Eine Weihnachtsgeschichte
Marie schaukelt wieder.Ich sehe das. Nicht mit eigenen Augen, nein, ich brauche den Feldstecher und das Nachtsichtgerät dazu. Ja, ich habe mir diese Ausrüstungsgegenstände besorgt, damals, als ich die Armee verließ. Warum?
Weil ich geahnt habe, dass ich danach nicht viel mehr machen würde, als Nachbarn beim Falschparken aufschreiben. Nachtsichtgerät. Feldstecher. Zeit.
Viel Zeit. Aber: Niemand parkt falsch. Nur Maria, die kleine Maria aus der dritten Straße, die sie umbenannt haben, die kommt jede Nacht auf diesen Spielplatz. Setzt sich in die Schaukel und schaukelt. Rosa-Luxembourg-Straße hieß das früher, heute Felix-Mendelsohn-Straße. Da wohnt Maria, in einem der kleinen Häuser. Einzige Tochter von zwei Eltern, Eltern, die niemand kennt, die niemandem auffallen.
Maria ist sechzehn, siebzehn und sie schaukelt.
Nachts, auf dem Spielplatz. Spät Nachts. Erst nach 00:00 Uhr. Dann sitzt sie auf der Schaukel und schaukelt. Stundenlang, wenn es sein muss.
Oft geht es schnell, aber manchmal verbringe ich lange Zeit mit der Beobachtung. Da sitzt sie da, schaukelt, ihre lange Haare wehen, und je nach Jahreszeit ist sie mehr oder weniger bekleidet.
Als erstes, im letzten Sommer, kam Julian. Mehrmals. Immer wieder. Sie küssten sich. Julian ist wohl so alt wie sie, er wohnt in der Siedlung, im Neubaugebiet, oben, am Hang. Irgendwelche Neubürger, wir wissen nur, dass er Julian heißt.
Ihn hat sie geküsst, immer wieder. Aber irgendwann kam er nicht mehr. Dafür kam der Kevin. Aus dem alten Dorf. Der hat sie nicht nur geküsst, der war auch älter, der hatte ein Auto. Der hat sie angefasst, oben wie unten. Der wollte mehr.
Und Maria hat geschaukelt. Zwischen oben und unten. Immer nachts, gegen 00:00 Uhr
Nachdem der Kevin durch war, trat Markus ins Bild. Der Sohn vom Seunlechner. Der Kerl mit den dicken Brillengläsern, der im ganzen Dorf als senil gilt. Doch, der war nächtelang bei der Maria und sie hat ihn rangelassen, soweit meine Optiken das erfasst haben. Der durfte sie anlangen, fingern, schmusen, herzen. Ich hab’s gesehen, Nacht für Nacht.
Als auch der Markus nicht mehr kam, war sie einsam, die Maria, eine Zeitlang. Hat allein geschaukelt. Aber dann ging der Tirschenreuter Alex spazieren, am Spielplatz vorbei. Hielt dort an. Sprach mit Maria. Der Alex, Leut, müsst ihr wissen, ist verheirat mit der Vroni vom Oberdorfer Sepp. Zwei Kinder hat er mit ihr. Ganz frisch. Aber er blieb stehen und sprach lange mit der Maria. Erst einen Abend, dann wieder und dann wieder. Und wenn mich mein Feldstecher nicht getäuscht hat, war er mit mehr als einem Finger in der Maria. Immer wieder.
Aber auch der Alex konnte nicht immer kommen. Trotzdem schaukelte Maria, immer ab 00:00 Uhr. Das Dorf reagiert, es gab mehr Spaziergänger. Der Anreiner Toni, der Weghammer Sepp. Nur als Beispiel. Alle beide, und sie wurden willkommen geheißen von dem Madl. Einer oben, einer unten. Einer hinten, einer vorn. Gott segne die Nachtausrüstung, die ich hab heimbringen können. Ist wie ein Krimi, was da zu sehen ist.
Dann ging der Untergrünger Xaver auf dem Rückweg von der Kneipe am Spielplatz vorbei, so langsam sprach es sich herum. Junggesellen oder frisch verheiratete Burschen, alte Männer oder die Bauern vom Stamm, sie alle wussten: Die Maria schaukelt. Und ist frisch bereit. Offen. Und so führte sie ihr Weg am Spielplatz vorbei, in der Nacht, zwischen null Uhr und zwei. Zur Marie, die nur allzu bereit war.
Ich hab mir das lange angesehen, immer wieder vom Balkon aus. Jede Nacht. Die Maria und dieser Mann, jener Mann. Wie sie da kniet im Sand vom Spielplatz. Oder ihre Beine spreizt auf der Schaukel. Hat ja nie lange gedauert. Mein Nachtsichtgerät hat so viele Details gezeigt, dass der kleine Teufel nicht drauf kommen kann, wieviel ich über ihn weiß.
Ist schon klar, sie glaubt, die Maria, dass sie niemand gesehen hat, so mitten in der Nacht. Dass alle glauben, sie hätte nur geschaukelt. Dass niemand gesehen hätte, wie sie ihre Lippen so weit aufgemacht hat, dass sich da jemand reinschieben kann, der bereits verheiratet ist. Sie lebt wohl in einer Welt, in der sie rein und weiß ist, unbefleckt, obwohl so viele schon ihre Flecken auf ihrem Hemd hinterlassen haben.
Ich traue meinem Nachtsichtgerät. Es lügt nicht.
Heute Nacht schaukelt Maria wieder. Niemand sonst in Sicht. Und alle diejenigen, die sie die letzten Wochen hatte, bleiben heute Nacht zuhause. Heute, am heiligen Abend.
Ich packe mein Nachtsichtgerät ein. Heute werde ich hinaus gehen, zum Spielplatz. Weil: Maria schaukelt.