Die Schneekugel
.(Große Teile dieses Textes hab ich schon mal in der Kopfkinogruppe gezeigt. Nun ist er aber ergänzt und abgerundet hier zu lesen)
Fünf Uhr morgens und ich hasse die Welt. Ich hasse sie inständig. Ich stehe im Bahnhof von Drancy am Gleis und hasse und friere. Ich bin Doktor Schiwagos Enkel ohne den Schnee. Der wollte hier nicht fallen. Der große Wurm schnellt herbei und bleibt mit ´nem Fauchen stehen. Er saugt alle ein und spuckt niemanden aus. Er wird uns alle auf einmal ausspucken, wenn wir dort sind. Der Wurm bietet innen kaum noch Platz mehr zum Sitzen, was mich nur noch mehr hassen lässt, aber wenigstens vom Weiterschlafen abhält. Ich halte mich neben ´ner Tür auf und an ihr fest, visavis zum völlig zurecht malträtierten Aufkleber mit der Aufschrift hier nicht festhalten. Ich hasse den RER. Ich hasse die RATP. Es ist kalt bei der Tür und zugig, aber die Luft ist atembar. Und vielleicht werde ich sie von hier aus sehen, wenn sie einsteigt. Ihre Station ist Courneuve, die übernächste. Wir sind kurz vorm Bourget.
Hoffentlich, werd` ich sie sehen, damit dieser Morgen wenigstens ein bißchen Wärme bekommt. Wenn ich Glück habe, wird sie mit dem Gesicht zu mir sitzen und ich werde sie anschauen und versuchen ihren Blick zu kreuzen, wenn ich mich diesmal trau und nicht abdreh. Oder sie wird stehen und meine Augen gehen auf große Fahrt über ihre Kurven. Ich, für meinen Teil, nenne das Große Fahrt. Meine Augen sind Profis und nennen das Kurvendiskussion.
Das erste Mal, dass ich sie sah, vor nun fast zwei Jahren, trat sie ein in meine Welt und schüttelte sie durch wie eine Schneekugel. Und wie eine solche war meine Welt dadurch erst wirklich wahr geworden und schön. Sie entriss dem Boden meinen Blick, zog ihn an und trägt ihn seither spazieren, immer wenn sie da ist. Er gehört ihr jetzt.
Sie stand miteinemmal da. Ihre Beine waren in grauen, wollenen und warmweichen Strumpfhosen gekleidet, die in einfachen Winterstiefeln steckten. Das war das Erste, was ich von ihr sah und ich sehe dieses Bild jetzt immer noch vor mir. Sie setzte sich, lächelte ihr Handy an und legte es vorsichtig in ihre Tasche. Sie sah zum Fenster hinaus, und lächelte wieder. Sie schloss die Augen und begann zu träumen. Ich öffnete die Augen und begann zu träumen. Später nahm ich an oder vielmehr hoffte, dass sie lächelte, weil sie wusste, dass ich sie ansah. Meine Kleine ist aber nicht die Frau, die zurückschaut. Nicht im RER und nicht beim ersten Mal.
Ich weiß nicht mal, wie sie heißt. Sie ist Angolanerin, das hörte ich, als sie sich unterhielt mit ihren Kolleginnen. Ich stand eine Reihe weiter vorne und schaute vom Gästeblock aus zu und lauschte. Sie trugen ihre Schwesternuniformen. Ihre ist ein bißchen zu eng ausgefallen, weil meine Kleine eben etwas kleiner und runder ausgefallen ist. Da und dort bilden sich zusätzliche kleine Rundungen. Wenn sie sich bewegt, bewegen sich all ihre großen und kleinen Rundungen harmonisch miteinander, als ob sie zusammen tanzen. In der Schwesternuniform sieht sie aus wie das süßeste Stück Loukoum, das ich jemals sah, einschließlich derer, die ich als kleiner Junge im Süßigkeitenladen sah. Und das willst du haben und du willst es schmecken, es essen und deine Finger ablecken.
Der Bourget ist vorbei. Wir haben mehr Ladung genommen und es ist voller geworden, mehr Sichtbarrieren von sichtlich Dummen. Ich hasse schon wieder. Der Wurm verlangsamt, ich erkenne jedes Geländer, jeden Mast, jede Werbung, jedes Graffito und jedes Tag. Der Courneuve. Ich stehe rechts neben der Öffnung im Inneren des Wurmes und schaue in Fahrtrichtung. Ich sehe sie nicht. Der unfair kalte Wind spuckt mir ins Gesicht noch kälteren Graupel. Meine Augen suchen sie. Meine Augen sind Hunde, unterwiesen und ernährt von den Wölfen in den Wäldern. Sie ist nicht da. Ich strecke mich hinaus, um nach hinten zu scannen.
Sie geht auf den Wurm zu und ist im Begriff einzusteigen. Bei meiner Tür. Sie lächelt. Sie lächelt mich an. Sie lächelt mit allem was sie hat. Ihre Augen sind groß und leuchten wie ein Meer von Bengalos vor dem großen Spiel. Ihre Lippen sind voll und zaubern ein Lächeln, das Gott weinen ließe, nähme er sich mal die Zeit sie anzusehen und es ist von einer Süße, als sei es in Sirup getränkt und karamellisierte nun vor meinen Augen. Unbesiegbar und vollkommen und ich höre das Knistern des Karamells. Meine Lippen ergeben sich und gehen in Gefolgschaft. Meine Augen tun ihnen gleich. Meine Augen sind kleine putzige Welpen. Mir ist so unendlich wohl und warm. Sie steigt lächelnd ein, jetzt nach vorne blickend, an mir vorbeischauend. Ich folge ihren Bewegungen. Sie bleibt stehen, ich bleibe stehen, der Zug fährt los.
Sie steht vor mir. Ein, zwei Schritte vielleicht, aber sie kommen mir viel vor. Sie streicht mit der rechten Hand über ihr Haar und setzt sich die winterliche Mütze wieder auf. Sie dreht ihren Kopf leicht und schaut zu mir. Ich sehe ein Auge und ihren lächelnden Mundwinkel und ich will meinen Mantel dringend ausziehen. Ich weiß, ich sollte zu ihr gehen, aber meine Füße sind mit dem Boden verschraubt. Das ist die Scheiße, die mir immer wieder passiert.
Wir bremsen abrupt. Sand schmilzt und schreit. Ich versuche mich festzuhalten und benötige einen Ausfallschritt. Ach jetzt bewegst du dich, blöder Klumpfuß? Meine Kleine wechselt den Griff und kommt näher. Meine Kleine ist mutig, mutiger als ich. Ich hoffe es ist das. Die Tür geht auf und noch mehr strömen herein und an mir vorbei und ich bete, dass sie mir nicht vom Strom fortgerissen wird, als ich sie spüre und mir schwindlig wird. Ich verspüre ihre Wärme und mit meiner Brust ihre Schultern. Ihr runder, weicher Hintern schmiegt sich an meinen Schoß, wie der Kopf einer alten Ehefrau sich an die Schulter ihres Mannes schmiegt. Sie ist zu mir gekommen. Die Schneekugel ist durchgeschüttelt und die Flocken wirbeln herum und tanzen ihre Tänze, die keiner vorhersehen kann und alle lieben. Ihr Hintern, den sie mit Kraft gegen meinen Schoß drückt, verfehlt nicht sein Ziel. Jede Zelle meines Körpers will jede Zelle ihres Körpers in die Arme nehmen, wiegen und besingen. Jede Zelle meines Körpers will auch jede Zelle ihres Körpers in die Arme nehmen und rannehmen.
Der Zug fährt los und ich auch. Meine Hand wird zuerst flügge und macht sich auf den Weg ihre zu finden. Mein Mund fasst sich ein Herz und bewegt sich zu ihr und hält inne, weil er nicht weiß, wie er ihren Kopf küssen soll, und ob überhaupt. Er kann ja schlecht ihre Haare küssen, oder doch? Unsere Hände zaudern und zögern und finden sich letztlich in zartem Tanz. Ich sehe ihren Hals vom Gästeblock aus und von hier erwische ich ihn ungeschützt. Meine Augen sind gefräßige Vögel, die endlich den Baum gefunden haben, der ihre Früchte trägt. Ihr Hals ist meinen Lippen das verheißene Land, geschnitzt aus Ebenholz von einem liebenden Gott.
Und meine Lippen, die mir stets schwankend und abtrünnig waren, sind jetzt miteinemmal wagemutig. Ihre Hand drückt fest die meine und sie dreht sich zu mir um und sieht meine Lippen auf dem Weg zu ihr in der Luft flatternd wie ein geschundener Papierdrachen und sie stoppt sie mit ihren Fingern, ganz sacht. Sie lächelt und sagt, sie sei immer da, jeden Tag aber sie müsse jetzt aussteigen. Ihre Augen leuchten Trauer und in ihnen sammeln sich Tränen. Sie drückt noch einmal meine Hand, dreht und geht. Ich bekomme nicht ein Wort heraus, weil meine Lippen einfach Arschlöcher sind. Sie zucken nur, aber ihre Augen, in denen bengalische Feuer unter Wasser brennen, verraten mir, dass sie genau das süß fand und so lächle ich ihr selig hinterher, während sie aussteigt. Ich folge meiner Kleinen mit meinen junghundischen Augen und bin voll Wonne. Ich verbleibe so berauscht für eine Weile und steige fiel zu spät aus. Ich gehe nicht zur Arbeit heute. Ich bin verliebt. Oder psychotisch.
Die Tür geht auf.
Ladungsausgleich.
Wühlen in Massen.
Einem Ball in einem Flipper gleich gelange ich ins Freie.
Schwärmende Insekten und ich bin eines von ihnen. Steigröhren und Flüsse von uns.
Champ de Mars. Sieh an, wo ich gestrandet bin!
Ich bin glücklich. Oder psychotisch.
Der Schnee wirbelt in der Kugel.
Meine Welt ist endlich meine…
…und ich bete…
„…mein Schwanz möge wachsen
groß wie der Eiffelturm
auf, dass ich die ganze Welt
drei Tage lang bums…“*
*frei übersetzt von Kendrick Lamar aus dem Lied backseat freestyle
„I pray my dick get big as the Eiffel Tower
So, I can fuck the world for seventy-two hours”