Die Steine der Ewigkeit
Mwellyn legte seinen Kopf in den Nacken und blickte in die silbrige Scheibe des perfekten Vollmondes. Schritt für Schritt kam er dem Steinkreis näher. Andächtig schweifte sein Blick über diese erhabene Ansammlung der Megalithen. Für die Nicht-Eingeweihten waren nur undeutbare Formen zu erkennen, doch der Sinn entzog sich ihnen und würde es auch für immer bleiben. Für sie war es nur ein steinzeitliches Observatorium, mit dem der Sonnenstand berechnet werden konnte, eine Art Kalender.Obwohl der Weg kaum bergauf führte, spürte Mwellyn Schweiß zwischen seinen Schulterblättern hinab rinnen. Sein Atem war flacher als sonst, sein Herz raste. Er wusste um die Bedeutung des heutigen Tages. Er würde sein ganzes bisheriges Leben hinter sich lassen, für den heutigen Tag wurde er geboren.
Mwellyn wandelte inzwischen bereits einige Jahrhunderte auf dieser Erde, hatte vieles erlebt, viele Kriege, Geburten und Tode. Der Höhepunkt für ihn war jedoch, König Artus dienen zu dürfen. Als Berater, Vertrauter und Freund. Nicht nur in astrologischen Dingen befragte ihn der König, auch in militärischen und persönlichen Angelegenheiten weihte Artus Mwellyn ein.
Artus’ Tod schien damals das Ende von Mwellyns Leben zu sein. Ohne diesen Träger der Hoffnung aller Menschen, wollte Mwellyn nicht mehr auf dieser Erde bleiben. Doch in unzähligen Anrufungen seiner Vorfahren, von denen er Antworten erhoffte, wurde ihm Geduld abverlangt, seine Zeit würde noch kommen.
Die letzte Anrufung, die er ausführte, führte ihn nun zum heutigen Ereignis. Mwellyns Schritte wurden langsamer, sein Blick konzentrierte sich.
Scharf sog er die kühle Nachtluft in seine Lungen, während feine Nebelschwaden sich bildeten, die die Steine wie Spinnweben einhüllten. Beleuchtet vom Mondlicht begann der Zauber der vergangen Jahrhunderte zu wirken. Die Stimmen der Ahnen, deren Gesänge, all dies schien im Inneren des Kreises vernehmbar zu sein. Greifbar, weil es noch immer vorhanden war. Nichts, das einmal in diesem magischen Kreis geschah, löste sich jemals ganz aus dieser Magie. Der Speicher, das Gedächtnis der Welt.
Mwellyn kam zum Stehen. Ihm war freigestellt, ob er heute sein menschliches Leben aufgeben wollte. Sein irdisches Leben endete mit dem heutigen Tage. Er wusste, würde er nun umkehren, zurück in sein Dorf gehen, begänne das endgültige Altern seines bisher unsterblichen Körpers. Er wäre nur noch ein ganz normaler alter Mann, der den nächsten Tag nicht mehr erleben würde.
Erinnerungen kamen in ihm auf. Seine geliebte Frau – gestorben schon seit scheinbar unendlichen Dekaden. Nie wieder fand er ein Weib, das ihm so nahe stand, wie diese Eine, daher begann mit ihrem Tod seine Askese, sein Rückzug.
Widmete sich ganz der Heilkunst, wurde zum Schamanen und weisen Oberhaupt seines Dorfes. Doch er wurde müde in den letzten Jahrzehnten. Müde unter der Last des ewigen Lebens ohne Freude, ohne Liebe.
Nein – sein Entschluss stand fest – er würde heute dem Ruf seiner Ahnen folgen. Entschlossen setzte er sich erneut in Gang und folgte dem Weg, der direkt in das Zentrum der Kreise führte.
Sein noch immer dichtes, silbern schimmerndes Haar, welches in weichen Wellen auf seinen Schultern lag, wurde von einem eisigen Lufthauch angehoben, nur um fast schwerelos wieder auf seinem Körper zum Liegen zu kommen.
Mwellyn blickte nun gebannt auf die Mitte der Kreise, die sich mit jedem weiteren seiner Schritte zu verwandeln schienen. In seinen Augenwinkeln nahm er Bewegungen wahr, doch war er nicht mehr in der Lage, seinen Blick abzuwenden. Fixiert auf das, was sich dort vorne abspielte, lief er gebannt weiter. Flackerndes Licht begann zu glimmen, warm und weich erhellte es das Innere des Kreises, doch die Quelle der Helligkeit war nicht auszumachen. Auch wich die nächtliche Kälte einer Wärme, die Mwellyn völlig umhüllte, seinen Körper schweben ließ.
Nur noch schemenhaft wurde ihm bewusst, daß er bereits angekommen war. Genau im Zentrum befand sich Mwellyn und noch immer unfähig zu jeglicher Bewegung. Ein strahlenweißer Altartisch erschien auf einem goldenen, konisch geformten Podest stehend. Dahinter formierten sich helle Nebelschwaden, konzentrierten sich vertikal und Mwellyn konnte kaum begreifen, was sich vor ihm abspielte. Der Nebel verdichtete sich weiter bis sich ein Gesicht, Schultern, ein Oberkörper herauslösten, und einer der Ur-Druiden stand vor ihm. Mwellyn kannte bisher von seinen Anrufungen nur deren Stimmen, doch nun würde er sie persönlich kennenlernen. Mwellyn ahnte es mehr, als er es sah, doch überall geschah das gleiche Schauspiel, der Nebel, der sich um die einzelnen Steine gelegt hatte, zog sich zusammen, heraus traten immer mehr dieser hochgewachsenen Druiden. Seidigweiße Gewänder, goldgewirkte, geflochtene Gürtel hielten sie geschmackvoll zusammen. Der Ur-Druide vor ihm zeichnete sich durch seinen langen, weißen Bart ab, der ihm bis zur Hüfte reichte.
„Nun, Du hast Dich entschieden“ hörte Mwellyn eine klare, deutliche Stimme in seinem Kopf sagen. „Mwellyn, Du wirst nun einer der Unseren, bist bereit Dein Leben der Unendlichkeit zu übergeben, bist bereit, länger als die Zeit zu existieren?“
Mwellyns Mund schien ausgetrocknet, keinerlei Sprache mehr fähig zu sein. Hatte er doch die ganze Zeit das Gesicht des Ur-Druiden beobachtet. Dieser hatte seine Lippen keine Sekunde bewegt und doch zu ihm gesprochen. Noch bevor Mwellyn antworten wollte, klang erneut die Stimme in seinem Kopf. „Du wirst dieses Instrument der Sprache nie mehr benötigen, Du wirst lernen, mit Deinen Gedanken zu kommunizieren. Nun, antworte mir, Mwellyn, bist Du bereit?“
Mwellyn versuchte zu nicken, reflexartig seinen Mund zu bewegen, doch schien er wie versteinert. So strengte er sich an, dachte an das, was er sagen wollte und blickte dem Ur-Druiden fest in die Augen. Dann spürte Mwellyn, wie sich seine Worte den Weg in die Köpfe aller Anwesenden bahnten. Alle konnten ihn verstehen.
„Ja, ich bin bereit. Bin bereit mein altes Leben aufzugeben, einer der Euren zu werden.“
„Mwellyn, Du wirst Dein Leben nicht aufgeben, im Gegenteil, ab jetzt beginnt für Dich der Anfang der Ewigkeit.“
Mit einer gleitenden Bewegung entfernte sich der Ur-Druide, der hinter dem Altar stand und reihte sich in den Kreis der anderen Druiden ein. Endlich konnte Mwellyn sich wieder bewegen, blickte langsam um sich, und traute seinen Augen kaum. Unzählige Druiden füllten das Innere der Steinkreise, sogar noch die äußeren Kreise wurden von ihnen umrahmt. Über allem lag dieses pulsierende, silbrige Licht und eine unsägliche Ruhe und Leichtigkeit.
Gesang schwoll an. Helle, klingende Töne begannen sich aus dem Altar zu erheben. Mwellyns Blick fiel erneut auf dieses wunderbare Gebilde. Eine große Schale stand mitten auf der Tischplatte, eine schimmernde Flüssigkeit befand sich in der Schale. „Mwellyn, geh zum Altar, blicke in die Schale des Schicksals“ wurde er stimmenlos aufgefordert, und Mwellyn folgte.
Geblendet von dem gleißenden Weiß der Altarplatte, kniff er die Augen ein wenig zusammen, bis sich seine Augen daran gewöhnt hatten. Die Schale – aus poliertem, schwarzem Obsidian – schien nur für ihn hier zu stehen. Die Flüssigkeit begann in dem Moment, in dem er hineinblickte, kleine Wellen aufzuwerfen und formte daraufhin ein Bild. Immer mehr Bilder konnte Mwellyn erkennen, seine eigene Vergangenheit lief dort für ihn nochmals sichtbar ab. Schmerzhaft krampfte sich sein Herz, als er seine Frau erblickte, glücklich lachend am Tage ihrer Vermählung, dann ihr trauriges Gesicht, umrahmt von ihrem kastanienbraunen Haar, auf dem Totenbett, als sie den Tod kommen spürte, ihre perlenden Tränen, daß sie ihren geliebten Mann nun verlassen musste.
Mwellyn erschrak, als sich dieses Bild verzerrte. Eine seiner, von ihm unbemerkt geweinten Tränen, fand ihren Weg in die Flüssigkeit. Diese veränderte plötzlich ihre Farbe, begann von klarer Transparenz sich in purpurn schimmerndes Öl zu wandeln. Die Bilder die er nun erblickte, konnte Mwellyn nicht zuordnen. Es war die Zukunft, eine unendliche Zeit. Doch Angst verspürte er nicht. Nur noch eine innere Zufriedenheit, daß seine Entscheidung die richtige war.
„Gut, Mwellyn, sehr gut. Wir haben Deine Entscheidung akzeptiert, nun wirst Du in unseren Kreis aufgenommen. Komm zu uns!“ forderte der Ur-Druide.
Mwellyn setzte seine nackten Füße, die vorher noch in Ledersandalen steckten auf den polierten Marmorboden und lief geräuschlos zum Rand des inneren Kreises. Ein leichter Windhauch brachte ihn dazu, an sich herabzublicken. Seine ursprünglich grobe Leinenbekleidung war einem weißen, weich fließenden Gewand gewichen, der goldene geflochten Gürtel umspannte nun seine Hüfte.
Alle Blicke waren ihm zugewandt. Sanfte Augen, weises Lächeln, dies begleitete ihn auf seinem Weg in den Kreis der Auserwählten.
Es wurde still, der Gesang verebbte, bis nichts mehr zu hören war.
Mwellyns Blick glitt noch einmal zurück. Der Altar war verschwunden, die Druiden begannen zu verschwimmen, Nebelschwaden bildeten sich erneut, es wurde dunkler und kälter.
Doch bevor Mwellyn ein flaues Gefühl verspüren konnte, bemerkte er zwei warme Hände, die ihn an seinen Ellbogen berührten. Zwei der Druiden lächelten ihm schweigend zu. „Komm mit, vertrau uns“ vernahm Mwellyn wieder in seinem Kopf und ließ sich, eingerahmt von ihnen, führen. Direkt auf zwei riesige, eng nebeneinander stehende Steine zu, die mit einem waagerechten Deckstein belegt waren.
Kurz zögerte er, er wollte vor dem Stein zum Stehen kommen, nicht mit ihm zusammenstoßen, doch war es ihm nicht möglich stehenzubleiben, er wurde weiter gezogen. Mwellyn schloß die Augen, spürte beim nächsten Schritt, der ihn hätte gegen den Stein prallen lassen müssen, einen Hauch, als würde ihm ein Stück kühle Seide über den Körper gezogen, und verschwand im Stein.
Dies war nun sein Platz. Sein Platz für die Ewigkeit. Er wusste, er würde hier sein Glück finden, für den Rest aller Gezeiten, denn diese beiden Steine, beschützt durch das schwere Dach, waren der Ort der erneuten Zusammenkunft für ihn, für ihn und seine über alles geliebte Frau, die leichtfüßig und strahlend lächelnd, mit ausgestreckten Armen auf ihn zugelaufen kam.