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Trilobiten

**********hylen Mann
1.142 Beiträge
Themenersteller 
Trilobiten
Muschelsammler (vorgezogener Epilog)

Verweilen im Keinland.

Treiben inmitten des windabgewandten Lächelns der Salzwiesen. Der Orkan aus Nordwest verschließt den Mund und lässt die Stimme verstummen. Kein Platz für den Klang des Rauschens von Künstlichkeit. Weite umschließt mich wie ein Mantel aus Regen und Wind. Inmitten des Treibsels von zerzausten Strandhafer und angespülten Ölplacken verschwendet sich die Natur auf einem kleinen Streifen von Wirklichkeit. Hervorgeschenkt aus den Geheimnissen des stöhnenden Meeres verlieren sich Muscheln, Reste von Krebsen und die sorglosen Überbleibsel menschlichen Strebens. Komparsen in einem symphonischen Konzept ständiger Wiederholungen.

Mein Fuß stößt im Treibgut auf harten Widerstand. Im ersten Moment vermute ich einen Stein aus dem irdenen Leib ferner Gestade, bis mir die auffällige Maserung ins Auge fällt.
Ein versteinerter Trilobit, dunkelglänzend und an den Kanten bereits von den gierigen Zungen des Meeres glattgeschliffen. Kronzeuge einer Form von Ewigkeit, die sich jeglichem menschlichen Verstand verschließt. Zäsuren, so scheint es, stoßen immer auf die Spuren längst vergangener Wahrheiten.

Mein prüfender Blick wandert über den menschenleeren Strand. Es sollte und schien der rechte Ort zu sein. Ich öffne das elfenbeinfarbene Gefäß und richte es horizontal in die graue Weite aus. Der Wind spielt mit der Asche des Weggefährten, bevor diese vom Meer verschlungen wird. So weitläufig, wie Zadeq nun mal war, verliert sich seine Asche im Sog der See. Fast schon ein Widerspruch in sich, dass die Asche folgsam dem Ruf des Windes folgt. So als wenn eine zu Lebzeiten im ständigen Widerspruch befindliche Seele der Spur der Trilobiten folgt und einer Metamorphose von Linearität entgegenstrebt. Zurück ins Meer. Zu den Ursprüngen.

Das suchende Auge scheint im Schweigen der Zeit kaum Halt zu finden. Wer mag ich schon sein. Fehlende Sinnstiftung von Begriffen und Deutungen. Sinn zerrinnt im fortdauernden Raunen der See wie Kreuzgleichungen im Kanon von Gleichgültigkeit. Was ist Zeit angesichts eines scheinbar grenzenlosen Horizonts, in welchem sich kein Keim von Hoffnung verfangen will.

Ich schüttele noch ein, zwei Mal an der Urne, um das, was von Zadeq noch übrig war, der See- und mit ein bisschen Chance- den Sternen zu überantworten. Für Zadeq war es unvorstellbar, den letzten Weg über die tradierten Bestattungsrituale zu gehen.
„Was soll ich in einer Kiste dahinmodern, so fern von den Sternen und der Unendlichkeit. Leben und Vergehen dokumentieren sich in den Werken und im Handeln und nicht auf eingeritzten Steintafeln“.
Passte irgendwie zu den unsäglichen Verhandlungen mit der örtlichen Friedhofsverwaltung, die sich mit fadenscheinigen Begründungen weigerte, ein Fleckchen Erde für das zur Verfügung zu stellen, was vom Mitbewohner blieb. Uns war klar, dass vor allem die blasphemischen Verse Zadeqs die wohl nahe liegende Möglichkeit verwehrte und im weiteren, dass es die See war, wo er sich am ehesten den Übergang in den Kreislauf der Unendlichkeit vorstellen wollte.

Bedeutungen verschließen sich wie die Gischt des tosenden Meers. Worte so bedeutungslos wie Wellen. Teilbare Brandung des Seins verliert sich in der Konturlosigkeit dieser Grenze, in der sich die widerspenstige See mit dem Firmament vermischt.

Antek blickt nur kurz mit verstörter Miene auf, als ich in den Wagen steige.
„Hast Du dir die Stelle gemerkt? Ich meine nur…“.
Seine Stimme ebbt ab. Ich nicke nur kurz und halte mein Smartphone hoch.
„Alles hier ´drin“.
Den Rest der Heimfahrt schweigt Antek. Der Trilobit drückt beim Gas geben in der Jackentasche.

Es regiert sich leichter hinter verschlossenen Türen als denn vor den Toren des Himmels. Wie am Anfang…

„Wir kommen aus dem Nichts und verschwinden in der Unendlichkeit.“ (Blaise Pascal)
(...)

©Einar_von Phylen 20.01.20
Nun, da der Text in der Schreibwerkstatt steht, wird hoffentlich nicht nur allgefälliges Händegeklapper erwartet, sondern auch konstruktive Kritik *zwinker*

Zunächst: Der Text hat eine starke Stimmung in mir ausgelöst, hat mich erreicht, mich mitgenommen. Eine schöne, besinnliche Momentaufnahme. *top*

Aber: Der Text hat es „trotzdem geschafft“, trotz z.B.

Zitat von **********hylen:
Verweilen im Keinland.

Treiben inmitten des windabgewandten Lächelns der Salzwiesen. Der Orkan aus Nordwest verschließt den Mund und lässt die Stimme verstummen. Kein Platz für den Klang des Rauschens von Künstlichkeit. Weite umschließt mich wie ein Mantel aus Regen und Wind. Inmitten des Treibsels von zerzausten Strandhafer und angespülten Ölplacken verschwendet sich die Natur auf einem kleinen Streifen von Wirklichkeit. Hervorgeschenkt aus den Geheimnissen des stöhnenden Meeres verlieren sich Muscheln, Reste von Krebsen und die sorglosen Überbleibsel menschlichen Strebens. Komparsen in einem symphonischen Konzept ständiger Wiederholungen.

Für mich war das unheimlich schwer zu lesen. Z.B. wer „treibt (was) inmitten des windabgewandten Lächelns der Salzwiesen“? Was ist das „Lächeln der Salzwiesen“ überhaupt? Der ganze erste Absatz: künstliche Konstruktion. Holprig, bemüht.

Zungenbrecher, auch beim Lesen, und der Sinn wird erst nach dreimaliger Wiederholung annähernd klar. Künstlich konstruierte Sprache, die den Einstieg keinesfalls erleichtert. Das ist eine Hürde, da muss man drüber, um irgendwann in gefälligeres Fahr- (und Erzähl-)wasser zu kommen.

Dann mein ewiges Thema: Übereinsatz von Adjektiven. Muss es wirklich ein „harter“ Widerstand sein, „gierige“ Zungen, ein „prüfender“ Blick? Ich finde, ohne diese drei – meiner Meinung nach überflüssigen – Adjektive wirkt jeder der Sätze deutlich stärker.

Zitat von **********hylen:
Fast schon ein Widerspruch in sich, dass die Asche folgsam dem Ruf des Windes folgt. So als wenn eine zu Lebzeiten im ständigen Widerspruch befindliche Seele der Spur der Trilobiten folgt und einer Metamorphose von Linearität entgegenstrebt. Zurück ins Meer. Zu den Ursprüngen.

Man beachte die Aufeinanderfolge von folgsam, folgt, folgt… *zwinker*

Tja, und dann – obwohl ich die ganze Stimmung mitgehen konnte – die Frage: Worum geht es genau? Die Überschrift stellt den Triboliten in den Fokus der Erwartungen. Dann scheint mir etwas mit „Muschelsammlern“ angekündigt zu werden, was aber nachhaltig enttäuscht wird. Der Einleitungssatz (ich denke, es soll keine Unter-Überschrift sein?) „Verweilen im Keinland.“ macht noch einmal ein Fragezeichen auf, mir scheint es dann am Ende aber um die Bestattung von Zadeqs Asche zu gehen, obwohl am Schluss der Trilobit wieder auftaucht.

Für den kurzen Text ist das alles ein wenig viel „schwere Bedeutsamkeit“. Und warum ist es wichtig, sich die Stelle zu merken? Am Meer, im Wind, Asche?

Nun, das sind meine ersten, spontanen Gedanken dazu. Der Text ist gut, daher habe ich jetzt zwanzig Minuten in meine Hinweise investiert – ich hoffe, sie helfen *g*
******s23 Frau
12.725 Beiträge
Muschelsammler, sie verweilen im Keinland. Treiben inmitten des windabgewandten Lächelns der Salzwiesen dahin. Der Orkan aus Nordwest verschließt die Münder. Kein Laut mehr. Nur noch der Klang des Rauschens der Naturgewalten.

Weite umschließt mich wie ein Mantel aus Regen und Wind. Inmitten des Treibsels von zerzausten Strandhafer und angespülten Ölplacken verschwendet sich die Natur auf einem kleinen Streifen von Wirklichkeit.

Gestrandet, den Geheimnissen des Meeres entrissen, verlieren sich Muscheln, Reste von Krebsen und die sorglosen Überbleibsel menschlichen Strebens im Sand. Wie Komparsen in einem symphonischen Konzept ständiger Wiederholungen.


——-

Lieber @**********hylen

Mal ein Versuch den Ersten wirklich schwer lesbaren Absatz etwas zu entwirren. Ob es so gemeint ist von dir weiß ich natürlich nicht.
Es ist nur ein Beispiel um das Lesen etwas zu erleichtern.

Mir gefällt die Geschichte und auch die Stimmung die erzeugt wird.

Was die Adjektive angeht *lach* bin ich ja selber ein Freund davon *zwinker* aber die von @*********Stein aufgezeigten könnte man durchaus wegfallen lassen.
*****und Mann
651 Beiträge
Ein epischer Text wie ein lyrisches Kleinod. Metaphern, die sich mit Abstraktionen verbinden - das stellt eine reizvoll Kunstform dar, allerdings sind sie schwer beim Schreiben wie beim Lesen durchzuhalten und fordern den Leser voraus. Ich lese viel Sprachkunst heraus und einen wirklich literarischen Anspruch, eine Souveränität mit Bildern und Landschaft umzugehen, aber noch keinen überzeugenden Rhythmus der Verdichtung. Dem Text könnte es gut tun, ihn zu entzerren, ihm ein "entspannteres" Atmen zu geben, um es dem Leser leichter machen. Den Ansatz des Textes und die Sprachmächtigkeit finde ich sehr überzeugend und gelungen - und auch die Adjektive haben hier durchaus eine sprachlich sinnvolle Funktion.
**********hylen Mann
1.142 Beiträge
Themenersteller 
Wenn man mit den falschen Schuhen den Fußballplatz betritt,
…rutscht man im Zweifel bereits beim Warmlaufen aus… *smile*
Vorweg allen verbindlichsten Dank für die kritischen und aufschlussreichen Kommentierungen. Zu meiner Rechtfertigung: Derzeit scheint die Muse, welche mich zuweilen küsst, doch ziemlich starken Mundgeruch aufzuweisen…
Könnte man so stehen lassen- indes wurden hier Fragen aufgeworfen...

@*********Stein
wer „treibt (was) inmitten des windabgewandten Lächelns der Salzwiesen“?
Die Frage ist doch eher: Wer… (?!)
Was ist das „Lächeln der Salzwiesen“ überhaupt?

Zugegeben vielleicht ein bisschen zuviel der Metaphorik. Mithin in diesen postmodernen Zeiten wohl nicht mehr zeitgemäß. Sicherlich eine Achillesferse eines inneren Monologes und –im Hinblick auf die „Lesbarkeit“ - meinerseits ausbaufähig…
Inhaltlich: Die Charakteristik einer Salzwiesenlandschaft ist u.a. davon geprägt, weder richtig zur Landmasse noch zum Meer zu gehören. Periodisch flutet das Meer dieses Vordeichgelände, so als wenn es dem Kontinent das abspenstig machen will, was vorher scheinbar achtlos an die Küste gespült wurde.
Keinland. Abstinenz der Möglichkeit, dauerhaft zu siedeln, mithin Heimat zu finden. Entsprechung zur Entwurzelung, welche die Heimatlosigkeit in der Erfahrung eines Abschiedes auslösen kann…
Der ganze erste Absatz: künstliche Konstruktion.

Überhaupt kein Widerspruch von meiner Seite, denn: Sprache ist Konstruktion! Letztlich mag es eine Geschmacksfrage sein, wie man/frau sich bei der Auswahl von Wort-Sinn-Kombinationen entscheidet: Einem strukturalistischen Ansatz folgend spräche nichts dagegen, Wort-Sinn-Kombinationen lediglich im Dokumentarischen zu verorten. Wo es doch gerade so angesagt ist, die Unterscheidung von Gegenständlichkeit und Erkenntnis als Realität zu subsummieren.
Was allerdings die Gefahr beherbergen dürfte, dass der epische Fluss von inneren Tatsachen, Wahrnehmungen bis hin zu Illusionen bei fiktionalen Erzählungen sich dann lediglich in Aufzählungen erschöpft. Ungefähr so spannend wie die tägliche Wetterkarte.
Leben Erzählungen nicht auch gerade in einer Simulation einer Zwischenwelt, welche sich loslöst von (scheinbar) objektiven Trennlinien des Realen und Irrealen?
Holprig, bemüht.
Holla- im ersten Moment sitzt sowas, indes:
Wie ist denn so die Seelenlage, wenn man (entgegen den gesetzlichen Festlegungen zur ordnungsgemäßen Totenruhe) die Asche einer nahestehenden Person dem Meer überantwortet? Sicherlich eine Frage des persönlichen Gustos: Mag der Eine noch so stilgewandt die richtigen Worte finden und das Ritual mit derselben Gelassenheit getragen sein wie beim morgendlichen Müll herunter tragen (inkl. ordnungsgemäßer Wertstofftrennung), so vermag sich so manch anderer eher im Treiben in einer fast unwirklichen Natur eher verlieren. Im Hexenhaus der Zweifel und der Geworfenheit wirkt man vielleicht fahrig oder halt eben: …Holprig, bemüht…
Zugegeben eine (für das erste Lesevergnügen entbehrliche) Stilblüte- je nachdem man/frau sich entscheidet: Das Dokumentarische oder das Fiktionale…
Künstlich konstruierte Sprache, die den Einstieg keinesfalls erleichtert.
Sieh an- erwischt! Der Terminus „Künstlich konstruierte Sprache“ ist wirklich ein Pleonasmus der Extraklasse *hutab*. Kommt sozusagen als Tripleburger der Sinnverstärkung zunächst recht schlüssig ´rüber. Da verbleibt mir „Adjektivfetischisten“ nur noch, respektvoll den Hut zu ziehen. Aber es legt den Finger auf die Wunde: Wie schnell erwischt man sich doch, im Zeitalter verkürzter Sinngebungen (so wunderschön apostrophiert im Lehrsatz: „Fasse dich kurz!“) und den überbordenden Regalen von Akronymen Aussagen so zu konzentrieren, wie man bzw. frau es gerne beim Direktsaft aus 100% Fruchtsaft präferiert…
Zu meinem (und bedauerlicherweise auch Eurem) Leidwesen kann ich wohl ein Lied davon singen. Zeugt doch der Text bei strukturalistischer Lesart davon, mal wieder allzu leichtfertig in eben diese Falle getappt zu sein.
Übereinsatz von Adjektiven. Muss es wirklich ein „harter“ Widerstand sein, „gierige“ Zungen, ein „prüfender“ Blick?

Unbenommen, indes: Wie überwindet man in einer multimedialen Wirklichkeit von mehrdimensionaler Sinnvermittlung die Zweidimensionalität des geschriebenen Wortes?
Man beachte die Aufeinanderfolge von folgsam, folgt, folgt…
Wirklich gut gesehen. Geändert- Danke für den Fingerzeig!
Worum geht es genau? Die Überschrift stellt den Triboliten in den Fokus der Erwartungen.
Nun… lebt eine Erzählung nicht auch durch eine Entwicklung (sprich: Handlungsstrang)? Offene Handlungskomplexe durchleben sich doch zuweilen auch so, dass man/frau zunächst nichtsahnend einen Raum betritt bzw. in eine Szenerie regelrecht hineinstolpert. Soweit ich mich da (ggf. anmaßend) auf die sog. künstlerische Freiheit berufen darf, gebe ich zu bedenken, dass z.B. ein Tatortkrimi, in welchem man nach zwei Minuten bereits den Mörder überführt hat, nicht so recht einen Spannungsbogen aufbaut. Oder?
Das Undankbare an einer Einleitung ist sicherlich, dass man nicht so recht weiß, was so in den nächsten (in dieser Erzählung: vier) Kapiteln so alles passiert und-erklären könnte…
Trilobiten: Versteinerte Manifestation zunächst des ewigen Kreislaufs von Leben und Vergehen. Oder ein Wortspiel? Tri(l)obitu – oder (für die Lateiner) wohl besser : tres/tria obitibus?
Dann scheint mir etwas mit „Muschelsammlern“ angekündigt zu werden, was aber nachhaltig enttäuscht wird.
…Es lag mir beim Posten dieses eher mittelmäßigen Plots fern, bei dem/der mehr oder weniger geneigten Leser/in derart nachhaltige Enttäuschung auszulösen wie beim aktuellen Winterfahrplan der DB. Indes… ließe sich die Präsenz eines Muschelsammlers erahnen (wenn der Text nicht so klauselhaft bzw.…holprig daherkommen würde; Sorry!)
-> „…Ich öffne das elfenbeinfarbene Gefäß…(…)“
Muschelschalen scheinen ein wohl notwendiges Paradoxon der Natur zu sein: Eine scheinbar unsterbliche Schale aus Calciumverbindungen ausgefüllt mit einem Vakuum an den Stellen, wo einmal Leben war. Gleichsam den Hüllen menschlicher Existenz…
Für den kurzen Text ist das alles ein wenig viel „schwere Bedeutsamkeit“.
Zugegeben- ein künstlich konstruiertes Sprachgebilde eben. Welches durchaus verdeutlicht, wie leichtfertig man doch zuweilen den Umstand übersieht, dass Interaktion zuvörderst nicht von der Sender-, sondern von der Empfängerperspektive lebt.
Dir @*********Stein, vielen Dank für die wirklich essentiellen und aufschlussreichen zwanzig Minuten deiner Zeit.

@******s23
Muschelsammler, sie verweilen im Keinland. Treiben inmitten des windabgewandten Lächelns der Salzwiesen dahin. Der Orkan aus Nordwest verschließt die Münder. Kein Laut mehr. Nur noch der Klang des Rauschens der Naturgewalten.

Weite umschließt mich wie ein Mantel aus Regen und Wind. Inmitten des Treibsels von zerzausten Strandhafer und angespülten Ölplacken verschwendet sich die Natur auf einem kleinen Streifen von Wirklichkeit.

Gestrandet, den Geheimnissen des Meeres entrissen, verlieren sich Muscheln, Reste von Krebsen und die sorglosen Überbleibsel menschlichen Strebens im Sand. Wie Komparsen in einem symphonischen Konzept ständiger Wiederholungen.
Meine liebe- deine Adaption ist so viel lesbarer als der Ursprungsplot… danke für die Anregung!

@*******y62
(…) aber noch keinen überzeugenden Rhythmus der Verdichtung. Dem Text könnte es gut tun, ihn zu entzerren, ihm ein "entspannteres" Atmen zu geben, um es dem Leser leichter (zu) machen.

That´s it! Dir vielen Dank für das kunstvolle Legen der Fährte.

„Es gehört mehr Genie dazu, ein mittelmäßiges Kunstwerk zu würdigen, als ein vortreffliches.(…)
In einem trefflichen Kunstwerk ist das Schöne so rein enthalten, daß es jedem gesunden Auffassungsvermögen, als solchem, in die Sinne springt; im Mittelmäßigen hingegen ist es mit soviel Zufälligem oder wohl gar Widersprechendem vermischt, daß ein weit schärferes Urtheil,eine zartere Empfindung und eine geübtere und lebhaftere Imagination, kurz mehr Genie dazu gehört, um es davon zu säubern.“
(H.v.Kleist, Satz aus der höheren Kritik; zitiert in: Monatsschrift für höhere Schulen, 36, 1937, S. 176-179.)

Tiefere Erkenntnis, so scheint es, erfordert zuweilen den Mut, sich über den Anspruch von Perfektion hinwegzusetzen. Und dann auch mal mit Badelatschen auf einen Fußballplatz zu stolpern... *zwinker*
Zunächst: Ein Kompliment für die ebenso umfang- wie sinnreiche, aber auch unterhaltsame Stellungnahme *hutab*

Schon allein dafür lohnt es sich gewiss, weitere Texte von Dir zu kommentieren *zwinker*

Zitat von **********hylen:
Derzeit scheint die Muse, welche mich zuweilen küsst, doch ziemlich starken Mundgeruch aufzuweisen…

Bäh, was für ein Bild *gg* ... vielleicht räkelte sie sich ja einfach wartend im Hintergrund, nachdem sie Dich inspiriert hatte und dies führte zu einem verkürzten Aufmerksamkeitshorizont das Werk betreffend? Eine viel schönere Vorstellung, wie ich finde...

Zum Inhalt - Original:

Zitat von **********hylen:
Mein Fuß stößt im Treibgut auf harten Widerstand. Im ersten Moment vermute ich einen Stein aus dem irdenen Leib ferner Gestade, bis mir die auffällige Maserung ins Auge fällt.
Ein versteinerter Trilobit, dunkelglänzend und an den Kanten bereits von den gierigen Zungen des Meeres glattgeschliffen. Kronzeuge einer Form von Ewigkeit, die sich jeglichem menschlichen Verstand verschließt. Zäsuren, so scheint es, stoßen immer auf die Spuren längst vergangener Wahrheiten.

Mein prüfender Blick wandert über den menschenleeren Strand. Es sollte und schien der rechte Ort zu sein.

Fälschung:

Zitat von **********hylen:
Mein Fuß stößt im Treibgut auf Widerstand. Im ersten Moment vermute ich einen Stein aus dem irdenen Leib ferner Gestade, bis mir die Maserung ins Auge fällt.
Ein versteinerter Trilobit, dunkelglänzend und an den Kanten bereits von den Zungen des Meeres glattgeschliffen. Kronzeuge einer Form von Ewigkeit, die sich jeglichem menschlichen Verstand verschließt. Zäsuren, so scheint es, stoßen immer auf die Spuren längst vergangener Wahrheiten.

Mein Blick wandert über den menschenleeren Strand. Es sollte und schien der rechte Ort zu sein.

Nur um mal zu zeigen, was ich mit den Adjektiven meine - in der Version "Fälschung" ist nichts schwächer geworden, finde ich. Eher stärker, markanter. Im Grunde gibt es da auch kein richtig oder falsch, nur diese oder jene Wirkung (bei den "gierigen Zungen" bin ich mir inzwischen zum Beispiel gar nicht mehr sicher).

Zitat von **********hylen:
Keinland. Abstinenz der Möglichkeit, dauerhaft zu siedeln, mithin Heimat zu finden. Entsprechung zur Entwurzelung, welche die Heimatlosigkeit in der Erfahrung eines Abschiedes auslösen kann…

Das ist - finde ich - eine sehr bildreiche Erklärung, die viel vom Grundgefühl des Textes enthält. Vielleicht würde eine knappere Version davon die Einleitung unterstützen?

Nun ja, vieles ist Stil- und Geschmackssache, da gibt es kein richtig oder falsch. Da ich selbst jüngst erfahren durfte, wie aufschlussreich unmittelbares Leser-Feedback sein kann, will ich das gerne auch liefern, wenn gewünscht *g*

Und auf diesem Niveau sogar sehr gern, lieber @**********hylen

P.S.:

Zitat von **********hylen:
Sieh an- erwischt! Der Terminus „Künstlich konstruierte Sprache“ ist wirklich ein Pleonasmus der Extraklasse

Und sogar was gelernt: Den Begriff Pleonasmus kannte ich bis dato nicht...
**********hylen Mann
1.142 Beiträge
Themenersteller 
Die Fragende (1. Abteilung)
Zeitreisen sind möglich. Wenn man sich denn auf das Lesen der Steine versteht.

Die Fragende. Es waren ihre so tiefbraunen Augen, die sie tauften. Diese so unbändige Lust zu Leben sprudelte nur so aus der Tiefe dieses Ausdrucks, welcher alles und jeden abzutasten schien. Suche und Aufforderung in Einem. Und zugleich auch die Grenzen aufzuzeigen schien, wenn sich in ihrer Iris dieses tiefgründige Befremden oder gar Verweigerung ausbreitete.
Ein leicht abschätzender Blick zunächst nur, als sie sich auf den Barhocker neben meinem an der Bar des Clubs niederließ. Allein wohl aufgrund des Winks der Frau am Tresen, welche instinktiv den etwas angestrengten Blick der Fragenden wahrgenommen hatte, als diese von der Spielwiese regelrecht flüchtete. Die beiden schienen sich gut zu kennen. Und so fügte ich mich in die Gewissheit, dass somit mein durchaus anregender Austausch mit der Tresenfrau nunmehr beendet war. Immerhin stellte die Barmixerin die Flasche des zwölfjährigen Talisker mit einem Zwinkern und einem spöttischen
„Selbstbedienung- auch wenn das hier eher die Ausnahme ist!“,
vor mir ab und wandte sich nun der Fragenden zu. Einem Gekicher folgte ein lebhafter Austausch der beiden, welcher jedem Außenstehenden unverblümt und detailverliebt die Erlebniswelt der letzten vier Stunden offenbarte.

War mir ganz recht. Meine Begleiterin schien seit gut einer Stunde Gefallen am glory hole gefunden zu haben. Da war der ansonsten so übliche und gewünschte Geleitschutz entbehrlich.
Eher widerwillig hatte ich mich von meiner Begleiterin zum Clubbesuch breitschlagen lassen. War ich doch gerade mal zwei Monate mit meiner Scheidung durch und hatte genügend Bespaßung, irgendwie die Scherbenhaufen erstickender Gemeinsamkeit zusammenzufegen.

Die freundliche Beiläufigkeit, welche meine Stuhlnachbarin ausstrahlte, vermittelte Unverfügbarkeit und Exklusivität. Nun gut- ich hatte ohnehin genug und krallte mich seit gut einer halben Stunde an diesem Malt fest, welcher in der Tresenauslage schon Staub angesetzt hatte. Über die richtige Auswahl des Trinkglases entwickelte sich eine sehr kurzweilige Unterhaltung mit der Barmixerin, der offensichtlich viel am Wohlergehen des Publikums lag.
Angesichts der ikonenhaften Ausstrahlung, ja Souveränität meiner Stuhlnachbarin stand außer Zweifel, dass sich die Fragende seit Betreten des Clubs erheblichen Zuspruchs erfreuen durfte. Mit ihren auf Hochglanz polierten Fingernägeln, dem stilvollen Umgang mit Kosmetika und ihrem offensichtlich hochwertigen Schmuck verströmte sie eine Ambitioniertheit, die sich deutlich von den anderen Clubbesuchern – gleich welchen Geschlechts- abhob.
Ästhetik verkommt heutzutage allzu oft zur Figurine in der Beschränkung auf das Modellhafte. Ich erwischte mich dabei, meine Stuhlnachbarin für einen Moment von Kopf bis Fuß zu mustern und sie aufgrund des sichtlich hochpreisigen Outfits vielleicht etwas zu vorschnell in die Kategorie „Ungenießbar, da zu anspruchsvoll“ einzuordnen. Und so schminkte ich es mir ab, auch nur ansatzweise über eine allzu plumpe Annäherung nachzudenken.
In der Absicht steckt oft ein Zwiespalt zwischen Zweck und Bestimmung. Sie registrierte meinen Blick und lächelte mich mit einer leicht bittenden Attitüde an.
„Du, sei mir nicht böse- aber für heute habe ich erst einmal genug.“
„Kein Problem. Darf ich dir trotzdem etwas anbieten?“
Mein Schwenken mit der Whiskyflasche erwiderte sie mit einem energischen Kopfschütteln und einem säuerlichen Zug auf ihren Lippen. Um diesem dann ein zustimmendes Zwinkern folgen zu lassen, nachdem mein bestimmender Blick auf das vor ihr stehende Longdrinkglas schwenkte.

Ihr schien meine Ambition, das Siedeln in Zwischenwelten zu kultivieren, zu gefallen. Und so spürte ich, dass ihr Blick für Sekunden über meinen Körper wanderte.
„Hey. Dein Rücken ist ja total übel zerkratzt!“
Ich zuckte in einem Anflug von Gleichgültigkeit mit den Achseln.
„Naja-was nützt Regen, wenn er nicht den Boden durchdringt?“
Ich stutzte, als dieses warme Lächeln sekündlich zu einen Zug an ihren Mundwinkeln gleich einem Parallelogramm wechselte, um dann wieder zu diesem Lächeln umzuschlagen. Wie dieses Wechselspiel von Sonne und Wolken, wenn die Sonne am Meer sattweiße Wolken eines Azorenhochs zu durchbrechen versucht. Die Grübchen unterhalb ihrer Wangenknochen formten sich nahezu phasengleich wie Schalllöcher eines Violoncellos. Kunstwerke geformt wie geschnitzte Figurinen.
Sie nestelte an ihrem Netzkimono herum, der dem Diktat des Seidengürtels widerstrebend den Blick auf eine gutdimensionierte Weiblichkeit freigab, welche offenkundig mittels unzähliger Fitnesseinheiten optimiert und veredelt wurde.

Sie blickte kurz auf.
„Tut mir leid. Aber ich musste heute einige Ansprüche bedienen und brauche jetzt wirklich mal eine Pause.“
Ich zuckte mit den Achseln.
„Anspruchshaltungen sind eine Sonderform von Freiheitsberaubung.“
Sie lächelte anerkennend und sichtlich interessiert.
„Oh- ein Zyniker. Schön- mal ein bisschen Abwechslung in diesem Stall.“
Die Barmixerin hatte sich zwischenzeitlich weiteren Bargästen zugewandt und der Blick der Fragenden verriet den Anspruch auf Forderung. Ich ließ von meinem Whiskytumbler ab und zog meine Stirn in Falten.
„Zynismus ist nun alles andere als eine Segnung. Mietet man sich da doch gleichzeitig den Zweifel und die Unruhe als Untermieter ein. Man darf denen dann die Bude sauber halten und bleibt regelmäßig auf dem Abwasch hängen. Ok- man fühlt sich bei dem ganzen Trubel dann trotz alledem nicht allein, weil irgendwie verantwortlich.“

Zu meiner Überraschung erntete ich ein zustimmendes Nicken.
„Kenne ich nur zu gut. Da hilft einem dann nur, einen Schritt nach dem anderen zu setzen.“
Die Mischung der hitzigen Stunden zuvor mit dem Feuer des Whiskys hinterließ bei mir zusehends Wirkung.
„Was bleibt schon von den Schritten, wenn nicht das Echo der Steine, welche die Wege pflastern oder im Weg sind. Flankiert nur von diesen hohlen Lippenbekenntnissen, wonach Ziele die Wege bestimmen sollen. Bullshit! Absichten und Vorsätze sind doch allenfalls die Randbepflanzung an den Stellen, wo die Steine Spielräume für das Wurzelwerk bieten.“

Sie schüttelte fast unmerklich den Kopf und neigte sich mir so zu, dass sich der Netzkimono öffnete und den Blick auf ihre beeindruckende Oberweite freilegte. Es schien sie nicht sonderlich zu stören, formte sie doch die freie Hand vor ihrem Gesicht, damit ich im Schwall der Schlagerrhythmen aus der überlauten Discolounge auch jedes Wort verstehen konnte.
„Steine vermitteln aber auch Halt. Meinetwegen kann man das in diesen Topf gefüllt mit dem, was so als Vertrauen, Geborgenheit und was-weiß-ich-auch-immer geworfen wird, säuberlich einsortieren und wie Schüttgut bei Gelegenheit hervorkramen.“
Ich nickte und prostete ihr zu, bevor ich den Rest aus dem Whiskytumbler in einem Zug herunterstürzte.
„Was bleibt, sind die Steine.“

Im Zurücklehnen zerrte sie an ihrem Netzkimono, um die freiliegenden Oberschenkel irgendwie mit diesem Hauch von Nichts zu bedecken. Meinen anerkennenden, mit einem Anflug von Verunsicherung garnierten Blick quittierte sie mit einer schon fast gleichgültigen Beiläufigkeit, die verriet, dass sie sich ihrer Ausstrahlung mehr als bewusst war.
„Ich war da schon mal.“
Ich blickte sie hierauf mit fragenden Augen an, während sie umständlich an ihrer Handtasche nestelte.

Eine unangekündigte Pause schlich sich ein. Mitten durch ist halt kein zeitgleiches Mit und durch. Schon symptomatisch, dass es in der deutschen Sprache kein Ablativ zu existieren scheint. Sie schien indes keine Anstalten zu machen, dass Gespräch abzubrechen. Und so sah ich mich in der Pflicht, nachzulegen.
„Ich meine keinen Ort, sondern diesen Punkt. Erst später wird man sich bewusst, dass es dem Grunde nach ein Aussichtspunkt und nicht das Ende eines Weges ist. Und auch kein Anfang. Obwohl…es so ziemlich aufs Selbe hinausläuft“.
Sie nickte erneut.
„Ja, dass kenne ich auch. Es dauert dann-mal mehr oder mal weniger.“

Unsere Blicke trafen sich erneut und in diesem Moment stellte sich eine beinahe harmonisch wirkende Kohärenz ein, die ich mit einem Durchatmen durchbrach.
„Wege, die beschritten werden, bestehen aus Steinen. Dazwischen nur die Fugen von Zeit.“
Sie schien für einen Moment nachdenklich geworden zu sein.
„Geht es dann nur noch um die Variationen?“
„Du- ich versuche gerade, mir über diese Frage im Klaren zu werden“.

Die Barmixerin stellte ein Longdrinkglas mit einer grellen und giftig wirkenden Substanz vor der Fragenden ab und nutzte die Gelegenheit, sich zu meiner Stuhlnachbarin vorzubeugen und ihr hinter vorgehaltener Hand etwas zuzuflüstern. Das Getuschel der beiden mündete in ein leicht verstohlen wirkendes Gelächter. Und im crescendo des sich daran anschließenden Redeschwalls beschloss ich, der in der Veranstaltungsankündigung gesondert hofierten Raucherlounge einen Besuch abzustatten.
Ich schälte mich etwas umständlich aus dem Barhocker und das leichte Nachgeben meiner Knie offenbarte mir, dass ich es mit dem flüssigen Sonnenlicht der Insel Skye spürbar übertrieben hatte. Mein verlegener Blick wurde von den beiden leicht amüsiert erwidert und ich vermochte beim Aufbruch im Dämmerlicht ein dezentes Winken der Fragenden zu erkennen…

Beim Anblick der Raucherlounge wich der melancholische Anflug einem Ausbruch von Heiterkeit. So wie sich die Gastgeber im Anspruch auf hedonistische Exklusivität im Innenbereich austobten, so sehr manifestierte sich auf der halboffenen Terrasse der Charme eines Campingplatzes. Auf betagten Waschbetonplatten verloren sich ein paar Klapptische. An diesen drapiert eine willkürliche Zusammenstellung von Plastikstühlen, wie man sie von Sonderpostenmärkten oder Aktionsverkäufen in Discountern kennt. Beim Zurücklehnen in die sterile Künstlichkeit des Gartenmöbels vergegenwärtigte sich mir die Natürlichkeit, der ich noch Minuten vorher begegnete. Und vielleicht die Einsicht, dass Zeitreisen in Raumkapseln mehr von willkürlich wirkenden Gelegenheiten als denn von Erwartungen gespeist werden.

Was solls- vom Osten her ertönte der Ruf Eos´ und ließ am Horizont die ersten Strahlen eines keimenden Tages aufflammen. Und über die sich ausbreitenden Weiden vor dem Club kündigten sich die ersten Ausläufer eines Azorenhochs an.
Beim ersten tiefen Lungenzug inhalierte ich neben dem Tabakrauch den von ihrer Körperwärme durchsetzten Duft des Parfums einer Fragenden ein…

(…)

©Einar_VonPhylen 050620
Wäre ich nicht ich, würde ich das genau so erleben. Genau so. Und würde es wohl auch so beschreiben. *top*
**********hylen Mann
1.142 Beiträge
Themenersteller 
Eos (2. Abteilung)
Ein Knistern. Es reichte, um mich aus diesem katatonischen Moment herauszureißen. Die erste Aufregung nach der Rettungsaktion für das sichtlich hilflose Pärchen Minuten zuvor und der anschließenden Zigarette mündete vor diesem Knistern in einen dieser obligaten Momente, wo man so ganz bei sich zu sein scheint.

Das aufgeregte Blinzeln in den Augen der Kleinen und die verkrampfte Sitzposition ihres Lovers lenkten ein wenig ab vom mittlerweile unangenehmen Brennen auf meinem Rücken und in meiner Kehle. Ich wollte es erst dabei belassen. Auch wenn es angesichts des noch regen Treibens im Innenbereich recht ungewöhnlich erschien, dass sich die beiden in der dunkelsten Ecke der Raucherlounge an einem Nebentisch platzierten. War ja aber auch nicht meine Baustelle. Indes ließ mich das mühsam unterdrückte Stöhnen des vielleicht Mitvierzigers aufmerken, sobald der unter ihm befindliche Plastikstuhl nahezu jede Stabilität vermissen ließ und sich unter jeder noch so kleinen Bewegung mit einem knarzenden Geräusch auf dem Waschbeton verformte.

„Hey Mann. Alles klar bei dir?“

Meine Frage erntete eine zunächst abwehrende Geste bei ihm und ein unsicheres Kopfschütteln bei seiner wesentlich jüngeren Begleiterin. Sie hielt sich die Hände vor das Gesicht und raunte ihm deutlich hörbar zu.

„Es ist alles meine Schuld. Was machen wir jetzt nur?“

Mein zunächst leicht belustigter Blick relativierte sich, nachdem ich in seiner Miene nicht ansatzweise eine Entsprechung vorfand. Schluss mit lustig. Mir schien es angeraten, ihm das noch halbvolle Glas mit dem Talisker herüberzuschieben.

„Kann ich irgendwie helfen?“

In seiner zögerlichen Reaktion sammelte sich zunächst gleichzeitige Ablehnung und resignative Verbrüderung.

„ Nee. Ja. Ist auch egal. Mein Dilator ist verkeilt und ich bekomme ihn nicht raus.“

Auf meinen verdutzten Gesichtsausdruck hin stand er schließlich auf und präsentierte den Ausgangspunkt des Leidens.
Ich musste augenblicklich grinsen, erinnerte mich doch die durchaus imposante Größe des Anschauungssubjekts an diese eine Kunstinstallation Anteks, welche –zumal mit einer stattlichen Summe öffentlicher Fördergelder finanziert- bei feierlicher Einweihung vor dem Rathaus einer Umlandgemeinde zu einem wahren Volkssturm der Entrüstung geführt hatte. Das Kunstwerk verschwand dann irgendwo im Außendeichgelände, volksempfindengeläutert dorthin, wo die empörten Bewohner ansonsten ihre pinkelnden Hunde ausführten. „Causa subtilis“ betitelte Antek die Installation gegen überkommene Auswüchse des Patriarchats. Passte irgendwie ganz gut zur Situation, wenngleich die besorgten Mienen der beiden Bände sprachen und diese partout keinen Handbreit Humor aufbringen wollten.
Ich setzte augenblicklich eine besorgte Miene auf und versuchte mich mehr schlecht als recht an diesem obligaten Arztblick. Mein prüfender Gesichtsausdruck vermittelte Ernstlichkeit und erntete ein hektisches Nicken der beiden, als ich aufblickte.

„Okay- das kriegen wir dann aber wohl nur zu dritt hin, oder?“

Eine kurze Absprache nur, begleitet von heftigem Nicken. Meine Idee mit den Eiswürfeln führte nicht nur zur einem sichtlich entspannten Gesichtsausdruck bei allen, sondern auch zur Abnahme jeglicher Schwellung bei einem. Er streckte sich auf dem Stuhl den hilfreichen Händen seiner Liebsten entgegen, nachdem er zuvor einen kräftigen Zug vom Malt heruntergestürzt hatte. Meine an die Mithelferin kurz herausgestoßenen Richtungsangaben führten bereits zu leichter Entkrampfung, ja Heiterkeit und so zog sich dann der stählerne Quälgeist allmählich aus seiner Blockade. Nachdem sich keinerlei Anzeichen für einen Blutstau abzeichneten, wurden unsere gemeinsamen Bemühungen durch ein tiefes Durchatmen und sein erstes, entspanntes Lächeln belohnt. Er zwinkerte mir zu.

„Puh- ich hab´mir mein erstes Bi-Erlebnis ehrlich gesagt auch ein bisschen anders vorgestellt“.
„Naja", entgegnete ich leicht verblüfft: "Nachbarschaftshilfe eben.“

Die beiden beschlossen, das therapeutische Gemeinschaftsprojekt mit der Suche nach Eiswürfeln abzurunden und ließen mich mit meinen Gedanken und dem Ausblick auf eine norddeutsche Kulturlandschaft zurück. Was blieb, waren nur die gedämpften Hintergrundgeräusche von der Tanzfläche und das zunehmend unangenehme Brennen auf meinem Rücken. Treiben lassen in Gedanken…

Das Knistern, dieses gefolgt von einem metallischen Klicken, ließ mich aufschrecken. Die Stimme, welche aus Richtung des Knisterns ertönte, klang vertraut. Wenngleich sie auch fester wirkte als noch an der Bar.

„Hast Du vielleicht auch noch Feuer?“

Das Picard-Emblem an ihrer Handtasche verriet die Ursache dieses leichten Knisterns und lenkte meine Augen fast magnetisch zu langen, professionell bearbeiteten Fingernägeln, welche eine Zigarette kunstvoll aus dem edlen Accessoire fingerten. Auf mein
„Dahingehend bin ich gut bestückt“,
prustete sie los und warf kurz ihren Kopf in den zierlichen Nacken. Sie beugte sich vor und das Zippo flammte kurz auf. Begleitend mit dem ersten tiefen Lungenzug drapierte sie einen Seidenumhang über ihren Netzkimono und nahm auf dem benachbarten Plastikfauteuil Platz.
Wir beide streckten uns und atmeten vielleicht für eine Minute tief durch.

„Mann, dagegen musst du aber unbedingt etwas machen.“
Bevor ich etwas entgegnen konnte, fuhr sie mit ihren lackierten Fingernägeln behutsam über die Bissspuren auf meiner Brust und den Oberarmen. Ich zuckte zusammen und ihre Hand schreckte augenblicklich zurück. Spürend, dass es nicht der Schmerzreiz war, sondern ein elektrischer Impuls, der durch meinen ganzen Körper fuhr. Ein leichter Schauder durchfuhr mich im selben Moment, in dem sie für eine Nanosekunde scheinbar selbst unmerklich erschrak.
Sie lehnte sich zurück und wir trafen ohne Blickkontakt eine stille Übereinkunft zum Schweigen. Das Feuerzeug flammte erneut für eine zweite Zigarette auf. Und dann auch für eine dritte. Das Klicken des Zippo wurde nur durchsetzt vom Getuschel und Gejohle der Zaungäste, die sich in wechselnder Personalie ausgelassen in der Raucherlounge einfanden und wie Schatten wieder verschwanden.

Inseln, die sich waschen im Licht des Vollmondes. Was schon tun, wenn zwischen zwei Inseln eine Datumsgrenze liegt?
Das Ziehen an meinem ganzen Körper bewog mich, mich aus der zunehmend unangenehmen Sitzposition zu lösen.

„Ich denke mal, dass ich dem Wellnessbereich einen Besuch abstatte.“
„Sehr gute Idee. Der Jakuzzi ist hier wirklich grandios. Findest Du den Weg?“

Begleitet mit einem leichten Kopfnicken machte ich Anstalten, mich aus dem Plastikstuhl herauszuschälen.
Sie neigte sich mir fast unmerklich zu.
„Willst Du gar nicht wissen, wie ich heiße?“
Mein:
„Du trägst für mich bereits einen Namen!“,
löste ein neugieriges Lächeln aus. Ein korrespondierender Blick. Und bevor ich den Mund zu einer Frage spitzen konnte, legte sie mit einem leichten Kopfschütteln einen Finger auf meine Lippen.
„Danke fürs Feuer!“

Im Aufstehen schleuderte ich ihr ein Zwinkern zu.
„Welches Feuer meinst Du?“

Sie lächelte und blickte mir hinterher…

©Einar_VonPhylen 070620
Sehr erotisch, aber einige Kleinigkeiten muss ich rügen:

Dass 'katatonisch' nichts Gutes ist, war meinem emotionalen Erinnerungsspeicher bewusst. Leider ergab sich aber auf die Schnelle keine rationale Erklärung, also hab ich darüber weggelesen.

Googeln musste ich allerdings, was ein 'Dilator' ist (im Kopf entstand sofort ein Bilderkonflikt zwischen Defibrillator und Rollator *gg* ). Gut: 'Harnröhrendehner' hätte ziemlich blöd geklungen, aber ich muss ehrlich zugeben: Isch 'atte keine Ahnung, was das ist...

Der 'Jacuzzi' - hier als 'Jakuzzi' verkauft - ist nicht ein Angehöriger der japanischen Mafia (meiner ersten spontanen Idee), sondern einfach ein Whirlpool (sagt Tante Google). Das ist zwar immer noch ein Fremdwort, aber eines, das ich kenne.

Szene-Sprech, High-Level-Sprech oder einfach Nord-Süd-Gefälle?

Immerhin habe ich das 'Picard-Emblem' sehr leicht gefunden (die Dame ist also Trekkie *zwinker* ):
**********Engel Frau
25.851 Beiträge
Gruppen-Mod 
Zitat von *********Stein:
Immerhin habe ich das 'Picard-Emblem' sehr leicht gefunden (die Dame ist also Trekkie *zwinker* ):

*nein*
Guckst Du hier: *zwinker*
https://www.picard-lederwaren.de/

Ich habe leider die Geschichte noch nicht gelesen, aber beim runterscrollen, um zu schauen, wie lang sie ist, warf mein Trekkie-Sinn bei "Picard" natürlich sofort die Bremse rein. *zwinker* Aber ich erkannte sofort, dass es nicht um den göttlichen Jean-Luc Picard geht. *g*
**********hylen Mann
1.142 Beiträge
Themenersteller 
Nun, @*********Stein:
Immerhin habe ich das 'Picard-Emblem' sehr leicht gefunden (die Dame ist also Trekkie *zwinker* )
Nicht gleich alles verraten! *zwinker* und vielleicht mal meine Neigung zum Spielkalb einfach so stehen lassen. Dem/der (mehr oder weniger) geneigten anderen Leser soll ja durchaus auch die Freiheit zu einer eigenen Interpretation belassen bleiben (bin zugegeben etwas gespannt, was da so herauskommt *smile*).
Nur soviel: Ich werde meine unterirdische Schreibe sicherlich nicht mit irgendwelchen Außerirdischen ausstaffieren *ggg*
Den Terminus "katatonisch" bitte ich zu entschuldigen- wer denn mal dieses Gefühl von brennenden Striemen auf dem Rücken (oder ggf. auch sonstwo *autsch*) "genießen" durfte, vermag vielleicht diese Spannung im ganzen Körper nachvollziehen. Vor allem, wenn sich diese körperliche Erfahrung spiegelbildlich mit diesem psychischen Absacken nach einem...sagen wir mal "Höhenflug" einstellt...
Habe leider keine inlandsprachliche Entsprechung für diesen Zustand gefunden...

Szene-Sprech, High-Level-Sprech oder einfach Nord-Süd-Gefälle?
Vielleicht auch nur eine Milieuschilderung (womöglich verunglückt? *nachdenk*). Am Nord-Süd-Gefälle arbeite ich indes -anlassbezogen- gerne! *smile*
Danke für deine Reflexionen!
red
*******tee Frau
7.203 Beiträge
*holmes*
Zitat von **********hylen:
Das Picard-Emblem an ihrer Handtasche verriet die Ursache dieses leichten Knisterns

Das wäre noch zu klären ob es das Picard Emblem der Lederwaren Marke ist oder das Jean Luc Picard Emblem *zwinker*

Jedenfalls möchte ich mein kleines Kompliment an @**********hylen aussprechen.

Du beherrschst es eine romantische Szene in einem Swingerclub zu inszenieren. *hutab*
Das ist eine zwischen tiefgründig und erotische Gradwanderung.
**********Engel Frau
25.851 Beiträge
Gruppen-Mod 
Ok, das von Wagner gepostete Foto ist aus der neuen Picard-Serie. Diese habe ich noch nicht gesehen, da sie bisher nur auf Amazon Prime läuft.

In den alten Serien StarTrek TNG (The next Generation) und auch in den Filmen hatte Picard kein eigenes Emblem, sondern nur das der Sternenflotte.

*klugscheisser*-Modus aus *zwinker*

PS: Wenn ich mal nicht mehr vom täglichen Homeoffice-Büro-Wechsel völlig platt und PC-müde bin, muss ich diese Geschichte wohl unbedingt lesen *g*
*****har Paar
41.020 Beiträge
Gruppen-Mod 
Bisher lese ich einfach nur höchst fasziniert mit und bin mal gespannt, ob und wie es weitergehen wird.

Auf mögliche Verbesserungen und Korrekturen will ich gar nicht eingehen (das hat Wagner_E_Stein ja bereits fachkundig getan), doch ich hab eine Frage zur Rechtschreibung in wörtlicher Rede.

„Mann, dagegen musst du aber unbedingt etwas machen.“

„Welches Feuer meinst Du?“

Zunächst möchte ich anmerken, dass ich ja schon froh bin, wenn der Autor an dieser Stelle und in diesem Zusammenhang "Mann" schreibt und nicht das leider, leider derzeit allseits übliche und zugleich völlig unbegreifliche "Man" wie z B. in solchen Sätzen: "Oh man, was hab ich bloß getan?" oder "Man, da musst du was unternehmen!"

Aber warum wird hier (wie auch sonst so oft) in der wörtlichen Rede immer wieder die persönliche Anrede groß geschrieben, also "du, dich, dir"? Es gibt doch sicher einen Grund dafür - und ich kann das überhaupt nicht verstehen oder nachvollziehen. Das war nämlich weder früher üblich noch ist es heute korrekt (nicht mal mehr in Briefen und anderen Mitteilungen). Und gelegentlich wird es - wie hier - auch noch mal groß und mal klein geschrieben.

Ist das alles nur ein Versehen oder eine "dumme Gewohnheit" oder steckt da eine bestimmte Absicht dahinter?

(Der Antaghar)
**********hylen Mann
1.142 Beiträge
Themenersteller 
Aber warum wird hier (wie auch sonst so oft) in der wörtlichen Rede immer wieder die persönliche Anrede groß geschrieben, also "du, dich, dir"? Es gibt doch sicher einen Grund dafür
Nun,@*****har: Die einzigen Gründe, welche mir hierzu einfielen, wären meine Schludrigkeit *rotwerd* bei der Endkontrolle sowie der vielleicht einleuchtende Umstand, dass die derzeit marktüblichen Rechtschreibprogramme bei der sog. "Autokorrektur" gerne mal zur "Briefanrede" umformatieren.
Vergesse ich nahezu jedesmal, diese Funktion auszuschalten *motz*.
Da muss ich dann wohl noch einmal Hand anlegen... *sorry*

Danke für den Hinweis *top*
**********hylen Mann
1.142 Beiträge
Themenersteller 
Lichtbrechungen (3. Abteilung)
Die Periodik eines Sommers hängt allzu oft an seidenen Fäden. Diese leicht schimmernd nur wie Angelsehnen, so wie die Klangfarben des Lichts nahezu sekündlich zwischen Moll und Dur wechseln.

Klangfarben. Das Schnarren der Wohnungsklingel mutete wie eine Kreissäge an. Nur das damit offenbar keine Hartfaserplatte bearbeitet werden sollte. Scheinbar stand auf dem Tagesplan, meinen dröhnenden Kopf direkt von der Mitte her zu zerteilen. Das mittlerweile auf Dauerklingeln eingelegte Geläut ließ den Weg durch den unendlich scheinenden Wohnungsflur zu einer Golgathapassion ausarten. Da schien es jemand um nicht einmal sieben Uhr morgens sehr eilig zu haben.
Ich streifte noch schnell ein T-Shirt über, bevor ich die Tür öffnete.

Zadeq drückte grußlos mit einem Trolley und einer abgewetzten Tasche durch die Tür. Über seine gepressten Lippen zischte nur ein
„Wo ist mein Zimmer?“,
bevor er die überquellende Tasche achtlos in den Wohnungsflur warf. Mit einer leichten Kopfneigung wies ich auf die drittletzte Tür im Flur und fasste den Entschluss, mich in die Küche zu verkrümeln. Bei Tiefdruckgebieten und Künstlern weiß man halt nie, was als nächstes kommt.
Antek ließ sich natürlich nicht blicken. Das Schweigen hinter der verschlossenen Zimmertür dünstete regelrecht die stille Ablehnung einer irgend gearteten Beteiligung aus. Typische Rückzugstendenz, welche Antek regelmäßig mit einer imaginären Neigung zu einem Aspergersyndrom zu rechtfertigen versuchte.

Wieder einmal überkam mich Skepsis bezüglich des nunmehr fleischgewordenen Projekts einer Wohngemeinschaft von Freigeistern. Eine Schnapsidee von Antek, wenn auch aus der Not geboren. Antek hatte sich infolge seiner recht kostspieligen Scheidung im vorletzten Jahr darauf konzentriert, so ziemlich alles, was dem bisherigen Leben Werthaltigkeit gab, abzustoßen und eben diese Fünfzimmerwohnung in eher dürftiger Lage anzumieten. Atelier und Spielwiese für den Kurswechsel in der Vergesellschaftung von Perspektiven. Mir erschien das logisch und konsequent, begünstigt die Loslösung vom Verdinglichen doch die Befreiung des Geistes.

Das nunmehr einsetzende Gepolter im Flur zwang mich zu einem längeren Aufenthalt in der noch halbfertigen Küche. In der Küche zunächst der Blick in einen eher trostlosen Kühlschrank. Dieser im planlosen Einräumen hastig angeschlossen. Die ausufernde Palette von bereits abgelaufenen Milchprodukten und schlichtweg wahllos eingelagerten Lebensmitteln manifestierte für jeden Außenstehenden die bedrohliche Alltäglichkeit eines Männerhaushalts. Jegliches Streben nach einem geregelten Tagesbeginn bei einem angemessenen Frühstück zerschellte an einer willkürlichen und wilden Zusammenstellung von Kühlschrankinventar, welches bereits aus ernährungsphysiologischer Sicht einfach nicht zusammenpassen wollte. Neben einem mittlerweile gut durchgekühlten Paket von Dinkelflocken aus kontrolliert biologischen Anbau machte sich ein Dichtungssatz für Sanitärinstallationen nebst doppelwandiger Ringmuffe breit. Zumindest farblich harmonisch eingefügt direkt neben einem Mehrfruchtaufstrich unklaren Haltbarkeitsdatums sowie einer giftig anmutenden Würzpaste mit arabischen Schriftzeichen. Farbenlehre.
Immerhin dürfte das im Gemüsefach liegende Sockenpaar noch innerhalb des Mindesthaltbarkeitsdatums liegen. Wenngleich der beißende Geruch aus dem unteren Kühlschrankfach auch eine andere Vermutung zuließ.

Notgedrungen entschied ich mich spontan für ein schwarzes Frühstück und warf missmutig die Kühlschranktür zu. Im Dunst der ersten Zigarette des Tages versank der Morgenkaffee ohne lange Verweilzeit irgendwo in der unteren Körperhemisphäre. Und löste ein ähnliches Grummeln im Verdauungstrakt aus wie die Beats des gestrigen Clubevents. Das durch die halb geöffnete Küchentür dringende Poltern und Fluchen Zadeqs bestärkte mich auszuharren, einen zweiten Kaffee zu nehmen und mit einer Alka Seltzer das Dröhnen in meinem Kopf zu besänftigen.
Das laute Treiben auf dem Flur wurde jäh durch ein Fluchen Zadeqs unterbrochen. Es war ohnehin eine Frage der Zeit, dass er der Länge nach über einen der wahllos in den Flur gestellten Kartons mit Malerutensilien stolpern würde. Zumindest der eindeutigen Wortwahl nach schien Zadeq einer der bedeutensten Verfechter der Fäkalromantik zu sein. Die mit einem Bariton herausgestoßenen Verwünschungen dürften mittlerweile das halbe Haus aus der Nachtruhe gerissen haben. Und mich trieb die Sorge um, dass Leah trotz des nicht unbeachtlichen Umtrunks nach dem nächtlichen Event ebenfalls unsanft in die Wirklichkeit eines morgendlichen Katers hineinkatapultiert wurde. Mist aber auch - wollte ich sie doch mit einem harmonischen Frühstück sanft in diesen Tag gleiten lassen. Und am besten so, bevor sie die bizarre Wirklichkeit des lebenden und des unbelebten Inventars meines derzeitigen Domizils zu verdauen hatte.
Pustekuchen.
Spätestens nachdem Zadeq im Flur mit eindeutiger Wortwahl über den Standort der Sanitärabteilung räsonierte, gab ich die Hoffnung auf, dass Leah ihren Tequilarausch noch träumend abbauen konnte. Zumal sich nun auch hinter Anteks Zimmertür Leben abzeichnete.

Dann für Minuten ungewöhnliche Stille. Bevor mich die Neugier aus der Küche trieb, stand der neue Mitbewohner in der Küchentür. Zadeq warf einen ähnlich missmutigen Blick in den Kühlschrank, wie sich dieser vermutlich bei meiner morgendlichen Bestandsaufnahme in meiner Gestik wiederfand. Nach anfänglicher Neugier pfefferte der Neue schließlich auch die doppelwandige Ringmuffe kopfschüttelnd zurück ins Gemüsefach.

„Well- hier scheint ja ein Hort der Erlebnisgastronomie zu sein. Wie sieht es denn mit Bier aus?“

Zadeqs Drang nach Alkoholischem vor sieben Uhr morgens löste bei mir Übersäuerung aus. Nach dem gestrigen Umtrunk nahm die Alka Seltzer zudem nur zögerlich ihren Dienst auf.

„Knapp. Da wir auch gerade eingezogen sind, ist hier fürs Erste Selbstversorgungsstatus angesagt.“

Missmutig nahm der mittlerweile verschwitzte Neuankömmling das spärliche Inventar in den Einbauschränken in Augenschein. Zadeq schien zuvor binnen zwanzig Minuten seinen gesamten Hausstand über die drei Etagen in sein Zimmer befördert zu haben und kurz vor dem Verdursten zu stehen.
Sein „Wo ist denn der Hausherr?“ beantwortete ich mit einem wortlosen Nicken zur gegenüberliegenden Zimmertür und erntete ein breites Grinsen.
„Und was machst du so?“

Mir schien eine Kunstpause angesagt zu sein. Ich würgte eine weitere Alka Seltzer mit dem letzten Schluck Kaffee herunter und rang mir ein Lächeln ab.
„Naja. Erst einmal irgendwie diesen Morgen überleben. Ach ja, und falls du das meinst: Ansonsten Klang- und Videoinstallationen zu vorbereiteten Essays und Reflexionen“.

Zadeq grinste mit einem leichten Anflug von Verachtung.
„Na, das hört sich ja spannend an.“
Zadeq nahm es als selbstverständlich hin, dass ich dessen künstlerische Attitüde aufgrund seines Selbstverständnisses und Bekanntheitsgrades nicht weiter hinterfragte. Unabhängig davon, dass Antek mir den neuen Mitbewohner mit zum Teil überschwänglichen Ausführungen so schmackhaft wie möglich machen wollte, war Zadeqs Aktionskunst dem etablierten Kulturzirkus unweigerlich nicht verborgen geblieben. Seine Konsequenz bei Umsetzung seiner Vorhaben bediente somit auch einen entsprechenden Ruf, ohne dass sich selbiges in einer zählbaren Mehrung seines Vermögens, sondern allenfalls in der Häufung von Ärger bemerkbar machte. Seine letzte schlagzeilenträchtige Performance erstreckte sich darin, einem nationalkonservativen Kritiker seines Schaffens an ungeraden Wochentagen -farblich passend zu dessen Gesinnung- postalisch die Reste von Verdauungsvorgängen zukommen zu lassen. Unglücklicherweise vermochte er im anschließenden Rechtsstreit die Richter nicht vom künstlerischen Kerngehalt der Aktion zu überzeugen. Die profunden Prozesskosten über mehrere Instanzen brachten es dann mit sich, dass sich Zadeq von seinem Loft sowie von seinem Sportcoupé trennen und eine neue Bleibe suchen musste.
Auf meine kritischen Fragen hin versuchte mir Antek noch letzte Woche nahe zubringen, dass der neue Mitbewohner ein eher zurückgezogenes Privatleben bevorzugen würde. Das Spiegelbild meines verkniffenen Gesichtsausdrucks im Küchenfenster vermittelte mir nun die Begründetheit meiner anfänglichen Zweifel und die Tendenz nahenden Unheils.

Aus ausgedörrter Kehle ließ Zadeq einen Hustenanfall bis an die Zimmerdecke scheppern. Mit einer beschwichtigenden Handbewegung versuchte ich meinem grinsenden Gegenüber zu vermitteln, die Stimme etwas zu senken. Ein Lachen blitzte bei Zadeq auf.
„Ach- du meinst, wegen der Kleinen in deinem Bett. Verstehe.“

Den abwiegelnden Hinweis auf meinen dröhnenden Kopf überging Zadeq scheinbar regungslos und platzierte sich mir gegenüber am Küchentisch.
Sein mit einem Grinsen durchsetztes „Geile Pussy!“ machte mir klar, dass der neue Mitbewohner auf der Suche nach der Keramikabteilung bereits einen Blick in mein Zimmer und auf meine noch schlafende Nachtbegleiterin geworfen hatte.

Ein weiterer Diskurs erübrigte sich. Der Hausherr schwebte bzw. stolperte in einem Bademantel aus Ballonseide in die Küche. Zadeq zog die Augenbrauen hoch und seine Begrüßung beschränkte sich auf ein
„Hey, Alter- arbeitest du jetzt in einem Schwulencafé?“

Antek stützte sich noch sichtlich übernächtigt auf die Küchenkonsole und räusperte.
„Ich dachte, du wolltest erst im Laufe des Nachmittags auflaufen!“

„Nee, ging nicht. Der Gerichtsvollzieher stand bereits um 6:00 Uhr vor der Tür und ich musste die Bude sofort räumen.“
Mit einer verächtlichen Handbewegung wirbelte Zadeq die stehende Luft in der Küche durcheinander und spülte den ersten Schluck des bereitgestellten Kaffees herunter.
„Kann mir jemand dabei helfen, noch meine Teppiche hochzuholen?“
Die Frage löste den ersten sorgenvollen Ausdruck in Anteks Miene aus. Erstreckte sich doch Zadeqs künstlerisches Wirken unter anderem auch im Weben von existentialistischen Teppichen, welche vornehmlich beziehungsweise ausschließlich in der Farbe Schwarz gehalten waren.

Ich beschloss, das Zweigestirn ihrem Schicksal zu überlassen und mit einer Tasse Kaffee im Schlafzimmer nach dem Rechten zu schauen. Bei Leah dürften sich nach der für uns beiden sehr abwechslungsreichen Nacht die ersten Anzeichen von Leben eingestellt haben.
Nachdem wir beiden in der clubnahen Cocktaillounge die letzten Tequilabestände ihrer Bestimmung zugeführt hatten, gingen wir erwartungsvoll auf ein gelbrotes Trendgetränk mit verheißungsvollem Namen über. Letzten Endes vermochte das als „Sex on the beach“ vermarktete Schlabberzeugs indes nicht die Erwartungen zu erfüllen, welches die inniger werdenden Blicke am Cocktailtresen angesichts der vorgerückten Nachtstunde versprachen. Immerhin anfangs ein gutes Credo. Folgte daraufhin doch die stille Übereinkunft, das letzte Bargeld am Tresen zu lassen und nicht für ein Taxi für Leahs Heimfahrt zu verschwenden. Bereits eine halbe Stunde nach Ankunft in meinem noch halbfertigen Schlafzimmer wurden unsere Mägen mit dem Umstand konfrontiert, dass das lasterhafte Gesöff bei nahezu jeder Umweltverträglichkeitsprüfung durchfiel.

Leahs Kleidung war über das ganze Zimmer verstreut. Und ihr bloßer Körper schimmerte silbrig im Sonnenlicht, welches sich durch die Lamellen der behelfsmäßig angebrachten Jalousie ins Zimmer ergoss. Nahezu regungslos wie eine dieser Jugendstilschönheiten Klimts. Verloren, ja wie hingeworfen streckte sich ihr Leib in einer bizarren Körperhaltung. Diese durchsetzt von den Antipoden größter Sinnlichkeit bis hin zu maßlosem Elend. Ich deckte ihren krampfgeschüttelten Leib zu und ihre morgendliche Alkoholfahne ließ keinen Zweifel offen, dass Leah noch einen langen Weg vor sich hatte, um sich wieder in dieses lebensbejahende, ja quirlige Wesen des Vorabends zu verwandeln. Der erste Schluck Kaffee löste zunächst nur einen mittelschweren Hustenanfall aus. Zu wenig Linderung für den zierlichen Körper, wie es schien. Ich stützte ihren Kopf, als die erste Magentablette den Weg in Richtung des Unheils nahm, welches sich bereits seit den frühen Morgenstunden in ihrem Magen ausbreitete. Der Blick in ihre krampfhaft geschlossenen Augen und die Abstinenz jeglichen Sprachvermögens bestärkte mich in der Einsicht, dass Ruhe jetzt die richtige Medizin war.

Mit dem geflüsterten Versprechen eines würdigen Katerfrühstücks schlich ich mich aus dem abgedunkelten Zimmer. Durch die geöffnete Tür drangen Wortfetzen aus der Küche, die auf einen lautstarken Austausch von Jugenderinnerungen meiner Mitbewohner schließen ließen.

Das Gejohle und Gelächter aus der Kombüse verfolgte mich noch bis unter die Dusche. An die Wand gestützt ließ ich die ersten warmen Schauer über meinen Körper laufen, bis mir ein kalter Luftzug vergegenwärtigte, dass ich nicht mehr allein war. Die kehligen Laute über der Toilettenschüssel bezeugten, dass Leahs Magen die Schlussakkorde der gestrigen Beachparty mit dem Zusatz „Annahme verweigert“ abarbeitete. Grotesk wirkte sie in dem langen Ledermantel, den sie wohl hastig aus meinem Kleiderschrank zog und überstreifte. Ich verkniff mir einen allzu lasterhaften Kommentar, streifte ihr den Mantel ab und zog das zitternde Wesen unter den warmen Duschstrahl. Minuten vergingen, in denen das Leben eher zögerlich wieder in den zierlichen Körper zurückzukehren schien. Ein Aufbäumen dann, als ich sie vorsichtig einseifte. Ihre flehenden Augen verrieten mir die Anspannung eines weiblichen Körpers vor dem Wasserlassen.
„Lass es laufen“, flüsterte ich ihr zu und verteilte den Badeschaum auf ihrem eiskalten Rücken…

Die Stille im Flur wurde übertönt durch einen angeregten Disput in der Küche. Ich hielt es für angebracht, Leah zunächst wieder ins Schlafzimmer zu verfrachten und eröffnete ihr, dass es unter den gegebenen Umständen wohl besser wäre, ein nahe gelegenes Frühstückslokal aufzusuchen.
Leah riskierte einen kurzen Blick in die Küche und machte sofort auf dem Absatz kehrt.
„Sag mal. Kennst du nur kranke Leute?“

Ein Blick in die Küche. Antek referierte mit halb geöffnetem Bademantel auf einem hervorgekramten Flipchart über die Vorzüge hausinterner Planwirtschaft, während der Neue versuchte, Gesichtswurstscheiben farblich abgestimmt auf dem Küchentisch anzuordnen.
Das konnte ja noch heiter werden. Sah ich mich doch erneut gefangen in einem Zwiespalt zwischen den schrägen Mustern von Echtheit und der Karriere eines Falsifikats.
Ein Flimmern von Bildern. Wie meistens eigentlich.

(…)

©Einar_VonPhylen 200120
**********gosto Frau
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„Sag mal, kennst du nur kranke Leute?“
*witz*
**********hylen Mann
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Nornenfäden (4. Abteilung)
Gesellschaft verliert sich allzu gerne in der Täuschung des Vertraut seins.
Ich suche mir den Wolf. Ein Durcheinander. Zeichnete doch der überstürzte Aufbruch an diesem eiskalten Novembermorgen vor einem halben Jahr eine Spur der Verwüstung durch den Wohnwagen, welchen ich nach dem Auszug aus der Reihenhauswirklichkeit meiner gescheiterten Ehe fluchtartig bezogen und dann schlussendlich auch genauso verlassen hatte. Der Druckminderer an den Propangasflaschen war mal wieder eingefroren. Und so empfängt mich meine ehemalige Residenz auf Rollen mit dem gefangenen Hauch des vergangenen Winters.

Häppchenweise verlagerte ich nach den Wintermonaten meinen Hausstand von meinem ehemaligen Übergangsdomizil in die WG, nachdem ich bereits das Lager im Clubhaus aufgelöst hatte.
Durch die beschlagenen Seitenscheiben des Wohnwagens rieselt nur spärliches Sonnenlicht in das Chaos des Innenraums. Wie bei dieser Flucht aus dem Nomadendasein an diesem Novembermorgen.

Immerhin war die seinerzeitige Einladung Anteks nach dem frühzeitigen Wintereinbruch auf dem Campingplatz im Ergebnis eine Rettungsaktion. Zumal sich das angedachte Winterquartier im Dachstuhl des Vereinsheims, welches ich nach einiger Hilfestellung für den Vereinsvorstand beziehen durfte, keine wirklich reizvolle Alternative darstellte. Die eine Nacht im Clubhaus war durchsetzt von der Erkenntnis, dass eine marode Heizungsanlage gepaart mit stunden langem Gezeche der Clubmitglieder bei AC/DC-Klängen ein schlechter Passivtausch gegen die letzten durchfrorenen Nächte im Wohnwagen war. Also wieder zurück in den Mumienschlafsack der Schlafkabine. Dieser gefühlt wie ein Bratschlauch in einem Gefrierfach.
Schlotternd und mit aufgerauter Stimme stolperte ich am nächsten Morgen ans Handy, um mich an Anteks ausgelassener Stimme zu wärmen.

„Moin. Hast du verschlafen? Hörst dich ja ziemlich erkältet an.“

Ich räusperte mich und versuchte mich durch die zugefrorene Heckscheibe irgendwie am Sonnenstand in der Tageszeit zu orientieren.
„Schon gut. Ich habe mir nur die halbe Nacht den Arsch abgefroren.“

„Haste ihn denn wiedergefunden?“

„Ja. Eben habe ich ihn noch irgendwo in der Nähe des Beifahrersitzes gesehen.“

Anteks Stimme wechselte sekündlich von anfänglicher Heiterkeit zu Empörung.
„Sag jetzt nicht, du haust bei dem Frost noch im Wohnwagen.“

Begleitet mit einem lauten Fluchen stieß ich bei der Suche nach dem Wasserkocher recht unsanft mit meinem Kopf gegen den Vorsprung eines Deckeneinbauschranks. Mein Köper lechzte nach etwas Wärmenden und so hatte ich keine Lust zu lamentieren.
„Alter- was willst du?“

Antek zögerte einen Moment, bevor er mich mit einem Redeschwall zudeckte. Mit einem leichten Anflug von Stolz vermeldete er die Anmietung eines neuen Ateliers, in welchem er seinen Traum der Einheit von Leben und Arbeiten nunmehr Wirklichkeit einzuhauchen gedachte.
Der Kaffee war mir ausgegangen und so blieb mir nichts anderes übrig, als das mittlerweile siedende Nass aus dem Wasserkocher mit einem Rest Gemüsebrühe zu verfeinern, den ich wahllos aus einem Glas kratzte. Nach dem ersten wohlig warmen Schauer erreichten mich die Geschmacksnuancen des Gebräus mit der Intensität, wie es wohl ansonsten nur bei einer Kampfmittelausbildung der Bundeswehr anzutreffen war. Antek stockte in seiner Aufzählung, als ich angewidert und mit einem lauten Aufstoßen die Hälfte des Suds in den Ausguss schüttete.
„Hört sich ja nicht gerade gut an! Da wäre sowieso noch eine andere Sache. Habe gerade eine Auftragsarbeit zum Themenschwerpunkt `Körper und Geist´ eingefahren und wollte dich fragen, ob du mich da unterstützen könntest.“

Ich stutzte und Antek nutzte mein gedehntes „Äh…“, um auszuholen.
„Meine Agentin meinte, dass ich dazu vielleicht wertvolle Anregungen und Motive in einem Club sammeln sollte. Und da du und deine Ex ja nun mal öfters…“;

Antek stockte, als er mein gequältes Aufstöhnen durch das Telefon vernahm und ihm das sichtlich schlechte Timing seines Aktionsplans klar wurde. Um die Situation zu retten, setzte Antek von neuem an.
„Ach, egal. Wenn du dir ohnehin den Hintern abfrierst, komme doch auf einen Kaffee vorbei. Egal wann.“

„In Ordnung. Wenn bei dir Heizung und Kaffeemaschine laufen, dann bin ich in gut zehn Minuten da.“

Fantasien bedeuten Hochgeschwindigkeit und geraten allzu oft in den Richtungspuren des Möglichen ins Schleudern. So manche Fantasie verdient eher die Geborgenheit in den Tiefen der Seele, als dass sie denn hieraus hervorgezerrt wird, um an den Marterpfählen der Originalität und der Bedeutungshoheit des Möglichen geschändet zu werden.

Antek war dann zu sehr weitreichenden Konzessionen bereit. Ohne Murren akzeptierte er meine Bedingung, nur einen Club aufzusuchen, wo das Risiko nahezu gen Null ging, unerwünscht auf bekannte Gesichter zu treffen. Anteks Agentin engagierte sogar noch eine junge Kollegin, die zuweilen ohne tiefere Ambitionen als Gelegenheitsaktmodell agierte und sich -nach den Beteuerungen der Agentin- für das Projekt zu begeistern schien.
Unsicher wirkte sie dann doch, als ich mein Turiner Kleeblatt am vereinbarten Treffpunkt auf dem Randstreifen abstellte und Antek ausstieg, um ihr die Tür zu öffnen. Durch die geöffnete Tür vernahm ich zunächst eine sehr herzliche Begrüßung der beiden und dann ein sichtlich erleichtertes:
„Hallo, ich bin Leah.“

Auf meine nicht ohne Bewunderung ausgesprochene Begrüßung :
„Komm, steig ein. Toll siehst du aus!“,

blitzte ein Lächeln in ihrem Gesicht auf, welches die Atmosphäre sichtlich entspannte und den Rest der Anfahrt in eine anregende und gelöste Unterhaltung tauchte.
Der Club erfüllte dann das, was die Internetpräsentation versprach. Für unser Dreiergespann war allein aus den vordergründigen künstlerischen Ambitionen heraus die Führung durch die verschiedenen Landschaften und Szenerien obligatorisch. Leahs Offenheit und Neugier war ansteckend und Anteks anfängliche Reserviertheit trat zunehmend in den Hintergrund.
Bevor sie sich versahen, fanden sich Antek und Leah inmitten eines Stutenmarktes wieder. Antek genoss seine Rolle als erklärter Platzhirsch sichtlich, so wie sich auch seine anfängliche Angespanntheit zusehends löste. Im gleichen Maße sonnte sich Leah im Hagelschauer der Gebote. Welche ich mit einem Augenzwinkern mehrfach mit Spaßgeboten anfachte, sodass Leah Mühe hatte, ihr Kichern zu unterdrücken.
Zeit und Zeichen, mich zurückzuziehen…

Der Dungeon war gut frequentiert. Im Halbrund standen bereits mehrere Zuschauer im Dunstkreis eines Strafbocks und folgten der Unterweisung einer Bottom. Mir war es angesichts der noch präsenten Erinnerung an diverse Clubabende mit meiner Ex zuwider, mich in den Halbkreis der zum Teil Onanierenden einzureihen. Und so setzte ich mich auf ein abseitiges Ledersofa, um der Zweisprache von bullwhip und Lustschreien mit einem gut gefüllten Glas Malt zu folgen. Ein ständiger Wechsel von Flogger, Reitgerte und bullwhip ließ mich zusehends in meine Gedankenwelt eintauchen. Schlagzeilen flankierten meine gedankliche Suche nach irgendwo tief in mir verborgenen Rachegelüsten, welche ich womöglich noch abzuarbeiten hatte.

Nach schier unbestimmbarer Zeit schreckte ich aus meinen Gedanken, als mir ein Nachgeben der Sitzfläche Gesellschaft auf dem Sofa signalisierte. Ein Seitenblick erübrigte sich. Strömte mir doch der Duft entgegen, welcher bereits auf der Hinfahrt meinen Wagen durchströmte. Ohne den Blick von der Szenerie abzuwenden, flüsterte ich ihr zu:
„Alles klar?“

Sie kicherte los und deckte mich mit einem Redeschwall zu. Allem Anschein nach schien Antek in besten Händen zu sein und Leah genoss die schaurige Dunkelheit sichtlich, um selbst ein wenig herunterzufahren. Eine gewisse Genugtuung breitete sich aus, als ich ihr vermittelte, dass es gut war und Antek eine schwere Zeit hinter sich hatte.
Sie nickte und musterte mich.
„Wenn ich das richtig verstanden habe, war für dich die letzte Zeit ja auch nicht gerade einfach.“

Meinen aufkommenden Unmut über Anteks Geschwätzigkeit versuchte ich mit einem Achselzucken herunterzuwürgen.
Mit einer gewissen Faszination wechselte ihr Blick zwischen dem Geschehen am Strafbock und meiner schweigenden Reaktion. Ohne ihr den Blick zuzuwenden spürte ich, dass sie mich musterte.
„Weswegen bist du denn hier?“

Zögerlich neigte ich ihr meinen Kopf zu.
„Manchmal genügt der Anblick neuer Wunden, um alte Wunden vernarben zu lassen.“

Sie stutze für einen Augenblick.
„Das hast du jetzt wohl falsch verstanden. Ich meinte: Weshalb bist du hier im Club, wenn du offensichtlich keinen Sex haben willst.“

Ihr prüfender Blick offenbarte eine Erwartungshaltung, die eine Antwort irgendwo zwischen peinlichem Humor und entlarvender Larmoyanz zu erwarten schien. Nur eine weitere Erzählung im Glockenspiel des Narrativen dürfte da wohl kaum reichen. Und so drehte ich mich demonstrativ zu ihr hin und erwiderte mit bestimmender Miene:
„Na ja: Unsere Verabredung…“;

Mittel und Zweck meines Vorstoßes lösten wie erwartet eine Reaktion aus wie bei einer polizeilichen Gegenüberstellung. Ihr Blick wechselte von einem angestrengt interessiert zu einem großen Fragezeichen, welches sich über den ganzen Raum auszubreiten schien. Sie zögerte für einen Moment zwischen empörten Aufspringen und amüsierten Nachhaken.
„Also Moment mal- war das ohne mein Wissen irgendwie inszeniert oder hat dich das irgendwie überrascht?“

„Offen gesagt: Bis eben habe ich das auch noch nicht gewusst.“
Dort, wo noch vor Sekunden ein aufkeimendes Entrüsten sich auszudehnen schien, breitete sich nunmehr ein Lächeln aus. Wir folgten auf dem Sofa der weiteren Unterweisung der Sub, während sich unsere Hände kreuzten. Auch wenn es im Angesicht des Andreaskreuzes irgendwie albern ausgesehen haben mag…

Es dauert seine Zeit, bis ich den Druckminderer an den Propangasflaschen wieder gangbar bekomme. Und ich verschwende den halben Vormittag, um meine Sachen im Pendelverkehr zwischen Wohnwagen und dem Kofferraum meines Kombis zusammen zukramen. Als gegen Mittag der Stellplatznachbar beginnt, den halben Campingplatz mit volksdümmlicher Musik zu beschallen, beschließe ich, meine Siesta an der wegabgewandten Wohnwagenrückseite mit einer Nacktsonneneinheit abzurunden. Würdig unterlegt mit Frankenchrist von den Dead Kennedys und einer Reclamausgabe von Büchners „Dantons Tod“. Letztere an für sich nur zu dem Zweck, meinen bloßen Unterleib beim Dösen in der Sonne vor allzu neugierigen Blicken abzuschirmen.
Die Dead Kennedys- CD war wohl bereits seit längerem durchgelaufen, als mich ein Schattenwurf über meinem dröhnenden Schädel aufschrecken lässt. Ein erster tiefer Luftzug im gleißenden Gegenlicht der Nachmittagssonne vergewissert mich, dass sie nach wie vor dasselbe Parfum verwendet, welches sich noch über Wochen im Alfa und meinem Gedächtnis hielt.
Leahs Hand streicht vorsichtig über mein Gesicht und ihr neugieriger Blick wechselt nahtlos in ein lautes Kichern, als „Dantons Tod“ den Gesetzen der Schwerkraft folgt.
„Du lässt es dir aber so richtig gut gehen heute, oder?“

Ich ziehe sie auf meinen Schoß und stütze ihren Rücken mit meinen Armen ab.
„Nun- das kommt darauf an: Je nachdem, was darauf noch kommt.“

Sie entscheidet instinktiv, nicht sofort zu antworten, sondern deckt mich mit einem eindeutigen und fordernden Lächeln zu. Nach einer Kunstpause biete ich ihr zunächst etwas zu trinken an und ernte ein hektisches und zugleich zufriedenes Kopfnicken. Die Reclamausgabe bietet nur unzureichenden Sichtschutz und so trolle ich mich zügig in den Wohnwagen.
Wir tauschen uns durch das geöffnete Heckfenster aus, während ich kubanischen Rum mit reichlich Wasser in Longdrinkgläser fülle und mit hastig aus dem Eisfach zusammengekratzten Eiswürfeln auffrische. Sie erzählt mit lebhafter Stimme, dass es einige Mühe kostete, Antek meinen Aufenthaltsort zu entlocken. Und es sich noch schwieriger gestaltete, den Standplatz meines Wohnwagens aufzuspüren.
Meine Frage nach der Intention ihres Aufwandes verhallt urplötzlich irgendwo im Unterholz hinter der Heckscheibe.

Bevor ich mit den Longdrinkgläsern aus dem Wohnwagen sprinten kann, steht sie bereits in der Seitentür.
„Wenn du mich halten willst, musst du mich fesseln. Und wenn du mich fesseln willst, reicht es nicht, mich zu halten.“

Ein Lachen spritzt mir regelrecht entgegen, als ich sie in den Wohnwagen hineinzerre und die Tür zuwerfe. Ein kurzer Moment des zögerlichen Abtastens der Blicke nur, bis sich unser heißer Atem begegnet.
Ich umklammere ihre Arme, um diese dann mit dem Sisalseil in einem Spiralknoten zu verflechten und am Haltedollen der oberen Dachluke zu fixieren. Mit einem Zufallsgriff öffne ich exakt das Seitenfach, in welchem die Frischhaltefolie verstaut war. Während ich die Rolle mit den Zähnen aufreiße, vergewissere ich mich beim Öffnen ihres Sommerkleides, das sie beim Aufbruch zu meinem rollenden Refugium an jeglicher Unterbekleidung gespart hatte. Regungslos lässt sie es geschehen, als ich ihren Torso vollends mit der Frischhaltefolie straff einwickele. Nur ihre erregten Brustwarzen vermitteln einen leichten Widerstand, während sich Bahn um Bahn um ihren Leib windet. Als ich sie zu mir drehe, versucht sie in einer leichten Streckung, meine Lippen mit ihrem Mund zu erreichen.
Ich ziehe etwas zurück und lege einen Finger behutsam auf ihren Mund.
„Spare dir die Küsse auf! Nicht so viel atmen. Deine Respiration erfolgt momentan nur über das Atmen.“
Die Anspannung ihres Körpers löst sich allmählich unter meinen suchenden Händen und sie übt sich im regungslosen Atmen in Schwerelosigkeit…

So war und ist das halt mit Leah.

©Einar_VonPhylen 170620
**********hylen Mann
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Elfenscheiße (5. Abteilung)
Allzu oft erklären sich die Dinge nicht mit deren Bedeutungen, sondern allenfalls durch den Blickwinkel. Das Schräge gewinnt an Normalität, wenn man sich an die Schieflage gewöhnt hat.

Der Treppenaufgang des Gerichtsgebäudes vermittelt diese Weitläufigkeit irgendwo zwischen wilhelminischer Strenge und den Lichtspielen gotischer Kathedralen. Ich bin- entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten- früh dran und postiere mich am Ende des Flurs vor einem klassizistischen Fensterbogen, welcher das Licht eines keimenden Frühlings aus vollen Kannen in den düsteren Flur spült. Ihren Anwalt erkenne ich bereits von weitem auf dem entgegengesetzten Flurstück. So verstohlen, wie er mich aus dem Augenwinkel mustert, verströmt er eine beruhigende Lächerlichkeit. Mich wundert nur, dass sie noch nicht da ist. Wo meine Ex doch ansonsten immer überpünktlich ist.

Der ellenlange Terminzettel am Saaleingang vermittelt den Eindruck, dass nahezu jede dritte Ehe in Deutschland exakt in diesem Raum geschieden wird. Aus dem Vestibül zischt dieses obligate geschäftige Rauschen in den Flur, welches man so von diesen öffentlichen Bauten gewohnt ist. Durchbrochen nur von periodisch aufspringenden Türen, die regelmäßig namenlose Bedienstete ausspucken. Diese mit Wasser- oder Getränkekannen von einer Seite des Flurs zur anderen wechselnd, um dann schlüsselklappernd am entgegengesetzten Ende von anderen Türen verschluckt zu werden. Eine groteske Szenerie. Erinnert ein wenig an ein inszeniertes Szenario eines Stücks von Ionesco oder Beckett. Und so langsam fängt die Sache an, mir Spaß zu machen.
Ein Gerichtsbediensteter trottet nach einer gefühlten Viertelstunde mit einer Geschwindigkeit zum Sitzungssaal, in der man ihm beim Laufen die Schuhe besohlen könnte und schließt den Saal auf. Der Saal wiederum verschluckt den Urkundsbeamten und danach den Gegenanwalt.

Unschlüssig wirkt meine Ex, als sie sichtlich gehetzt auf dem Treppenabsatz abrupt innehält und den Blick kreisen lässt. Für meinen Geschmack fast schon ein paar Sekunden zu lange blickt sie mich an und versucht irgendeinen Ausdruck in meinem Gesicht zu finden, bevor sie in den Gerichtsaal stürmt. Keine Spur von meiner Anwältin.

Mein suchender Blick verirrt sich im weitläufigen Treppenaufgang, bevor mich ein Schatten neben mir aufmerken lässt. Die Aura meiner Ex siedelt nur eine Handbreit vor meinem Dunstkreis und erinnert mich an die Zerbrechlichkeit dieses Elfenwesens, welches mich vormals über Jahre elektrisierte. Diese Zerbrechlichkeit, die sie ausstrahlte, wenn sie nicht ganz bei sich zu sein schien. An für sich war das die meiste Zeit der Fall. Was irgendwie fehlt, ist dieses Glänzen von Elfenstaub in den Augen. Und so verlieren wir uns in eines dieser so typischen Gespräche, die irgendwie eingepackt sind wie in Schaumstoff. Alles unterlegt mit gedämpfter Stimme.
Für einen Sekundenbruchteil, so scheint es, gerät ihr ansonsten eher verkrampfter Körper in eine leicht pendelnde Bewegung. Ein Zucken, ja Aufbäumen scheint ihren Körper zu durchlaufen. Eine Umarmung spart sich indes gerade so im letzten Moment weg. Unsicher wirkt sie. Wie eine Elfe, die in diesem Meer von Steinen versucht, irgendwie Deckung hinter Bäumen zu finden. Ihre rotgeäderten Augen verraten, dass sie in der Nacht wohl kaum ein Auge zugetan hat. Sie weiß, dass es um ihre Sache nicht gut steht. Soviel hatte mir schon meine Anwältin gesteckt.

Gewechselte Worte münden in Sprechakte ohne Gehalt. Und mir scheint, dass es offensichtlich keinen besseren Ort zu geben scheint als diese Gerichtsszenerie, um die Leere und Perspektivlosigkeit der vormaligen Gemeinsamkeit zu manifestieren. Meine Ex beantwortet die fehlende Feindseligkeit in meiner Mimik mit einem fast mechanischen Lächeln und scheint sich ein wenig zu fangen. Immerhin- schon zu viele Erinnerungen hatte ich auf unzähligen nächtlichen Autobahnfahrten der letzten Monate in Leichensäcke verstaut und achtlos aus dem Wagenfenster geworfen.

Meine Anwältin stampft mir mit leicht verkniffenen Mundwinkeln regelrecht entgegen. Für einen allzu überschwänglichen Gruß ist offenbar keine Zeit. Eine kurze Umarmung, dann zwinkert sie mir zu.
„Du hast Glück. Ich habe heute schlechte Laune. Dann wollen wir mal.“

Es fällt mir schwer, dem monotonen Geschwafel der Richterin mit den Anwälten längere Zeit zu folgen. So, wie die Familienrichterin mich wegen der schwierigen Zustellung von Gerichtspost in meinen Wohnwagen maßregelt, scheinen die Rollen meinem ersten Eindruck nach verteilt zu sein. Mann böse, Frau Opfer. Was wohl bei vielen Fällen, die da nach jahrelanger Erfahrung einer Familienrichterin so untergekommen sein mögen, auch seine Berechtigung zu haben schien. Bevor sich dieses Bild zu verfestigen scheint, fällt meine Anwältin dann der Richterin brüsk ins Wort und führt wortreich aus, dass ich über ein halbes Jahr in einem Wohnwagen gastierte, während mein Gegenüber mit ihrem neuen Lebensgefährten in Reihenhausromantik residierte.
Meine Anwältin lebt eine Präsenz aus, die selbst die Richterin beeindruckt. Irgendwo zwischen dieser pathetischen Abgeklärtheit Samuel Jacksons in der Anfangsszene von Pulp Fiktion und der Sachlichkeit einer Handwerkerin, die zum abertausendsten Mal denselben Handgriff tätigt.
Erst nach Wochen nahm ich seinerzeit Kontakt zu meiner ehemaligen Mitabiturientin auf, die ich das letzte Mal fast eine Dekade vorher auf einem Ehemaligentreffen wiedersah. Schien sie doch ihren bereits zu Abiturzeiten bestehenden Ruf, anstelle von Haaren Stacheldraht auf den Zähnen zu haben, in ihrem Anwältinnentagwerk kultiviert zu haben. Sie zögerte zunächst, als ich sie auf Empfehlung eines befreundeten Juristen nach wochenlangem Zaudern anrief.
„Du weißt aber, dass ich als Feministin an für sich nur Frauen vertrete, oder? Aber lass mal hören…“;

Ich lehne mich zurück und lasse die Dinge laufen, während dessen ich meine Blicke abwechselnd zwischen meinem Gegenüber, der Richterin und der Saaldecke wandern lasse.
Meine treibenden Gedanken werden nur kurz durchbrochen, als die Mitabiturientin vorsichtig an meine Hand tippt. Erst auf zweites Nachfragen der Richterin winke ich ab. Wozu zurück in diese drangvolle Enge eines Reihenhauses. Inhaltsleeres Gerede in Hausfluren begegnete zulange der Sehnsucht nach Essentialität. Die oberflächliche Grazilität eines linearen Lebensentwurfs nahm die Konturen von Elfenscheiße an. Schöne Verpackung und doch nur ein Schattenwurf. Durchtränkt von Jugendherbergscharme und kasernierter Heimatfilmromantik irgendwo zwischen Aufsitzrasenmähern und Ehestreitigkeiten. Scheinbar Festgefügtes, vielleicht auch die Macht der Gewohnheit verwandelte sich in eine Art gallertartige Substanz von mühevoller Toleranz und sich ausbreitendem Schweigen. Und warf mich in ein erschreckendes Daseinskonzept und dem gelebten Alptraum von Bürgerlichkeit. Es gibt halt kein richtiges Leben im Falschen, da hatte der alte Mann aus Frankfurt Recht.

Endlichkeit verkörpert sich nicht allein durch diese unsichtbare Grenze, die dann wohl jeder einmal überqueren muss. Gespeist aus diesen Quellen des Unerklärlichen formen sich die Schnitte und Schritte auf den Laufbändern des Jetztzeitigen, ob nun dem Einfluss eigener Füße unterworfen oder von fremder, unsichtbarer Hand geführt.
Ein Schluss, der dann auf leisen Sohlen kommt.
Ich schrecke auf, als ich aus dem Augenwinkel mein Gegenüber beinahe hektisch aus dem Gerichtssaal eilen sehe. Nur mühsam begleitet durch ihren Anwalt. Sichtlich zufrieden nickt mir meine Mitabiturientin zu und ich habe Mühe zu verbergen, dass mir das Ergebnis dieses Vorgangs im Endeffekt gleich war.

Leah springt von der Sitzbank am Saaleingang auf und versucht, mich mit einem Ausdruck von Zuversicht zuzudecken. Entgegen meines Wunsches wollte sie es nicht mehr im Auto aushalten. Obwohl wir ausgemacht hatten, dass sie mich allenfalls nach dem Termin zu einem Gebrauchtwagenhändler begleitet. Es galt, alte Zöpfe abzutrennen und dieser Tag schien prädestiniert dafür zu sein, auch das so ziemlich Letzte des alten Lebens ziehen zu lassen.
Abschiede sind oftmals Treppenabsätze, die eben nicht automatisch im luftleeren Raum eines Nichts versacken. Ich war erstaunt, wie viel man noch bereit war, für meinen Alfa auf den Tisch zu legen. Mein Umfeld, ja selbst Leah reagierten zunächst mit Unverständnis über meinen Entschluss, den treuen Begleiter unzähliger Entfernungskilometer abzustoßen. Es galt halt, andere Geschwindigkeiten auszuloten, bevor man in einen endlosen Kreisverkehr gerät.
Leah musterte mich von der Seite, als das Turiner Kleeblatt vor meinen wehmütigen Augen in die Waschhalle des Autohändlers rollte. Ihre Hand schnellte für ein kurzes Moment nach vorne und zuckte doch dann vor kurz vor meinem Gesicht zurück, um sich in ihrem mit einem leichten Ausdruck des Entsetzens gezeichneten Gesicht zu vergraben.
Ich versuche, diesen wohl ursächlichen Ausdruck von Traurigkeit in meiner Miene mit einem Achselzucken wegzudrücken und lächele sie augenzwinkernd an.
„Ich habe Durst.“

Zunächst leicht unschlüssig stemmt Leah ihre Fäuste in die Hüften, neigt dann ihren Kopf prüfend zur Seite, um aus einem Stoßseufzer heraus dieses so quirlige Lächeln auszuschütten.
„ Okay- ich bin dabei. Worauf hast du Lust?“

Ich lasse mein Auge wandern, welches sich in der windzerzausten Beflaggung an der Grundstücksgrenze des Autohandels verfängt. Licht, Luft und das Azur des Himmels lassen mich tief einatmen, bevor mein Blick sich ihr wieder zuwendet.
„Auf alles, was fließt…“

©Einar_VonPhylen 200620
Me 2
*********ld63 Frau
8.541 Beiträge
Wow! Die Dynamik in diesem Teil ist furios! *wow*
Gefällt mir sehr, wie malerisch du die Atmosphäre im Gericht eingefangen hast.

Danke für diese Inspiration, @**********hylen! *top*
Wieder einmal: Kompliment, mein Lieber!

Doch möchte ich - ganz nebenbei - Dein Augenmerk auf das Wörtchen 'irgendwie' lenken, dass mir gefühlt irgendwie zu oft erscheint, in manchen Absätzen *zwinker*
red
*******tee Frau
7.203 Beiträge
Zitat von **********hylen:

Allzu oft erklären sich die Dinge nicht mit deren Bedeutungen, sondern allenfalls durch den Blickwinkel. Das Schräge gewinnt an Normalität, wenn man sich an die Schieflage gewöhnt hat.

Der Treppenaufgang des Gerichtsgebäudes vermittelt diese Weitläufigkeit irgendwo zwischen wilhelminischer Strenge und den Lichtspielen gotischer Kathedralen. Ich bin- entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten- früh dran und postiere mich am Ende des Flurs vor einem klassizistischen Fensterbogen, welcher das Licht eines keimenden Frühlings aus vollen Kannen in den düsteren Flur spült. Ihren Anwalt erkenne ich bereits von weitem auf dem entgegengesetzten Flurstück.
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mit ihrem neuen Lebensgefährten in Reihenhausromantik residierte.
.....

Wozu zurück in diese drangvolle Enge eines Reihenhauses. Inhaltsleeres Gerede in Hausfluren begegnete zulange der Sehnsucht nach Essentialität. Die oberflächliche Grazilität eines linearen Lebensentwurfs nahm die Konturen von Elfenscheiße an. Schöne Verpackung und doch nur ein Schattenwurf. Durchtränkt von Jugendherbergscharme und kasernierter Heimatfilmromantik irgendwo zwischen Aufsitzrasenmähern und Ehestreitigkeiten.Scheinbar Festgefügtes, vielleicht auch die Macht der Gewohnheit verwandelte sich in eine Art gallertartige Substanz von mühevoller Toleranz und sich ausbreitendem Schweigen. Und warf mich in ein erschreckendes Daseinskonzept und dem gelebten Alptraum von Bürgerlichkeit. Es gibt halt kein richtiges Leben im Falschen, da hatte der alte Mann aus Frankfurt Recht.
.....

erschreckendes Daseinskonzept und dem gelebten Alptraum von Bürgerlichkeit.

*sorry* , das ich jetzt den halben Text zitiere, aber ich bin begeistert wie du mir praktisch aus der Seele sprichst, als ob du mich zu Studienzeiten gekannt hättest... damals als halb-Flower-Power Architektur-Studentin waren mir Reihenhäuser zuwieder und es hat sich nicht geändert bis heute. "Reihenhausromantik" Wunderbar *love* ich liebe dieses Wort dem Mann im Normalfall nicht erkennt wie zynisch das gemeint ist, Mann/Frau muss genau den Ton hören oder ihn sich zwischen den Zeilen erspüren um den Zynismus zu spüren.

Insgesamt, zu deiner Geschichte und speziell zu diesem Abschnitt, kann ich nur sagen, *wow* welch eindrückliche Szenarien zauberst du uns in unseren Kopf *love*

Danke *herz*
**********hylen Mann
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Themenersteller 
Das Herz in der Finsternis (6. Abteilung)
Kein Wort und doch so viele Zeichen.

Wieder mal zulange im Feierabendverkehr steckengeblieben. Die letzten Querstraßen bis zur Wohnung sind durchsetzt vom minütlichen Blick zur Uhr. Ich würde ohnehin zu spät zur Ausstellung kommen, die Leah als Kuratorin über Wochen vorbereitet hatte. Ampeln verschworen sich mit Kombifahrern in hassverzerrten Camp-David-Outfits allein nur zu dem Zweck, mich in einen Orkus von hilfloser Wut zu katapultieren.
Die ewige Parkplatzsuche vor dem Haus war da noch gar nicht eingerechnet, als ich mich entscheide, Leah kurz vor Ausstellungseröffnung notgedrungen eine Nachricht zu schicken. Die obligaten Ausflüchte- ausgeschmückt mit Querulanten in der Agentur, versagender Autoelektrik, Mobilitätssaboteuren, womöglich herrenlosen Einhörnern und allen weiteren Fabelwesen, welche den Alltag so kompromisslos bevölkern.
Kein Problem, lässt mich Leah wissen. Die Ausstellung scheint –trotz des nach Auffassung Leahs wenig überzeugenden Audits- gut besucht und sie hat alle Hände voll zu tun. Mein „Ich komme so schnell wie möglich nach“,
beantwortet sie mit einem
„Es reicht, wenn du mich später abholst“.

Bemerkenswert, diese Toleranz. War ich doch bereits eine halbe Stunde über die Zeit. Wie so oft. Leah hatte sich nach diesen fünf Monaten des Tandemdaseins erstaunlich gut auf meine Unzulänglichkeiten eingestellt. Unser Deal seinerzeit war schon eindeutig: Wir akzeptieren die Wirklichkeit des Überganges. Zu viel Nähe schafft Distanz.

Als ich nach drei Treppenaufgängen keuchend in die Wohnung hereinstolpere, reicht es in der Hektik nur für einen kurzen Blick in die Küche, in der lediglich Antek das Zepter schwang. Es ist dieser seltsame Blick Anteks, welcher mich kurz stutzen lässt. Anteks Miene scheint mir irgendetwas vermitteln zu wollen und doch zu zögern. Das leicht gequälte Lächeln verströmt eine latente Unsicherheit, die Antek immer irgendwie mit diesem ausdruckslosen Blick kaschiert, wenn er sich einmal mehr an einer seiner Installationen gescheitert glaubte.
Auf den ersten Blick schien also alles normal. Weswegen ich dann auch zielstrebig durch den Flur zu meinem Zimmer stürme. Ohne mir weitere Gedanken darüber zu machen, weswegen Antek mir einen besorgten Gesichtsausdruck von der Küchentür aus hinterher schickt.

Wie so oft in den letzten Wochen stoße ich die Zimmertür mit zu viel Schwung auf, sodass diese einmal mehr mit einem lauten Scheppern an das längsseitig aufgestellte Highboard prallt. Worin ich unter anderem auch die Kiste mit den gesammelten Versteinerungen und Bildern von genauso versteinerten Augenblicken und Gesichtern aufbewahrte. Die Jalousie war heruntergezogen und abgeblendet. Sodass ich beim Hereinstürmen in das Zimmer zunächst nur instinktiv wahrnehme, dass irgendetwas an der räumlichen Konzeption anders erscheint.
Bevor sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnen, zeichnet sich mittig auf dem vor dem Weg zum Balkon ausgerollten Teppich eine Kontur von einem Etwas ab. Halte ich es aufgrund der Regungslosigkeit zunächst für eine kurzzeitig zwischengelagerte Skulptur Zadeqs, so strömt in dem Moment, als ich mein Sakko flüchtig auf das Bett werfe, ein Minimalismus von Leben von diesem Etwas aus.

Durch die verkrampfte Haltung ihrer atypisch nach oben gedrehten Handflächen und dem gesenkten Haupt vermag ich zunächst nur die Konturen eines Frauentorsos zu erkennen. Die Annahme, dass es sich wieder um einen miserablen Scherz Zadeqs handeln dürfte, zerstreut sich augenblicklich, als sie ihren Kopf anhebt und mir einen zunächst scheuen, aber auch trotzig wirkenden Blick zuwirft.

Nach dem ersten abrupten Stopp vor meinem Bett mache ich nunmehr zwei Schritte nach vorne und blicke in die mattglänzenden Augen der …
Fragenden.
Die hohlen und angestrengt verzerrten Wangen verraten, dass nahezu ihr gesamtes Gesicht zur Regungslosigkeit verdammt, ja regelrecht festgefroren ist. Ein breiter Streifen Gewebeband überzieht diese Linie, wo ansonsten nicht mit Lippenstift gespart wurde.
Im Lichtschein des ins Zimmer rieselnden Flurlichts vermag ich auszumachen, dass sich in ihren blanken Füßen schon ein Blutstau gebildet hat, welcher sie gleich einem Spiralfutomomo regelrecht auf dem Teppich festzunageln scheint. Mir wird sofort bewusst, dass sie es aus eigener Kraft kaum schaffen dürfte, sich aufzurichten. Musste sie doch wohl seit mindestens einer halben Stunde in dieser verkrampften Hockstellung ausgeharrt haben.

Ihre konzentrisch um ihren bloßen Körper angeordnete Kleidung gleicht einer einstudierten Proklamation. Vermittelt die Komposition doch die Aura einer geöffneten Blüte. Irgendwie, als wenn das Innerste zum Äußersten umgekrempelt wird. Die Abfolge der im Halbkreis abgeworfenen Kleidungstücke ist nicht willkürlich gewählt und wird von einer Art Domaring eingefasst.
Dieser Steinkreis sammelt als äußerer Ring nahezu sämtliche Ammoniten, Trilobiten und alle anderen Relikte aus der Kreidezeit, welche sich in meiner vergleichsweise doch so lächerlich kurzen Lebenszeit in meinem Dunstkreis verloren. Sogar die aus diesem bescheuerten Südseetrip vor drei Jahren mitgebrachten Kaurimuscheln komplettieren diesen Bannkreis. Als wenn es darum geht, die subtile Energie der Fragenden in diesem Steinkreis zu bündeln und gefangen zu halten.

Sie neigt den Kopf tiefer, als ich den Bannkreis aus Kleidern und Steinen durchschreite. Erst mit einem kräftigeren Zug an ihrem Haarschopf gelingt es mir, ihre fast störrisch wirkende Haltung aufzulösen und einen Blick in ihr Gesicht zu werfen.
Auf ihrer Stirn ist mit rotem Lippenstift ein kreisförmiges Gebilde aufgetragen, welches von einem zittrigen Schriftzug in Spiegelschrift überlagert war: PERMITIMI…
Der verzerrte Gesichtsausdruck und der verlaufene Lidschatten offenbaren mir, dass ihre Anspannung und die Tränen nicht vorgetäuscht sind.

Ein Mysterium zunächst, welches aufzulösen war. Ein leichtes Stöhnen nur aus einer unergründlichen Tiefe ihres Leibes, als ich ihren Körper mit einiger Mühe aus der Krampfhaltung löse und sie vorsichtig auf das Bett ablege.
Die deutlich hervortretenden Venen an ihren Fesseln und den Unterschenkeln offenbaren mir, dass Sie kurz vor einem Wadenkrampf steht. Und es dauert einige Minuten, um ihre Beine aus der unnatürlichen Hockstellung heraus wieder zu einer Streckung zu massieren.
Als ich ihre verkrampften Schenkel mithilfe ihres Seidentuchs vorsichtig an der Kopfseite des Betts festschnüre, fällt mein Blick auf einen Schriftzug oberhalb meines Betts. Geschrieben mit demselben roten Lippenstift, der bereits ein Credo auf ihre Stirn bannte.

„Neigst du dich mir zu, reiße ich gleichzeitig Mauern nieder und baue dir Brücken aus Licht.“

Die harten Serifen an den Wortenden vermitteln zugleich tiefe Entschlossenheit und doch zittrige Erwartung. Mein ernster werdender Blick wandert wieder zu ihren Augen und scheint sie zu erregen. Zeichnen sich doch auf ihren ebenfalls mit dem Klebeband kaschierten Brüsten zusehends die Konturen ihrer Papillen ab.

Kein Wort durchdringt das Halbdunkel des Raums. Lediglich ihre unsteten Augen wandern lebhaft wie ein Bienenschwarm zu den meinigen, den auf ihrem Körper wandernden Händen und der Zimmerdecke hin und her.
Es scheint alles ganz leicht.
Meine Hände verirren und verlieren sich…

Als ich die Zimmertür von außen schließe, vernehme ich ihre gleichmäßigen und langsamer werdenden Atemzüge. Es dauert einige Momente, in welchen sich meine Sinne von der rätselhaften Klausur der letzten Stunde lösen. Mit dem gleißenden Lichtstrahl, der durch das Oberlicht im Wohnungsflur rieselt, mischen sich zusehends die Alltagsgeräusche von der nahegelegenen Hauptverkehrsstraße mit dem Klappern von Geschirr aus der Küche.

Antek scheint sich in der Küche geborgen zu fühlen. Er blickt nur kurz auf, als ich die Türschwelle zur Küche überquere und konstatiert meinen ratlosen Gesichtsausdruck mit einem Zucken der Augenbrauen. Ich flegele mich auf einen der Küchenstühle und nehme aus der auf dem Tisch stehenden Wasserflasche einen tiefen Zug. Auch wenn er sich scheinbar voll und ganz auf den Abwasch zu konzentrieren scheint, nehme ich Anteks verstohlene Seitenblicke wahr.
Nach einer Kunstpause holt er Luft, neigt den Kopf nach oben und scheint eher zur Zimmerdecke zu sprechen.
„Nur zum Verständnis. Damit ich mich darauf einstellen kann. War das irgendwie bestellt oder vielleicht arrangiert?“

Anteks Kopf schnellt herum und fokussiert mich. Sein prüfender Blick nistet für einen Moment in meiner ratlosen Miene und löst dann bei ihm ein fast unmerkliches Kopfschütteln aus.
„Oh Mann. Ich weiß ja nicht, ob ich gerade mit dir tauschen möchte.“

©Einar_VonPhylen 260620
**********hylen Mann
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Klaustrophobie eines Regenbogens (7. Abteilung)
Für M
(möge deine kosmische Reise genau an zwei Sternen verweilen, zwischen denen du deine Seile kunstvoll spannen kannst. Treibe, verweile in einer Suspension von Ewigkeit, die sich jedem menschlichen Verstand verschließen mag…)


Wie schöpft man das sich brechende Licht des Begehrens greifbarer, als denn in der Klaustrophobie eines Regenbogens.

Zadeq prustet zunächst los, als er mich beim Auswaschen von Leahs Spitzenkimono im Badezimmer entdeckt.
„Was ist denn das für eine Sexualmoral heute? Ist das irgendwie ein neuer Fetisch, die Unterwäsche der Frauen zu waschen?“

Da ich mittlerweile um Zadeqs Vorliebe für den sinnbefreiten Diskurs wusste, zucke ich mit möglichst ausdrucksloser Miene nur kurz mit den Schultern und zwinkere ihm zu.
„Nun. Ein Fetisch bezieht sich definitionsgemäß grundsätzlich auf Dinge und nicht auf lebendes Material. Und: Ich halte es für selbstverständlich, die Spuren meiner selbst zu tilgen.“

Unschlüssig breitet Zadeq seine klebrigen Hände vor mir aus. Sein feister Gesichtsausruck weicht einem eher gequälten Lächeln. Zadeq hatte zur räumlichen Verstärkung und Verknüpfung seiner Triptychen Glasfaserverbundstoffe entdeckt und diese nunmehr großflächig auf einem meterhohen Gemäldezyklus eingesetzt. Dummerweise entpuppte sich diese Entdeckung einer für ihn revolutionären Perspektive als mittelschwere Sauerei, die sich über das Atelier in die angrenzenden Flur- und Badbereiche ausdehnte. Selbst die Wohnräume waren durchsetzt vom beißenden Geruch des erkaltenden Laminats und tauchte unser Habitat in eine Aura einer Chemiefabrik.

„Auf jeden Fall saust du mit deinen klebrigen Händen hier nicht das Waschbecken voll. GFK geht nicht so mir nichts dir nichts mit Seife weg. Sehe zu, dass du den Mist noch irgendwie mit Azeton wegbekommst, bevor das Laminat aushärtet!“
Zur Verstärkung meiner Absichten unterbreche ich den siedenden Waschgang und baue mich demonstrativ vor Zadeq auf. Sein Gesicht bekommt diese roten Flecken. Ein Zeichen von Verunsicherung, welches man eher selten bei ihm ausmachen konnte.

Er nickt kurz. Scheint er sich doch augenblicklich daran zu erinnern, was ich ihm vor Tagen von meinem Studentenjob bei der Windanlagenfertigung erzählte. Von den Laminierern mit diesen aufgequollenen Händen, diese regelrecht zersetzt und von Eiterpusteln verunstaltet vom ewigen Kratzen und Scheuern der millimeterkleinen Kunststoffpartikel.
Ich beschließe, meine Aufmerksamkeit wieder dem zarten Spitzengewebe zuzuwenden und Zadeq links liegen zu lassen, der daraufhin mit einem Achselzucken abdreht und das Weite sucht.
Irgendwie schien es mir wichtig. Wusste ich doch, wie sensibel Spitze auf Wachs reagiert. Auch mit einer gewissen Selbstverständlichkeit weiche ich diesen Hauch von Spitze in mit Alkohol versetztem, heißem Wasser ein. Gerade so, dass sich das Wachs löst und abstreifen lässt. Meine mittlerweile stark erröteten Hände sind der Preis für diese Ausflüge in die terra incognita des sinnlich Möglichen, vor allem wenn Leah ihre Tage hatte.

Ihr Unwohlsein, ja zum Teil unschuldige Unschlüssigkeit führte dann bei den verspielten Diskussionen regelmäßig zu diesen assoziativen Ausflügen in unsere Seelenwelten. Irgendwie suchte die Leidenschaft ein Korrektiv im möglichst Unmöglichen und der Verheißung des Wechselspiels von Hitze und Licht. Berührung in der Gewissheit von Schmerz sollte, ja musste sich messen im Perpendikel von Licht und Zeit. Und dem Schmelz der Hitze, die unablässig in unseren Augen loderte, wenngleich auch unsere Leiber sich dem versagen wollten.

Ihre Schenkel versuchten mit zunehmender Hitze des abglimmenden Kerzenstumpfs, die Spannung zu halten. Zunehmend zittrig und begleitet mit meinen skeptischen Blicken, die zwischen ihren Schenkeln einerseits und der zuckenden Flamme oberhalb ihrer Labien und diesem für mich unerklärlichen Flackern in ihren Augen andererseits hin und her wanderten. Sie genoss zusehends dieses Wechselspiel zwischen meiner zunehmenden Anspannung und der darin verborgenen Missbilligung dieses Grenzganges.
Was zunächst stillschweigend als ersehnte Disziplinierung gedacht war, nahm nunmehr schwelgend die Gestalt eines Kräftemessens zweier sich verständigender, wenn auch ungleicher Seelen an. Nahezu synchron zuckten wir beide bei jedem ungestümen Flackern der Flamme zusammen. Dieser Konsens wurde nur durchbrochen, wenn sie meinen Kopf mit ihren beiden Händen sanft, aber bestimmt von sich drückte. Instinktiv spürend, wenn sich mein Kopf zu sehr ihren Schenkeln näherte, um die Kerze auszuhauchen.

Licht kann weinen. Im Luftzug, der bei jeder Bewegung im Wohnungsflur nahezu unmerklich von der Zimmertür zum Bett zog, löste sich allmählich Träne um Träne des Pollenöls. Leahs Augen weiteten sich jedes Mal, wenn sich vom Docht eine Träne löste und den Kerzenschaft heruntertrieb. Die Wanderung von Perlen zu Perle. Ein leichtes Zucken nur an ihrer Bauchdecke und ein unmerklicher Impuls in Leahs Augen. Und im nächsten Moment ein fast mystischer Zug um ihre Mundwinkel, der an einen sich ausbreitenden Regenbogen erinnerte.
Nahezu undenkbar, dass ihr Beckenboden über die gesamte Brenndauer in der Lage sein würde, den flammenden Lichtkegel in der Waagerechten zu halten. Ihr zaghafter Blick zu Beginn der Session offenbarte mir die jungfräuliche Erwartung einer für Leah unbekannten und auch leicht beängstigenden Erfahrung.

Nach mehreren Selbstversuchen an meinen Armen und Oberschenkeln entschied ich mich wegen des niedrigen Glutpunktes und des gleichmäßigen Brennpunktes gegen die oftmals so üblichen Heißwachskerzen und für ein Grablicht aus reinem Bienenwachs. Auch wenn ich mir nicht sicher war, ob dieser Leib, der niemals die Wehen einer Geburt durchlitten hatte, den beachtlichen Durchmesser der Kerze so aufnehmen würde, wie es Leah sich in unserer gedanklichen Fantasie am Vorabend ausmalte. Nahezu unbekümmert, wie sich die Neugier in ihren Augen breitmachte. Und diese leichte Unverfrorenheit, wie sie meinem nachdenklichen Blick begegnete und mir fast trotzig ihren beeindruckenden Glasdildo entgegenstreckte.
Was ist das? Begehren als Aufbegehren des Willens zur Herausforderung? Ein leicht genussvoller Blick, dieser durchsetzt von einer Nuance der beiderseitigen Furcht, als ihr Leib den Kerzenstumpf aufnahm…

Das Wachs zog mittlerweile eine konzentrische Perlenschnur, welche sich über ihren Venushügel abwärts sammelte und begann, Schlieren zu bilden. Leahs Bauchdecke bebte leicht schaudernd in der schneller werdenden Kadenz heißen Klopfens auf der sich rötenden Haut. Ich ahnte bereits vorher das unkontrollierte Zittern ihrer Oberschenkel und so ließ sie es geschehen, dass ich ihre Fesseln vorsichtig mit der Spreizstange fixierte, ihre Beine aufrichtete und ihr Becken mit einem Kissen stützte.
Leahs Atemzüge schwollen periodisch an im fortlaufenden Strom flüssigen Lichts. Ihre Anspannung löste sich in einem leichten Aufschrei, welcher seinerseits das fragile Gleichgewicht von Flamme und Schmelz auflöste und einen Sturzbach erkaltenden Wachses über ihren Unterleib auslöste. Noch bevor ich reflexartig den Kerzendocht mit meiner bloßen Hand ablöschen konnte, ergoss sich ein Schwall eines flammenden Schwertes über ihren Unterleib, über ihren Spitzenkimono, meine Hände…

Die Schwertspitze drang unsichtbar in ihr Tiefstes und ließ sie für endlose Sekunden in einer fast unnatürlichen Streckung verharren. Kaskaden von Rot, Blau und Weiß ihrer Haut mischen sich mit dem Gelb bizarrer Wachsgebilde.
Die Tränen erstarrenden Pollenöls vereinigten sich mit dem silbrigen Glänzen verwirrt um Halt suchender, aber glückserfüllter Augen.
Und das Aufbäumen ihres Leibes gipfelte in das Blau eines Lächelns, dieses sich sammelnd in der Klaustrophobie eines Regenbogens…

©Einar_VonPhylen 220720
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