Das fünfte Türchen
Ein Licht im FensterDie Stadt ist weihnachtlich dekoriert. Massen von Menschen wabern durch die Einkaufsmeile. Einige verweilen an den Fressbuden, stopfen Herzhaftes und Süßes in sich hinein, andere ertränken den Stress am Tag vor Heiligabend mit Glühwein und Lumumba.
Viele sind überladen mit Tüten und Paketen, welche die Geschenke „in der letzten Minute“ beinhalten. Trotz des leichten Schneefalls und der bunten Lichter ist in der Dunkelheit von Besinnlichkeit keine Spur. Im Gegenteil, die Leute sind ungeduldig, unaufmerksam und genervt unterwegs. Zum Teufel mit dem ganzen Zinnober rund ums Weihnachtsfest!
Ben sitzt in einer Lücke zwischen der Punschbude und dem Crêpestand auf einem kleinen Stapel alter Zeitungen. Er beobachtet das hektische Treiben und fröstelt trotz mehrfach übereinander gezogener Schichten alter Shirts und Pullis. Auch die Jacke hat schon bessere Tage gesehen. Seine Jeans ist an einigen Stellen gerissen, was aber bei der herrschenden Mode nicht auffällt. Seine schulterlangen dunklen Haare stecken unter einer Wollmütze und in seinem Bart haben sich etliche Schneeflocken verfangen. Die Temperaturen sind gen Null gefallen und sein Atem hinterlässt nebelartige Wolken in der Luft. Wärmend an ihn geschmiegt liegt ein strubbeliger Vierbeiner, der eines Tages einfach da war und bei ihm geblieben ist. Er hat ihm den Namen Yoda gegeben, da seine Ohren seitlich abstehen und der Ausdruck der Augen ihn immer an den kleinen Yedimeister erinnert.
Ben überlegt, wo er die Nacht verbringen soll. Das Wohnheim für Obdachlose kommt nicht in Frage. Es ist überfüllt, miefig und die vielfachen Schnarchgeräusche verhindern, dass er nur ansatzweise Schlaf finden kann. Abgesehen davon darf Yoda dort nicht rein. Er sucht es nur auf, um zu duschen oder Wäsche zu machen. Am besten wird es sein zu warten, bis hier alles Geschlossenen ist und sich dann ein Plätzchen im Eingangsbereich der Einkaufspassage zu sichern.
Vorher muss er noch etwas zu essen für sich und Yoda besorgen. Er wirft einen Blick in den Plastikbehälter am Boden und entnimmt erfreut die Münzen. Es sind fast 15 Euro.
Mehr als genug, um für zwei Tage Lebensmittel im Discounter einzukaufen. Am besten morgen, kurz vor Ladenschluss, da ist nochmal einiges günstiger wegen der Feiertage.
Hätte ihm das vor fünf Jahren jemand gesagt, hätte er Demjenigen wohl einen Vogel gezeigt. Es war vor Weihnachten, wie jetzt, als das Ganze seinen Lauf nahm.
Ben, ein selbstständiger Unternehmer, der rund um die Uhr nur sein Geschäft im Sinn hatte. Handy und Laptop sein ständiger Begleiter. Pausen und Urlaub unmöglich, denn Zeit ist schließlich Geld! Für Beziehungen mit Frauen reichte es auch nicht, allenfalls mal ein One-Night-Stand, wenn es gerade passte. Dazu unregelmäßiges Essen, meist Fastfood. Sein Haus stand häufig leer und eine Zugehfrau machte das Nötige, wenn er geschäftlich unterwegs war.
An Geld mangelte es nicht, aber an der Zeit es auszugeben. Kurz vor Weihnachten hatte er noch einen Riesenauftrag an Land gezogen und abgeschlossen. So würde er noch mehr zu tun haben die nächsten Monate.
Er gönnte sich zur Feier des Tages einen Besuch im Steakhouse. Während er auf das Essen wartete, checkte er seine E-Mails und legte ein paar neue Excel Tabellen an.
Es war das letzte woran er sich erinnern konnte. Ihm wurde schwindelig, in seinem Kopf rauschten die Niagarafälle und ihm schwanden die Sinne.
Er befand sich im Krankenhaus, als sein Denken wieder einsetzte. Er sah den Arzt, der zu ihm sprach, aber verstand kaum etwas. Es klang, als spräche der Mann in ein Wolltuch.
Es gruselte Ben, wenn er daran dachte. Er hatte einen Hörsturz erlitten und sein Kreislauf war zusammengebrochen. Burnout! Anschließende Kur und Reha. Es dauerte Monate, sich davon zu erholen und wieder richtig hören zu können. Sein Unternehmen ging den Bach hinunter, vor allem durch die Schadenersatzansprüche des nicht erfüllten Auftrages. Konkurs. Pleite. Alles war weg.
Von heute auf Morgen saß er mit Nichts auf der Straße.
Ben schüttelt die Gedanken ab, lächelt und atmet befreit auf. Es brauchte wohl diesen krassen Absturz um zu erkennen, was wirklich wichtig ist im Leben. Als mittelloser „Penner“ ist er nun glücklicher als vorher. Kein Druck, keine Termine und die Freiheit zu tun, was immer ihm gerade einfällt.
Er krault Yoda und schaut in die Menschenmenge. Ein kleines Mädchen bekommt gerade einen Crêpe und beißt freudestrahlend hinein. Daneben, vermutlich die Mutter, wartet noch am Stand, dass ihrer auch fertig wird.
In diesem Moment drängelt sich ein Mann durch die anstehenden Leute. Er telefoniert, gestikuliert wild herum und übersieht das Kind.
Die Kleine wird zur Seite gestoßen, stolpert und fällt zu Boden. Der Crêpe landet auf dem Pflaster. Dicke Tränen kullern über ihre Wangen. Der Typ hat es nicht mal bemerkt.
Ben springt auf und hilft dem weinenden Mädchen aufzustehen. Ihre Wollstrumpfhose ist an den Knien aufgerissen und man sieht die aufgeschrappte Haut darunter. Die fassungslose Mutter ist auch direkt zur Stelle und nimmt die Kleine in den Arm. In der Menge dahinter entsteht ein Tumult und ein paar erboste Menschen stellen den Telefonrüpel zur Rede, der nun endlich bemerkt, was er angerichtet hat. Statt sich zu entschuldigen, greift er nur in die Manteltasche, zieht ein Visitenkärtchen hervor und hält es der perplexen Frau hin. „Falls ein Schaden entstanden ist, wenden sie sich an mein Büro.“ sagt er abgelenkt, nimmt das unterbrochene Gespräch wieder auf und verschwindet.
„Ein Stück weiter ist ein Wagen der Johanniter, vielleicht sollten die Helfer dort einmal auf die Knie der Kleinen schauen...?“ wendet sich Ben an die noch immer am Boden hockende Frau.
„Danke, das ist sicher besser, wo genau ist das?“ fragt sie und schaut ihn an.
„Ich bringe sie hin. Kannst du laufen?“ fragt er das Mädchen.
Die Kleine schaut mit großen, noch nassen Augen zu ihm hoch. „Ich bin Lisa, bist du der Weihnachtsmann?“
Ben muss grinsen. „Nein, ich heiße Ben und ich denke der Weihnachtsmann hat einen weißen Bart.“
So ganz überzeugt scheint Lisa noch nicht zu sein, wird aber abgelenkt von Yoda, der mittlerweile, neben seinem Herrchen steht und sich den Rest vom Crêpe schmecken lässt. „Mama, schau mal, so einen Hund möchte ich auch haben. Meinst du, der Weihnachtsmann schenkt mir einen?“
„Das weiß ich nicht Lisa, aber komm jetzt erstmal, wir holen ein Pflaster für dein Knie… ok?“
lenkt die Mutter ab.
Lisa nickt, lässt aber Yoda nicht aus den Augen.
Ben begleitet die beiden bis zum „Erste Hilfe Wagen“ und wartet noch, bis Lisa zwei bunte Pflaster auf den Knien hat, dann verabschiedet er sich und wünscht den beiden ein schönes Fest. Lisa winkt ihm und Yoda hinterher.
Statt zu seinem Platz zurückzukehren geht Ben mit Yoda noch eine Runde bummeln. Die Geschäfte haben inzwischen Ladenschluss und es wird leerer. Auch der Weihnachtsmarkt wird heute etwas früher schließen.
An der Bratwurstbude gibt’s die letzten Würstchen zum halben Preis. Ben überlegt kurz und kauft dann zwei. Natürlich wird brüderlich geteilt und sie lassen sich die heiße Wurst schmecken. Die Brötchen steckt Ben für später ein und besorgt sich aus der BackFacktory noch einen großen Kaffee to Go. Yoda schlabbert aus dem Springbrunnen, der zum Glück noch nicht zugefroren ist.
Dann wird es Zeit einen Nachtplatz zu belegen, einige sind sehr begehrt. Ben holt die Zeitungen und seinen alten Rucksack, den er am Crêpestand gelassen hat.
An der Glühweinbude tummeln sich noch einige Schnapsdrosseln. Sie grölen lauthals und schräg ein paar arg verballhornte Weihnachtslieder.
Schmunzelnd steuert Ben die Einkaufspassage an und ergattert noch ein halbwegs geschütztes Plätzchen. Er legt die Zeitungen zuunterst und rollt darauf seinen alten Schlafsack aus. Yoda wartet bis er hineingeschlüpft ist, dann schmiegt sich dicht an ihn.
*
Andrea ist froh, als Lisa endlich eingeschlafen ist. Unentwegt hat die Kleine noch von Yoda, dem Strubbelhund, geschwärmt.
Sie überlegt, dem freundlichen Mann als Dankeschön ein paar Leckereien zu bringen.
Schon früh ist Andrea auf und fährt etwas einkaufen. Ein paar dicke Kauknochen für Yoda und eine große Gebäckdose für das Herrchen. Die Straßen sind vereist, der Schnee ist liegengeblieben und es ist mächtig kalt geworden. Ihre Mutter schaut nach Lisa, bis sie zurück ist.
Andrea nimmt den Bus in die Stadt. Unterwegs kommen ihr Zweifel - ob sie Ben wohl findet? Die Einkaufsmeile ist menschenleer, die Läden und der Weihnachtsmarkt sind noch geschlossen.
Andrea startet ihre Suche am Crêpestand. Sie schaut in sämtliche Ecken und Nischen und hält Ausschau nach dem Hund. Erfolglos! Sie beschließt, noch weiter Richtung der großen Kaufhäuser zu laufen, aber vermutlich wird sie auch dort nicht fündig werden. Sicher hat er bei den Temperaturen Schutz in einem Wohnheim gesucht.
Als sie um die nächste Ecke biegt, sieht sie einen Rettungswagen vor der Einkaufspassage stehen.
Lautes Gebell und Gejaule erklingt ganz in der Nähe. Nichts Gutes ahnend geht sie weiter. Sie sieht Yoda, der beschützend vor einer am Boden liegenden Gestalt steht und bellt. Die Sanitäter trauen sich nicht heran.
Geschockt tritt Andrea näher und ruft Yoda. Der große Hund hält inne, winselt, kommt auf sie zu und setzt sich. Beruhigend krault sie ihn am Kopf.
„Sind Sie bekannt oder angehörig?“ fragt einer der Sanis.
Sie schüttelt den Kopf und erklärt kurz, was am Vorabend gewesen ist, während die Rettungskräfte jetzt endlich zu dem am Boden Liegenden treten können.
Es dauert nicht lange, bis einer der Sanis zu ihr kommt.
„Der Mann ist tot, vermutlich im Schlaf erfroren, aber genaues wird erst die Obduktion ergeben. Wir rufen jetzt die Polizei und das Tierasyl an. Die werden alles Weitere klären.“
„Bitte nicht das Tierasyl, ich werde den Hund mitnehmen und mich kümmern.“ sagt Andrea spontan. „Ich lasse Ihnen meinen Namen und Adresse hier, für eventuelle Formalitäten, wenn das in Ordnung ist...?“
„Hmm, ich denke schon.“
Der Sanitäter nickt. Andrea kramt nach einem Zettel und schreibt alles auf. Das ist schnell erledigt.
Als Ersatz für eine Leine holt der Mann einen abgewickelten Verband aus dem Wagen.
„Das müsste gehen, bis Sie Zuhause sind.“ meint er.
Traurig tritt Andrea mit Yoda den Heimweg an. Irgendwie fühlt sie sich schuldig, auch wenn sie nichts hätte tun können. Das einzige ist, sich um Yoda zu kümmern, denn Ben hat sicher an ihm gehangen und würde sich freuen, wenn er ein liebes Zuhause findet.
Daheim angekommen, springt ihr Lisa entgegen, als sie das Haus betritt. Mit großen Augen schaut sie auf Yoda und fällt ihm um den Hals.
„Mama siehst du, Ben ist doch der Weihnachtsmann und hat mir Yoda geschickt!“
Andrea schaut nachdenklich auf ihre Tochter, dann sagt sie:
„Vielleicht hast du Recht, Lisa, aber wir sollten ein Licht ins Fenster stellen, damit der Weihnachtsmann Ben auch seinen Weg nach Hause findet, meinst du nicht auch?“
*