Späte Vergeltung
Marius verharrte erschöpft.Er lächelte verklärt, betrachtete zufrieden sein Werk und verließ dann völlig ruhig die Stätte seines Wirkens.
Wie in einem Film liefen vor seinem geistigen Auge die Erlebnisse ab, die ihn zu seinem Handeln getrieben hatten:
Seine beiden Freunde, mit denen er auf derselben Klosterschule gewesen war, hatten ihm von den an ihnen begangenen Misshandlungen erst erzählt, nachdem sie erfuhren, dass er bei seiner psychotherapeutischen Behandlung Fortschritte macht.
Sie wussten, dass er in Hypnose die tief in seiner Psyche vergrabenen erlittenen Peinigungen hervorgeholt und damit begonnen hatte, diese zu verarbeiten.
Jonas war gerade 10, als der Priester ihn zu sich kommen ließ. Es war widerwärtig, der junge Geistliche legte seinen Arm um ihn und zog ihn zu sich heran.
Ich bin Jesus, ihr seid meine Jünger.
Er forderte ihn zu unbeschreiblichen Dingen auf, ließ ihn vor sich hinknien.
Seine Eltern glaubten ihm nicht und er musste dieses Mal und noch unzählige weitere, ähnlich gelagerte Misshandlungen über sich ergehen lassen.
Er war froh, als er die Schule wechseln konnte.
Bei Daniel war es kurz vor dem Wechsel in die Oberstufe, nach dem Religionsunterricht. Der Priester rief ihn zu sich, wegen einer Notenbesprechung.
Er war so schleimig und tat freundschaftlich. Mit sanftem Nachdruck zwang er den Jungen, ihn mit der Hand zu befriedigen.
Es war ekelhaft und Daniel reagierte wütend. Er drohte ihm anschließend, es der Schulleitung mitzuteilen, danach ließ er ihn in Ruhe.
Und sie waren sich sicher, dass es hat weitere Fälle gegeben hatte, meist mit den jüngeren Klosterschülern.
Sie hatten es immer gespürt, es gab genügend Anzeichen!
Bevor der junge Geistliche an ihre Schule kam, war er bereits mehrfach versetzt worden.
Ihre Schulleitung, das Lehrerkollegium, das Bistum, alle hatten die Augen verschlossen.
Ihren Eltern konnten sie es ebenfalls nicht erzählen.
Sie hatten sich immer gewundert, was damals mit Marius geschehen war.
Er war kurz vor den Ferien leichenblass aus dem Beichtstuhl gestolpert und zusammengebrochen. Unter Zwang war er der Beichtpflicht nachgekommen. Er hatte vergeblich versucht, sich davor zu drücken. Hinterher war er tagelang nicht ansprechbar, seine schulischen Leistungen hatten rapide nachgelassen.
Marius hatte ganz besonders unter ihm gelitten
Nach Jahren hatte er begonnen, mit einem Therapeuten über seine Unfähigkeit zu reden, Beziehungen einzugehen, über seine sexuellen Probleme.
Er begann, den Missbrauch durch den Priester aufzuarbeiten, konnte endlich über sein Leid reden, über die ständigen Annäherungen, sogar im Beichtstuhl.
Und nun, in diesem Stadium der Therapie war er seinem Peiniger begegnet, mitten im Einkaufszentrum.
Der Priester erkannte ihn nicht und Marius folgte ihm unauffällig, zunächst in die Straßenbahn. Er ging ihm weiter hinterher bis zu dem Haus, in dem sich offensichtlich seine Wohnung befand, einem Mehrfamilienhaus in einem Vorort im Grüngürtel der Stadt.
Er nahm wie durch einen Schleier wahr, dass der Priester die Haustür öffnete und hineinging.
Marius schaute auf die Klingelschilder und fand den Namen der verhassten Person.
Wie in Trance begab er sich daraufhin zu einem Blumenladen.
Die Floristin wunderte sich über die gewünschte Zusammensetzung des bestellten Gesteckes: Christusdorn hatte er verlangt, zu einem Kranz gewunden.
Völlig umnebelt von dem aufgewühlten Schmerz begab er sich nun erneut zum Wohnhaus des Priesters.
In seiner Hand spürte er die drei Nägel aus den Händen der Jesus-Statue aus der Klosterkapelle. Diese hatte er vor vielen Jahren, wie von einem Zwang getrieben, aus dem Holz der Figur an der Wand der Kapelle gezogen.
Diese Nägel trug er seither immer bei sich.
Bis zum Ende seiner Schulzeit in der Klosterschule, bis zu Ende seines Martyriums, hatte er sich häufig ihre Spitzen in seine Handflächen gestochen, in der Hoffnung, dass dieser körperliche Schmerz seine seelischen Qualen lindern kann.
Er erklomm schnaufend die Treppe. Im zweiten Stock entdeckte er das Namensschild an der Klingel. Der Priester öffnete, erkannte Marius jedoch nicht sofort.
Als dieser sich zu erkennen gab und leichenblass und mit blutunterlaufenen Augen Einlass verschaffen wollte, versuchte der Priester angsterfüllt die Tür zuzuschlagen.
Marius hielt jedoch seinen Fuß dazwischen und stieß ihn unter Mobilisierung seiner gesamten Körperkraft zurück.
Die unförmige Gestalt flog unter der Wucht der Tür und des Angreifers nach hinten. Er schlug mit dem Hinterkopf auf die scharfe Kante einer Kommode und fiel bewusstlos, mit einer stark blutenden Kopfwunde zu Boden.
Marius zog den schlaffen Körper ins Wohnzimmer, hinterließ dabei eine blutige Schleifspur. Er breitete die Arme des Priesters seitlich aus.
Hastig suchte er nach einem Werkzeug.
In einem Wandschrank fand er einen Hammer. Mit zielsicheren festen Schlägen trieb er damit die Nägel durch die Handinnenflächen.
Die Nägel drangen durch das Fleisch in das darunter befindliche Holzparkett, es blutete kaum.
Er lagerte die Beine übereinander und trieb den dritten, den längsten Nagel durch beide Füße ins Parkett.
Die Schmerzen schienen in das Bewusstsein des Geistlichen zu dringen, er stöhnte und versuchte, sich zu bewegen.
Den Dornenkranz drückte Marius ihm unsanft auf den Kopf, bevor er mit zufriedener Miene die Wohnung verließ.
Starr vor Angst, halb ohnmächtig aufgrund der unsäglichen Schmerzen und völlig unfähig sich zu bewegen verharrte der Priester in dieser Stellung.
Es dauerte fast eine Stunde, bis ein Mitbewohner, dem die weit offen stehende Wohnungstür auffiel, ihn in diesem Zustand fand.
Die herbei gerufenen Polizeibeamten waren entsetzt.
Sie mussten das Erscheinen der Spurensicherung abwarten, damit das Kreuzigungsszenario fotografisch dokumentiert werden konnte. Erst danach durfte der Notarzt den Gekreuzigten befreien und ihn ärztlich versorgen.