Das dreißigste Türchen
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Streik der Engel
Ein heftiger Donnerschlag reißt Michael aus dem Schlaf.
Erschrocken springt er aus seinem Bett und lauscht in die ansonsten stille Nacht.
Noch liegt Dunkelheit über den himmlischen Gefilden, doch als er aus der Tür tritt, sieht er, dass Metatrons Haus auf der Anhöhe hell erleuchtet ist.
Durch die großen Bibliotheksfenster sieht man seinen Schatten, der unruhig hin und her geistert.
Ungewöhnlich und beunruhigend! Michael beschließt dem auf den Grund zu gehen und macht sich auf den Weg. Unterwegs gesellt sich Raphael dazu. Seine Harley blubbert einzigartig vor sich hin und inzwischen sagt auch niemand mehr etwas dagegen. Er ist nun mal etwas eigen und kauzig.
Auf der anderen Seite der Anhöhe sind vier weitere Gestalten zu erkennen. Jophiel, Chamiel, Zadkiel und Haniel scheinen ebenso wissen zu wollen, was den Donnerschlag verursacht hat.
Uriel öffnet ihnen die Tür:
„Sehr gut, nun sind wir vollzählig. Metatron und Gabriel sind schon in der Bibliothek.“, sagt er und geht vor. Der große Raum erstrahlt in weißgoldenem Licht. Metatron glüht förmlich, unterstützt vom rosafarbenen Schein, der Gabriel umhüllt. Beide starren entgeistert auf den großen Bildschirm. Michael und die anderen treten näher und sehen ihren gefallenen Bruder Morgenstern, mit schwefelgelben Haaren, im Fernsehen der Menschheit.
Es herrscht einige Minuten Stille, nur das Licht des Raumes schillert nun in einigen weiteren Farben. Chamiels rubinrote Aura ist besonders intensiv, fast höllisch anmutend.
Nachdem nun alle Anwesenden wortwörtlich im Bilde sind, ergreift Metatron das Wort. Seine Stimme dröhnt in ihren Ohren, obwohl er leise spricht.
„Es ist schändlich und irre, diese neuste Teufelei unseres ehemaligen Bruders! Zwar habe ich schon Hinweise in der Akasha-Chronik gefunden, dass etwas bevorsteht, aber dieses Werk setzt dem Ganzen die Krone auf! Weihnachten ist dieses Jahr ganz in Händen des Teufels und die tv-gläubige Menschheit findet sogar Gefallen daran!“ Die unterdrückte Empörung ist nicht zu überhören, als er fortfährt.
„Nach Rücksprache mit dem Allmächtigen werden wir uns für ein ganzes Jahr zurückziehen - bis zum nächsten Christfest. Wir werden dann sehen, was die Menschen ohne uns tun. Sämtliche Himmelswesen werden in einen Großstreik treten. Vom kleinsten Schutzengel bis hin zu uns.
Es wird nur beobachtet und Buch geführt über jedwedes Ereignis.“
„Was sollen wir machen in der ganzen restlichen Zeit?“ wirft Raphael bestürzt ein.
„Wir machen ein Jahr Urlaub. Abgesegnet von höchster Stelle werden wir die himmlischen Gefilde verlassen und nach Asgard reisen.“ antwortet Gabriel, der nun ins Gespräch eingreift.
Erst hätte man eine Nadel fallen hören können, aber dann reden alle durcheinander und es wird laut. Fragen, Spekulationen, Bedenken und Diskussionen um den Sinn dieser Aktion hallen von den Wänden wider.
„Ruhe jetzt!“ Metatron verschafft sich Gehör. „Es ist beschlossene Sache und Odin bereits in Kenntnis gesetzt! Packt zusammen, wir reisen schon heute Mittag.“
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Pünktlich um 12.00 Uhr sind alle vor dem Ebenen-Konverter versammelt. Es entbrennt allerdings noch ein heftiges Wortgefecht, da Raphael sich weigert, seine Harley zurückzulassen. Es braucht wahrlich Engelszungen und Geduld, seine Sturheit zu umschiffen und ihn zu überzeugen, dass es einfach nicht ratsam ist, diese mitnehmen zu wollen.
Nachdem dieses endlich geklärt ist, betreten alle das Glashäuschen, das einem Fahrstuhl ähnelt und auch fast so funktioniert.
Gabriel nimmt die Einstellungen vor und drückt dann auf Start.
Das Innere füllt sich mit einem glitzernden nebelartigen Rauch. Es rauscht wie von tausend Flügelschlägen, schwillt an zu dem tiefen Brummen eines Hornissenschwarms und verstummt wieder.
Ping! Angekommen.
Sie werden bereits erwartet.
Die imposante Gestalt von Thor, der seinen riesigen Hammer wie eine Feder geschultert hat, steht grinsend vor ihnen.
„Willkommen in Asgard.“ begrüßt er die Erzengelgesellschaft. „Welch ungewöhnlicher Besuch! Folgt mir in die Halle meines Vaters.“
Der Weg führt über eine gewundene Treppe nach oben. Sie durchqueren einen nach allen Seiten offenen Saal mit Kuppeldach und betreten dann eine lange Brücke, an deren Ende sich der weltüberschauende Palast Walaskialf und die große Halle Odins befinden.
Der düster anmutende einhändige Ase Tyr, öffnet ihnen die Tore. Wer kennt sie nicht, die Geschichte, wie er seine rechte Hand verlor?
Das wilde und gefährliche erste Kind von Loki und der Riesin Angrboda, der Fenriswolf, sollte gefesselt und weggesperrt werden. Der mutige Tyr rettete die gesamte Götterwelt mit einer List und bezahlte es mit seiner Hand.
Raphael bleibt plötzlich stehen,
seine Augen bekommen einen seltsamen Glanz, als er das achtbeinige Ross Odins, Sleipnir, erblickt, das friedlich im Hof grast.
Michael knufft ihm in die Seite und raunt: „Nun komm schon weiter, zum Bestaunen bleibt noch ein ganzes Jahr Zeit.“
Sie erreichen die anderen just beim Betreten der Halle, an deren Ende der Gottvater Odin auf seinem erhöhten Platz thront. Auf seinen Schultern hocken zwei Raben. Neben ihm, auf gleicher Höhe sitzt Frigg, eine seiner vielen Gattinnen und Mutter von Balder.
Natürlich fallen die Erzengel mit ihrer farbig leuchtenden Aura hier auf wie bunte Hunde, aber die zusammengewürfelte Gesellschaft im Saal stört sich nicht daran. Sie essen, trinken und schwatzen vergnügt.
Der einäugige Odin, der sein Auge gegen göttliche Weisheit eingetauscht hatte, begrüßt sie aufmerksam, erklärt einiges und lädt sie ein, sich erstmal zu stärken, bevor Frigg ihnen später ihre Quartiere zuweist.
Es ist ein sehr entspannter erster Tag bei den Asen, dem viele weitere folgen. Die Engel werden abgelenkt von dem, was auf Erden passiert, denn dort ist der Teufel los und die Hölle bricht auf.
Das Jahr vergeht wie im Flug, mit Abenteuern, Geschichten und neuen Freunden. Aber das ist eine andere Geschichte, die an dieser Stelle nicht erzählt wird.
Am 23. Dezember, nach Erdenrechnung, ist die Erzengelschar, wieder begleitet von Thor, auf dem Rückweg zum Portal. Nur dass Raphael es tatsächlich geschafft hat, sich mit Sleipnir anzufreunden und mit Odins Erlaubnis stolz auf ihm reitet. Zum Abschied zupft er sich eine smaragdgrüne Feder aus den Flügeln und drapiert diese in der langen Mähne des Pferdes.
~
Wieder zurück, versammelt sich die Truppe in der Bibliothek, wie vor dem Aufbruch. Der Monitor flackert fast 24 Stunden und liefert Schreckensbilder auf Erden.
Luzifer Morgenstern hat ganze Arbeit geleistet in den vergangenen 12 Monaten.
Vermutlich ist die Bevölkerung um die Hälfte geschrumpft. Kriege, Katastrophen und Pandemien beherrschen die Nachrichten.
Allerorts Bittgebete und Flehen an „Gott“ - sogar in sämtlichen Sprachen und Bezeichnungen - ist zu vernehmen.
„Nun, ich denke es wird Zeit den Streik zu beenden und das Chaos aufzuräumen, das der Gefallene angerichtet hat!“ verkündet Metatron im Namen des Allmächtigen und entsendet die gesamten Heerscharen, in der Hoffnung, dass solch ein Streik nie wieder von Nöten sein wird.
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