Schräg
Im letzten Winter begab es sich, dass ich frühmorgens – wie immer in Eile – zwar noch Haare wusch, aber keine Zeit mehr hatte zum Trocknen, ohne zu spät zur Arbeit zu kommen. Ich war schon mehrmals bei Minustemperaturen mit nassem Haar aus dem Haus gegangen und hatte mir jedes Mal eine dicke Erkältung eingefangen. So erschien es mir vernünftig, die Locken in einen Handtuchturban einzuwickeln und in die Firma zu fahren. Als ich im Büro ankam, fing eine Kollegin an zu lachen und wollte gar nicht mehr aufhören. Als sie meinen verständnislosen Blick sah, lachte sie noch mehr. Als ich fragte: „Darf ich mitlachen?“, japste sie: „Du bist total schräg!“
„Warum bin ich schräg?“
„Du kommst mit einem Handtuch auf dem Kopf ins Büro und fragst, weshalb du schräg bist?“
„Das ist absolut vernünftig und beweist nur mein Engagement für die Firma, dass ich weder zu spät kommen noch mich erkälten wollte.“
Nun fingen auch andere Mitarbeiterinnen an zu lachen und pflichteten der Kollegin in ihrer Einschätzung bei. Wie bei einem Dammbruch wurden plötzlich alle meine Eigenschaften aufgezählt, die die anderen für schräg hielten. Und so wurde ich erstmals damit konfrontiert, was meine Kolleginnen tatsächlich von mir hielten. Der geneigten Leser möge sich selbst ein Urteil bilden.
Ist es schräg, dass ich einen 16 Jahre jüngeren Partner hatte? Ist es schräg, dass ich nach unserer Trennung bei seiner Hochzeit Trauzeugin war? Ist es schräg, dass ich im Haus seiner Frau wohne und sie als meine Assistentin eingestellt habe? Ist es schräg, wenn ich beiden kommuniziere, dass ich froh bin, dass sie sich gefunden haben? Für mich ist das völlig vernünftig, denn schließlich hat sie jetzt den Ärger mit ihm, und ich profitiere nur noch von seinen Kochkünsten und seinem handwerklichen Geschick. Ansonsten bin ich frei zu tun, was immer ich möchte, ohne jemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Es ging mir nie besser.
Ist es schräg, wenn ich einem Berater in der Firma – einem pathologischen Narzissten, der versucht, mir an den Karren zu fahren – Schläge anbiete, wenn er sich noch einmal vor der Belegschaft abfällig über mich äußert? Ist es schräg, wenn ich dem Geschäftsführer sage, dass ich jedwede Zusammenarbeit mit diesem unsäglichen Menschen ablehne?
Ist es schräg, wenn ich meinem Chef sage, dass er nicht funktioniert und einige kaufmännische Defizite hat, wenn es doch die Wahrheit ist? Mein Chef weiß bereits seit dem Einstellungsgespräch, dass ich aus meinem Herzen keine Mördergrube mache und immer ehrlich bin, auch wenn es gerade nicht opportun ist.
Zusammengefasst bin ich einfach ich und lasse mich durch äußere Einflüsse nicht verbiegen. Und wenn das die angepassten und homogenisierten Mitmenschen als schräg betrachten, dann ist das eben so. Die einzige Lehre, die ich aus dem Ganzen gezogen habe, ist, dass ich künftig vermeiden werde, im Büro über private Dinge zu reden. Ganz offensichtlich kann die Mehrheit meine Sichtweise nicht ansatzweise nachvollziehen, weil ihr Denken zu einseitig und festgefahren ist. Spießer halt …
sirona5
20.01.2020