier;
Doch für die Kinder, nur die armen,
die trifft sie hart, ganz ohne Erbarmen!'
Christkindlein sprach: 'Ihr seid so geil,
Hauptsache, der Aktienkurs geht steil!'“
Als er mit seinem Gedicht geendet hatte, hörte er eine Tannenadel vom Baum fallen. Ein Security-Mann brachte ihn höflich, aber bestimmt vor die Tür des Hotels. Mit der Flasche Champagner, die er von einem Tisch stibitzt hatte, ließ er sich auf einer Bank nieder, auf der bereits eine dick eingepackte Person hockte, unter deren Kapuze eine Zigarette im Mund glimmte.
„Auch 'nen Schluck?“ hielt Gundolf die Flasche hoch vor die Kapuze.
„Gerne“, antwortete eine Frauenstimme. Die Person wandte ihm das Gesicht zu:
„Oh, der Weihnachtsmann persönlich, da habe ich ja doch nochmal Glück heute.“
Ihr sarkastischer Unterton entging Gundolf nicht. Sie blies ihm Zigarettenrauch ins Gesicht: „Ihr Gedicht war übrigens gar nicht so schlecht da drinnen.“
„Kam bei den meisten aber nicht so gut an, fürchte ich.“
„Macht nichts. Sollen sie alle an ihrem Geld ersticken. Ich mache da nicht mehr mit ...“
„Sie kündigen?“, fragte Gundolf interessiert nach.
„Ich werde … - so habe ich heute über Umwege erfahren.“
Sie nahm einen tiefen Schluck aus der Champus-Pulle,
„Mich lassen sie noch die Feier organisieren, dann erfahre ich von einer Kollegin aus der Personalabteilung, ich hätte nicht genug alten Kunden faule Lebensversicherungen verkauft und man müsse ja Personal sparen … blah, blah, blah … wie das ausgeht, weiß man ja. Alle außer mir haben Familie und Eigenheim, also bin ich die erste auf dem Schleudersitz!“
Gundolf fielen keine tröstenden Worte ein: „Übrigens, gestatten – Gundolf. Ehemaliger Unternehmer, jetzt mittelloser Weihnachtsmann!“
Sie nahm seine ausgestreckte Hand entgegen: „Angenehm – Jennifer!“
Gundolf schätzte ihr Alter auf knappe dreißig Jahre. Keine klassische Schönheit, eher ein wenig burschikos mit einer angenehmen Strenge im Gesicht. Ihr Lächeln war überzeugend herzlich. Nicht dieses schleimige Lächeln, welches Geschäftsleute gerne an den Tag legen, um vom Kunden eine Unterschrift zu bekommen.
„Aber hey“, schnalzte sie mit der Zunge, „die Deppen haben mir die Schwarzgeldkasse überlassen, um die verbotenen Extras auf der Feier hier zu bezahlen.“ Ihre Augen funkelten teuflisch: „Lust auf eine Runde Zocken?“
„Gerne. Ich glaube, wir können beide etwas Glück gebrauchen.“
Ein Taxi brachte sie zum Spielcasino. Es dauerte etwas, bis sie Gundolf in der Aufmachung einließen, doch Jennifers erstaunliche Überredungskünste machten die härtesten Türsteher weich. Gnadenlos tauschte Jennifer die Schwarzgeldkasse komplett in Jetons um. Gemeinsam zockten sie auf Teufel komm raus. Sie hatten Erfolge, aber kurz danach noch größere Verluste beim Roulette.
„Wie im echten Leben“, lallte Gundolf.
„Egaaaal“, gröhlte Jennifer, „das Geld gibt es offiziell sowieso nicht.“
Sie spielten wie im Rausch, bis Gundolf aus heiterem Himmel an Resi denken musste. Seine treue Resi, immer hielt sie zu ihm. Und was machte er hier eigentlich?
„Nur noch ein Jeton.“ Jennifer hielt Gundolf das orangene Plastikteil vor die Nase.
„Kann ich den setzen?“, fragte Gundolf, plötzlich ganz kleinlaut.
„Wie du willst. Das Glück gehört den Kindern und den Besoffenen!“ Jennifer ließ den 1.000er in Gundolfs ausgestreckte Hand fallen: „Den Gewinn teilen wir!“
„Falls wir gewinnen“. Gundolf hielt den Jeton in der zur Faust geballten Hand:
„Alles auf die 25!“
„Rien ne va plus“. Jennifer und Gundolf starrten gespannt auf die langsamer werdende Drehscheibe. Als sie endliche stoppte, blieb für das unglückliche Paar für einen Atemzug die Welt stehen. Dann erscholl ein Jubelschrei durch das Casino.
„Halleluja!“ jauchzte Gundolf.
„Zum Teufel mit Weihnachten“, meinte Jennifer, „jetzt kommt Samba auf Samoa!“
Sie bestellten noch eine Flasche Champagner und stießen auf ihren Erfolg an.
„Nun ist aber Schluss mit Spielen, den Gewinn nehmen wir mit!“
Gundolf nickte stumm. Jennifer überreichte dem Croupier seinen Höflichkeitsanteil und drehte sich wieder zu Gundolf um:
„Los, lass' uns die Koffer packen und ab in den Süden ...“
Gundolf schüttelte leise lächelnd den Kopf.
„Nein Danke, Jennifer“, flüsterte er. „Du bist eine tolle Frau, wäre ich 20 Jahre jünger, würde ich sofort mitkommen.“
„Was heißt schon das Alter ...“ Jennifer kam nicht weit mit ihrem Einwand.
„Ich habe Resi. Resi ist mein Glück. Ich habe sie vor vielen Jahren an einem 25. Dezember kennengelernt. Darum habe ich auf die 25 gesetzt ...“
Jennifers Gefühlsbarometer schwankte zwischen spontaner Eifersucht und bittersüßer Rührung. Schließlich bekam sie doch feuchte Augen.
Mit einem seltsamen Strahlen im Gesicht erzählte Gundolf weiter:
„In zwei Tagen feiern wir den Tag, an dem wir uns kennenlernten. Ich kann ihr an diesem Tag das schönste Geschenk machen, dass es gibt. Nicht Geld, kein Schmuck, keine Reise. Aber mit dem heutigen Gewinn kann ich sorgenfrei einen Neustart wagen. Was kann ich ihr besseres schenken, als endlich sorgenfrei zu sein?“
Jennifer umarmte Gundolf innig und eine gefühlte Ewigkeit lang. Als sie sich von ihm löste, flüsterte sie ihm diabolisch grinsend ins Ohr:
„Dann sein ein guter Nikolaus, hol' nur bei ihr die Rute raus!“
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