01.12.
Vor Aufregung hatte Hannah kaum geschlafen. Dieser verflixte Kerl wusste genau, womit er sie wieder herumkriegen würde. Neugier ist der Katze Tod – und nicht nur der der Katze, das wusste sie genau. Geheimnisse waren für sie immer wieder eine Herausforderung, der sie nicht widerstehen konnte.
Als der Wecker klingelte, schreckte sie hoch. Müde und dennoch hellwach rappelte sie sich hoch und sprintete ins Wohnzimmer. Dusche und Kaffee konnten warten. Hannahs Finger zitterten, als sie den ersten Umschlag von der Leine löste und den Umschlag aufriss. Sie zog einen Zettel heraus. Nanu? Ein Gutschein für einen Handyladen? Irritiert blickte sie auf den Gutschein und stellte fest, dass der Laden zwar gleich in ihrer Straße war, aber erst um 9:00 Uhr öffnete. Da war sie allerdings schon im Büro. Sie konnte also erst gegen Nachmittag nachsehen, was dort auf sie wartete.
Und wieder fluchte sie. „Das werden eher unheilige Weihnachten, wenn er so weitermacht!“ grummelte Hannah und begann mit den üblichen Vorbereitungen für den Tag. Natürlich war es alles andere als einfach, sich auf ihren Job zu konzentrieren. Immer wieder überlegte sie, was wohl in dem Handyshop auf sie warten würde. Gut, sie wusste, dass er sich immer über ihr altes Handy lustig gemacht hatte. Sie hatte kein Smartphone, weil ihr diese viel zu teuer waren. Zumindest die, die etwas taugen. Sie hatten sich oft darüber unterhalten.
„Ich könnte Dir Nachrichten über WhatsApp schreiben. Das ist kostenlos, im Gegensatz zu den SMS, die heute eh niemand mehr nutzt.“ Das war eines seiner Hauptargumente. WhatsApp oder Telegram, die Einfachheit der Kommunikation, die ganzen Möglichkeiten, die sich durch die Nutzung der Apps ergaben – ja, sie war bestens informiert, obwohl sie immer noch mit ihrem Sprechknochen durch die Gegend lief.
Hannah musste grinsen. Ein besonders rührender Zug an ihm, fand sie, war es, mit welchem Eifer er dabei war, sie bei Diskussionen von seinem Standpunkt zu überzeugen. Nicht polemisch oder gar unsachlich, persönlich werdend. Aber von einer Hartnäckigkeit geprägt, die ihresgleichen suchte. Für Hannah war das okay, denn sie diskutierte ja gerne.
Also vermutete sie stark, dass in diesem Handyshop ein Smartphone auf sie warten würde. Aber was für eins? Und warum stürzte er sich so in Unkosten für sie? Was bezweckte er auf einmal damit? Fragen über Fragen, die sie den ganzen Arbeitstag lang begleiteten.
Endlich war es fünf Uhr und sie raffte ihre Habseligkeiten zusammen. So schnell war sie noch nie an ihrem Wagen gewesen. Auch auf dem Weg nach Hause musste sie sich sehr zusammenreißen. Sie fuhr unkonzentriert, viel zu schnell. Fast wäre sie über eine rote Ampel gefahren. Und das alles nur wegen diesem… diesem… Ach, Mist! „Hätte nicht ein Schokoladenkalender ausgereicht? Idiot!“, schimpfte sie vor sich hin, um ihrer Ungeduld Luft zu machen. Aber nein, ein einfacher, gekaufter Adventskalender? Das war wirklich nicht sein Stil. Sein Stil war es eher, sich monatelang nicht zu melden um dann mit so einem mysterischen Scheiß anzukommen…
Endlich war sie angekommen! Sie parkte ihren Wagen vor der Garage und stieg hastig aus. Moment! Da hatte sie doch glatt den Gutschein vergessen. Der lag noch oben in der Wohnung! Das zeugte davon, wie sehr sein plötzliches Lebenszeichen sie aus der Bahn geworfen hatte. Weiter vor sich hin grummelnd hetzte sie die Treppen zu ihrer Wohnung hinauf. Der Aufzug war schließlich mal wieder seit ein paar Tagen kaputt.
Nun aber stand sie vor dem Handy-Geschäft und drückte die Türe auf. Ein leises Summen zeigte dem Ladeninhaber an, dass jemand in den Verkaufsraum getreten war. Hannah eilte zu dem Tresen. Ein älterer Herr stand dort und begrüßte sie lächelnd. „Was darf ich für Sie tun, junge Dame?“
Nein, sie würde jetzt nicht mit ihm darüber diskutieren, wie herablassend „junge Dame“ klang. Ausnahmsweise würde sie einfach mal nur ihr Anliegen vortragen. Ungewöhnlich für sie. Aber gut, diese ganze Kalenderaktion war ungewöhnlich… Also legte sie lieber gleich los.
„Guten Tag! Sie könnten mir vielleicht mitteilen, was es mit diesem Schreiben auf sich hat. Es lag heute Morgen in meiner… hm… Post.“ Ein wenig hektisch, schon fast ungeschickt zerrte sie den Umschlag aus der Tasche und legte ihn dem Verkäufer vor. Dieser entnahm den Gutschein und las ihn kurz durch.
„Ah, daran erinnere ich mich sehr gut. Eine ganz außergewöhnliche Transaktion! Einen Moment bitte…“ Und schon verschwand er aus dem Verkaufsraum in das angrenzende Büro. Hahnah zappelte vor Aufregung. Hatte sie es doch gewusst, dass das nicht einfach nur so ein Gutschein gewesen war! Der Verkäufer erschien wieder, in der Hand ein kleines Paket. Ganz sicher war das ein Smartphone!
„So, da haben wir es. Würden Sie mir bitte noch den Empfang quittieren? Sie bekommen dann auch von mir eine Bestätigung, dass Sie das Objekt erhalten haben. Das ist wichtig für die Garantieregelung. Einen Kassenbon kann ich Ihnen ja nicht ausdrucken, da es ja ein Geschenk ist.“ Ein wenig umständlich überreichte er ihr eine Quittung und einen Kugelschreiber. Hannah unterschrieb sofort und dankte dem älteren Herrn. Er verbeugte sich leicht und gab ihr sodann die von ihm erwähnte Bestätigung. Nach ein paar weiteren Höflichkeitsfloskeln konnte Hannah sich endlich loseisen und lief hoch in ihre Wohnung.
Mit zitternden Fingern öffnete sie das Päckchen. Wie schon angenommen, lag dort ein Smartphone. Edel schaute es aus, so richtig dezent und elegant. Geschmack hatte Kilian schon immer gehabt… Doch halt, da lag noch ein Brief dabei. Auf dem Couvert stand: „Vor dem Einschalten lesen, bitte!“
„Das Handy ist aufgeladen und bereits mit einer Sim-Karte versehen. Ebenso mit einer hinreichend großen Speicherkarte.
Ich schätze, es wird nun ca. 18:00 Uhr sein und Du bist jetzt daheim. Ruf an.
K.“
Ruf an. Wow. Einfach mal so. Was dachte er sich eigentlich? Hätte er nicht wenigstens eine kleine Entschuldigung dazu schreiben können? So etwas wie: „Ich weiß, ich hätte mich eher mal melden sollen. Mir fehlte nur die Zeit dazu. Ich denke so oft an Dich.“? Also manchmal… Aber gut, sie würde ihm das einfach persönlich sagen. Jetzt gleich, am Telefon.
„Ja, bitte?“
„Was denkst du dir eigentlich? Meinst du, du kannst mir diesen blöden Kalender schicken und mit Geschenken vollspicken und schon ist alles wieder okay? Wäre nicht mal wenigstens ein Wort darüber, warum du dich wie ein Arschloch verhältst und dich seit Monaten nicht mehr gemeldet hast, ange….“
„Hannah.“
Dieses eine Wort reichte, um sie verstummen zu lassen. Wo war sie nur hin, ihre Empörung? Allein davon absorbiert, dass er ihren Namen aussprach? Alter Falter. Sie gab ein klägliches „Ja?“ von sich.
„Hannah.“
Ähm. Kam da auch noch mal etwas anderes?
„Jaha?“
„Hast du dich jetzt ein bisschen beruhigt? Können wir nun reden?“
Fast wäre sie wieder hochgegangen. Doch sie wusste ja, dass das nichts bringen würde. Also atmete sie tief durch und nickte. Ach Mist, das konnte er ja gar nicht sehen!
„Ja, habe ich.“
„Es war… schwierig in der letzten Zeit. Ich konnte nicht anrufen. Ich möchte, dass Du das Handy immer bei Dir trägst, Tag und Nacht. Mache einfach jeden Tag einen weitern Umschlag auf und tu das, was dort steht. Ich denke an Dich.“
Klick. Er hatte einfach aufgelegt. Sofort rief Hannah noch einmal diese Nummer an, aber da lief nun nur ein Anrufbeantworter.
„Diese Rufnummer ist nur für Dich, also weiß ich, dass Du anrufst. Mach das bitte nicht noch einmal, sondern rufe nur an, wenn ich Dich darum bitte. Wenn Du Langeweile hast, schau auf die Speicherkarte. Bis bald.“
Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Das durfte alles nicht wahr sein. Kurz war sie versucht, das Handy an die Wand zu werfen – aber dann ließ sie es doch sein. Brachte ja nichts. Sollte sie sich jetzt die Speicherkarte ansehen? Trotzig schüttelte sie den Kopf. So neugierig sie auch war, so einfach wollte sie sich nicht manipulieren lassen. Also bereitete sie ihr Abendessen zu
(und starrte ständig das Smartphone an),
aß mehr oder wenig genüsslich ihr Menü
(und legte das Handy bewusst mit dem Display auf den Tisch),
machte sich bettfertig
(nein, sie erprobte nicht, ob dieses Teufelsding wasserdicht war),
las noch eine Weile in einem Buch
(was sie da las, hatte sie gleich wieder vergessen)
Und hielt es dann einfach nicht mehr aus.
„Ich gehe jetzt schlafen, Kilian! Gute Nacht!“, sagte sie laut in ihre stille Wohnung hinein. Kindisch eigentlich. Er konnte es ja doch nicht hören. Aber vielleicht hatte er ja eine dieser Messenger installiert? Dann konnte sie ihm das mitteilen! Das konnte sie allerdings auch vom Bett aus machen. Schwungvoll begab sie sich in ihr Schlafzimmer, kroch unter die Bettdecke und untersuchte das Handy.
(Die Speicherkarte ignorierte sie.)
Wie sie es sich gedacht hatte, war da diese App, Telegram. Und natürlich war seine Nummer schon eingerichtet. Sie konnte also gleich lostippen.
„Ich gehe jetzt schlafen. Und ich hatte noch keine Langeweile. Gute Nacht!“
Noch bevor sie das Licht löschen konnte, kam eine Nachricht.
„Das ist sehr schade. Ich hatte gehofft, dass du dich über den Inhalt freust. Schlaf gut.“
Nun endlich siegte ihre Neugier. Und sie fand eine Menge Musik, die sie beide gerne hörten. Musik und… Bilder. Gemalte, gezeichnete Bilder von ihm. Das Motiv: Immer nur sie, Hannah. Er hatte sie in allen möglichen Posen gemalt. Wie sie ihm gegenüber saß, mit ihm diskutierte. Wie sie lachte. Ein verträumter Blick. Im Bett, schlafend; das Betttuch war verrutscht und zeigte einiges von ihrem Körper. Sie, in der Küche beim Abwasch. Sie, während sie sich….
Hannah wurde rot und schloss die App. Das dürfte eine weitere, unruhige Nacht werden…