und weiter geht es
Mwellyn fühlte sich für einen kurzen Moment unendlich allein, verlassen und traurig. Er starrte auf seine geheimnisvollen Tiegel und Töpfe auf den Regalen, die Kräuterbüschel, die von der Decke herab hingen um zu trocknen. All diese Dinge konnten ihm seine Frau und sein Kind nicht mehr wiederbringen. Nutzlos, sinnlos, so erschien ihm seine Kunst. Gedanken an Joana krochen empor. Ob sie es mit ihrer Kraft hätte verhindern können, dass er die beiden verlor? Doch jetzt war es zu spät. Joana und seine Familie weilten nicht mehr auf dieser Welt. Gingen hinüber in die andere Welt. Sie sind nicht verloren, warten dort nur ein wenig auf uns.
All dieses nahm Mwellyns Kopf gefangen, doch daraus musste er sich wieder befreien. Er streckte sich, erhob sein Haupt und ging ans Werk. Noch nie hat er diese Zeremonie vollzogen. Viele Male wohnte er dieser bei, doch nun war es an ihm, diese selbst zu vollführen. Seltsam gestärkt fühlte er sich seit der letzten Berührung seines Kindes. Eigentlich müsste er müde sein, durch die Strapazen der letzten Tage, doch diese schienen wie weggewischt. Eine neue Kraft erfüllte ihn, wappnete ihn für die nächsten Taten. Er wusste, er hatte nicht viel Zeit, bis zum nächsten Vollmond mussten die beiden Körper geheiligter Erde übergeben sein. Vier Wochen also, in denen er all sein Wissen und seine Künste aufbringen musste.
Mwellyn trat an den Kreis der Kerzen, betrachtete die beiden Körper, die im flackernden Licht aussahen, als würden sie sich leicht bewegen, ja sogar atmen. –Nein, hinweg mit euch Hirngespinsten, weg mit euch- schimpfte Mwellyn und seine Hand vollführte eine Bewegung, als wolle er einen unsichtbaren Gegner abwehren.
Er schritt an die offene Feuerstelle, die winzige Glutstelle, das ewige, heilige Feuer schimmerte aus der Kupferschale. Mwellyn zupfte ein paar Blätter aus den getrockneten Kräuter-Kränzen, zerrieb sie zwischen seinen Fingern. Ein würziger Duft verteilte sich im ganzen Raum, dann streute er die pulverisierten Blätter in das Feuer. Sofort begann es gierig zu lodern, erhellte Mwellyns Gesicht, das ausdruckslos über der Schale schwebte. Er murmelte die so oft gehörten Beschwörungsformeln, die Worte der Riten für die Toten. Es knackte und blitzte in der Schale, das Feuer stob auseinander, als ein kräftiger Windstoß hinein fuhr. Die eben noch hoch aufgeblähte Flamme teilte sich und erhob sich über den Rand der Schale. Dort schwebten nun vier kleine Flammen in einer Reihe nebeneinander und warteten auf Mwellyns Befehle.
Bereits in Trance schloss Mwellyn seine Augen. Ab jetzt würde ihn das Augenlicht nur noch stören, jetzt verließ er sich auf seine Sinne. Noch immer formten seine Lippen die Worte einer längst vergangenen Sprache, formten Worte voller Kraft und Magie, die den Raum aufluden. Mwellyn trat zurück, trat in den Kreis der Flammen. Befahl mit einer tiefen Stimme den Flammen, sich auf die beiden Körper zu senken. Je zwei Flammen tanzten durch den Raum, kamen nur wenige Zentimeter über den Körpern zur Ruhe. Von dort eilte jeweils eine Flamme hinab zu den Füßen, die andere setzte sich in Höhe der Stirn fest. Mwellyn zog aus seiner Gürteltasche eine winzige Phiole, eine Gabe von Joana, eine ihrer letzten Zaubertränke, die er ihr vermachte. Mwellyns Stimme schwoll an, wurde tiefer und lauter, als er den kleinen Pfropfen aus dem Hals der Phiole zog und die ersten Tropfen des rötlich schimmernden Öles auf den Körper seines Kindes fallen ließ. Das gleiche vollführte er über dem Körper seiner Frau, dann begann das Werk der Flammen. Sie glitten über die Tropfen des zähen Öles, ließen es schmelzen und durch hin und her Stieben, das kleine fauchende Geräusche verursachte, verteilten sie das Öl in einer hauchdünnen, aber gleichmäßigen Schicht über den beiden Körpern. Ein bläuliches Glimmen umhüllte nun die Körper, und Mwellyn trat aus dem Kreis heraus. Er hob seine Arme, begann das Lied der Toten zu singen, während seine Augen sich mit Tränen füllten.
Langsam, ganz langsam begannen die beiden leuchtenden Körper zu schweben, die winzigen Flammen begleiteten diesen Flug, der in Kopfhöhe endete. Mwellyn öffnete nun seine Augen, doch sein Blick glitt hindurch, das sich vor ihm auftat. Er betrat den Kreis erneut, zwischen den Körpern entlang und legte sich auf den Boden. Der harte Steinboden drückte sich in seine Schultern, doch Mwellyn spürte schon lange nichts mehr. Sein Geist begann sich von ihm zu lösen. Er sah sich selbst im Kerzenkreis liegen, darüber schwebend seine Frau und sein Kind, umrahmt vom Licht der brennenden Kerzen. Dann begann seine Reise. Hinweg über seinem Haus, der dunkle Wald lag unter ihm, dann flog er dem Sonnenaufgang entgegen. Er spürte den Wind in seinem Haar, das weiche und warme Sonnenlicht, das ihn trug auf seinem Weg zu dem Ort, der die letzte Ruhestätte seiner Familie werden sollte.
Ein Blick nach unten zeigte ihm, dass er einen neuen Begleiter hatte. Der Wolf lief mit mechanischer Ausdauer und schnaufendem Atem unter ihm dahin über die Ebenen. Mwellyn liebte diesen Anblick. Die sanften grünen Hügel, die den Charakter seiner geliebten Heimat ausmachten, einladende Freiheit versprachen sie demjenigen, der über sie hinweg schritt.
Dort war er. Der Hügel, der groß genug für sein Vorhaben war. Einheitlich die Form, saftiges Gras überwucherte jegliche Unebenheiten, so dass dieser Hügel wie eine natürliche Kuppel wirkte. Mwellyn schwebte heran, landete, doch seine Füße kamen nicht mit dem Boden in Berührung. Mit seinen Händen vollführte er eine Bewegung, die an ein Teilen erinnerte, und tatsächlich öffnete sich kurz darauf der Hügel. Das Gras teilte sich in Mannshöhe, kurz über dem Boden. Feuchte dunkle Luft stieg Mwellyn entgegen, der die Augen kurz schloss, um diesen würzigen, moosartigen Duft einzuatmen. Dann betrat er das Innere des Hügels. Hinter sich schloss sich die Grasfläche und es wurde dunkel. Mwellyn rieb seine Hände aneinander, öffnete sie und zwei Flammen entstiegen seinen Handflächen. Sofort teilten sie sich und viele kleine Flammen erhellten das kreisrunde, natürliche Grab. Viele Tage verbrachte Mwellyn nun damit, das Grab auszustatten, herzurichten, um es für die Ewigkeit sicher zu wissen. Uralte Schutzzauber hinterließ er, die sich wie Reifen um den Hügel legten.
Mwellyn wurde müde, so unendlich müde. Nur noch den Stein benötigte er. Den Stein, unter dem der Schatz seines Lebens ruhen sollte. Erneut begann Mwellyn abzuheben. Weit hinauf in den Norden des Landes. Die raue Küste Schottlands war sein Ziel, dort wo die Stürme die Klippen wuschen, unter den Gewalten einer ungezähmten Natur die Steine geformt wurden. Die Nacht näherte sich dem Ende, ein wunderbarer Sonnenaufgang bahnte sich an. Fast herrschte Windstille in diesen Augenblicken, als Mwellyn am Rand einer Klippe darauf wartete, die Sonne begrüßen zu können. Nur wenig Wind spielte mit seinen langen Locken, dennoch schmeckte er das Salz des Meeres auf seinen Lippen. Das erste Halbrund des Feuerballs begann, sich über den Horizont zu schieben. Nur noch wenige Momente, dann würde es das Licht geschafft haben, und der Tag erwachen. Wie lange Finger schoben sich einzelne Strahlen über den Himmel, bis sie sich auf die Erde senkten. Sie strichen in Bahnen entlang der Klippe und einer davon, ließ eine einzige Säule der ausgewaschenen Felsen aufglühen. Auf diesen Felsen ließ Mwellyn sich nun hinab gleiten. Perfekt in seiner Größe und Form. Die Feinarbeiten wären für Mwellyn kein Problem. Bis er mit diesem Stein seinen Hügel erreicht hätte, wäre er geschliffen und poliert. Mwellyn stand auf der Spitze des Felsen, schloss die Augen, streckte seine Arme nach vorne aus, die Handflächen zeigten nach unten. Ein ohrenbetäubendes Knirschen und Krachen ging in der schäumenden Gischt unter.
Eine weitere kleine Handbewegung und der Stein löste sich aus dem jahrmillionen alten Grund, der ihn die längste Zeit beherbergt hatte. Schwerelos glitt die steinerne Säule durch die Lüfte, mit Mwellyn als treibende Energie.
Mwellyn blickte nach oben, sah den Rand der Klippe auf sich zukommen, gleich würde er darüber hinwegschweben und weiter über das Land, bis zu seinem Grabhügel. Kaum erreichte er den Rand, bemerkte er den Wolf. Sie blickten sich tief in die Augen, Mwellyn war erneut gefesselt von dem glänzenden Gold, das aus den Augen des Tieres schimmerte. Ein kurzes Blinzeln und der Wolf drehte sich auf seinen kräftigen Läufen um und begann zu laufen.
Mwellyn beobachtet das schimmernde Fell, sah Atemwolken aus dem Maul des Wolfes steigen, dem neuen Begleiter seines Lebens. Der Stein, der sich während des Fluges in den sonnigen Lüften formte, zog eine feine Sandschicht hinter sich her. Der Staub der Jahrhunderte rieselte zurück auf die Erde, dorthin wo er seinen Ursprung hatte.
Der Hügel lag bereits in rotes Licht getaucht. Die untergehende Sonne umhüllte ihn wie eine Haube zum Schutz vor der Nacht. Mwellyn ließ den Stein sinken, direkt vor die Stelle, die ihm als Öffnung diente. Nun wäre der Hügel für immer versiegelt, mit dem Stein als Mahnmal. Knirschend rutschte der perfekt geformte Stein an den Hügel heran, bis er mit ihm verschmolz. Kein Blatt hätte mehr zwischen Stein und Hügel gepasst. Mwellyn seufzte auf.
Endlich – endlich war es vollbracht. Die Vorbereitungen waren beendet. Ein Blick zum Himmel zeigte ihm, dass es nun Zeit würde, die Zeremonie abzuschließen. Nur noch einen Tag bis Vollmond, dann musste sein Werk vollendet sein. Den Heimweg schien Mwellyn nicht mehr bewusst wahrzunehmen, so erschöpft war er, durch die wochenlangen Mühen.
Der heimische Wald tauchte auf, und dort sein Haus. Vor der Tür wachte bereits der Wolf, schien Mwellyn zu begrüßen, indem er sich erhob und ein leises Heulen ausstieß.
Mwellyn sank herab und schon befand er sich in seiner kleinen Kammer. Mwellyns Geist schlüpfte zurück in seinen Körper. Mit einem Ruck richtete sich Mwellyn auf, saß senkrecht und reckte seine steif gewordenen Glieder. Langsam erhob er sich. Jetzt würden die letzten Handlungen vollzogen. Für lange Zeiten musste er sich von seiner Frau und seinem Kind verabschieden.
Noch immer schwebten die beiden, beleuchtet von den Kerzen sicher in der Mitte der Kammer. Das Öl glänzte, ließ ihre Körper lebendig wirken, wie im Schlaf. Ein Schlaf der Jahrtausende. Doch Mwellyn wusste, die Ewigkeit ist nur eine Sekunde, gegenüber der unendlichen Liebe, die er zu seiner Frau empfand.
Nun musste es beginnen. Schweren Herzens nahm Mwellyn Abschied. Seine Arme beschrieben Kreise und Symbole über den schwebenden Körpern. Diese begannen zu leuchten, ein blaues Licht umrahmte sie und langsam lösten sie sich in winzige Sterne auf, die ihren Weg durch das Dach des Hauses fanden. Ihre Reise begann, das Ziel war der Hügel aus Gras, der letzte Ort ihrer Seelen. Mwellyn wusste es, spürte es, als sie dort ankamen. Spürte eine unendliche Zufriedenheit, die ihn durchströmte. Endlich, jetzt fanden die beiden ihre Ruhe.
Mwellyn trat aus dem Haus, hinaus in die Kühle der Nacht. Ein neuer Vollmond stand hoch am Himmel. Vor genau vier Wochen verlor er seine Liebsten. Nun war er ganz allein. Fast.
Auf leisen Pfoten näherte sich ihm der Wolf. Seine hellen Augen glühten, während er zielstrebig auf Mwellyn zulief. Wie selbstverständlich kauerte sich der Wolf neben ihm auf den Boden, eng an Mwellyns Beine geschmiegt. Das Tier hob seinen Kopf und blickte Mwellyn direkt in die Augen.
Mwellyn war sich nicht sicher, ob ihm sein übermüdetes Gehirn einen Streich spielte, doch glaubte er die Stimme des Wolfes zu hören, die ihm zuflüsterte:
„Hier ist die Welt der Lebenden, dort drüben ist die Welt der Toten, die Brücke zwischen beiden ist die Liebe.“