Wie das Leben so spielt
„Baby, du bist so schön, wenn du weinst und mit blutigen Händen durch die Straßen unserer Stadt jagst, um dich in meine Arme zu flüchten und unter den Schlafsack zu kriechen und Sex mit mir zu haben.“, flüsterte Tommasch nach einer wilden Verfolgungsjagd seiner geliebten Gisela ins Ohr und legte ihr Handschellen an. Sie war mit seinem Easy-Rider um ihr Leben geritten und hatte dabei seine große Liebe geschrottet.
„Du kannst deine Hände nicht in der Unschuld des Waschbeckens einer Bahnhofstoilette waschen. Du bist kein Kind mehr“, fuhr Tommasch fort, zerrte sie auf das Dach des zehnstöckigen Rohbaus und bugsierte sie zum Geländer des Dachrandes hin.
Sie wimmerte, und der Film des letzten Abends und der darauffolgenden Nacht lief in ihrem Kopf an.
Sie hatte mit Klaus, ihrem Liebsten, kurz vor Sonnenuntergang an der Reling des Queen-Victoria-Schiffsdampfers gestanden, der im Stadthafen am Kai Numero siebzehn ankerte, und er hatte auf ihr Ja-Wort gewartet. Doch sie hatte nur wie erstarrt in das Gesicht des uniformierten Kapitäns mit schlohweißem Rauschebart und sonnengebräuntem Teint geblickt und sich auf die Zunge gebissen und war dann mit wehendem abendlichen Brautkleid im eiligen Laufschritt von Bord gegangen, ohne sich noch einmal nach Klaus in seinem klassischen Frack und dem Zylinderhut umzudrehen.
Völlig kopflos war sie dann in den Straßen der Innenstadt umhergeirrt und war so manchem Touristen ausgewichen, um andere Passanten in ihrer Jagd nach sich selbst anzurempeln, bis sie schließlich in der Biker-Bar „Route Sixty-Six“ gelandet war und sich am Tresen dann allmählich die Kante gegeben hatte.
Ihr Handtäschchen hatte an diesem Abend mindestens einhundert Mal geklingelt, bis Tommasch und seine Gang plötzlich am gegenüberstehenden Tisch, ihrem Stammtisch, aufgetaucht waren und irgendwann im Würfelspiel darum gewettet hatten, dass der Verlierer der nächsten Spielrunde die schönste Braut im Raum küssen sollte.
Und so war es geschehen, dass Tommasch in seiner bärigen Art Gisela einen kernigen Wangenkuss geschenkt und ihr kumpelhaft auf die rechte Schulter geklopft hatte, als er das Klingeln ihres Handys gehört und das Handtäschchen an sich genommen und quer durch den Raum fortgeschleudert hatte und dieses in der Nähe des Abfalleimers gelandet war.
Gisela hatte es geschehen lassen und hatte laut aufgelacht. Das Dekolleté ihres Abendkleides war verrutscht und hatte den Jungs einen tiefen Einblick freigegeben, und ein anerkennender Pfiff durch Tommasch Zähne war daraufhin zu hören gewesen. Er hatte Gisela seinen behaarten Arm um die Schultern gelegt, sie dicht an seine linke Seite gezogen und hatte nicht weiter nachgefragt.
Als das tätowierte Schweinchen Dick, der Casinobesitzer aus der unmittelbaren Nachbarschaft, mit seiner Edda neben Gisela aufgetaucht war, um mit dem Boss der Biker-Gang Karten zu spielen, weil er ihm einen ausstehenden Freundschaftsdienst aus vergangenen Tagen abringen und seinen ihm geneigten Willen aufzwingen wollte, hatte er Gisela in ihrem Abendkleid gierig angestiert, so dass Tommasch sie und Edda an den Tresen komplimentiert hatte, damit Schweinchen Dick mit gezinkten Karten hatte spielen können.
Eine Stunde und viele Schnäpse später hatte Gisela der geschwätzigen Edda das Geheimnis um ihren Vater, den weltgrößten Hersteller von Vibratoren, abgerungen. Denn Edda war ein unzufriedenes und verwöhntes reiches Gör gewesen, dass in seiner Marketingabteilung der Firma „Blue Rose“ ihr Dasein gefristet und einen Hang zu anrüchigen Machos gehabt hatte.
Gisela war an diesem Abend noch so klar im Kopf gewesen, dass sie sich in Edda teilweise wiedererkannt hatte. Es hatte ihr einerseits widerstrebt, andererseits allerdings hatte sie dieser Blick in den Spiegel fasziniert.
Als Tommasch ihr einen kräftigen Klaps auf den Hintern gegeben und sie beiläufig gefragt hatte, ob sie denn mit ihm ein kleines Abenteuer erleben wollen würde, hatte sie eifrig und heftig mit dem Kopf genickt. Ihr war schwindelig gewesen von der Möglichkeit, etwas Verbotenes zu tun. Aber sie hatte dabei auch ein gewisses mulmiges Gefühl verspürt.
So war es dazu gekommen, dass sie auf Tommasch Lonely-Rider saß, ihn von hinten umklammerte, um nicht herunterzufallen und mit ihm und seiner Gang durch die nächtlichen Straßen der Stadt knatternd geröhrt war.
Als sie am „Blue-Rose“ angekommen waren, hatte sie am Eingang ein uniformierter Spargeltarzan empfangen, der nur in seiner Freizeit den superkorrekten Bullen mimte und ihnen beim Hineinrauschen und Hinaushumpeln die Tür aufgehalten hatte.
Als sie das Luxusbällchenbad im Studio Numero elf der Firma „Blue-Rose“ umgepflügt hatten, um die diamantene Rakete ausfindig zu machen, einen heißbegehrten Preis für die Telemedienwahl des schönsten Mannes am Abend der quotenreichsten Publikumsveranstaltung, hatten sie die Polizei-Rugby-Mannschaft überrascht, die sich hier mit einigen Bunnys hatte verlustieren wollen. Darunter auch einige hassgeliebte altbekannte Gesichter von Polizeibeamten.
Das hatte ein Hauen und Stechen ergeben, und es ist einiges an Blut geflossen, bevor Tommasch mit seiner Biker-Gang und Gisela im Schlepptau unverrichteter Dinge abgezogen war.
Einen seiner Schneidezähne und einen Mann hatte er verloren. Der Rest seiner Gang war arg lädiert gewesen, und auch die Gegenseite würde dieses Ereignis so schnell nicht vergessen haben.
Tommasch hatte vor Wut gekocht, und Gisela war hysterisch gewesen und hatte all die Aufgewühltheit der anderen aufgesaugt und mitgefühlt, und der Rest hatte sich gegenseitig mit verbalen Grausamkeiten hochgeschaukelt, als Gisela auf die Idee gekommen war, während sie sich auf die eine verwaiste Harley gestützt und den Airbrush-Traumfänger auf ihrem Tank betrachtet hatte.
„Jungs, dafür ist eine Abreibung fällig“, hatte sie gesagt und die Fäuste auf die hervorstehenden Kammhöcker ihrer Hüftknochen gestemmt. In Windeseile war sie auf den uniformierten Spargeltarzan zugeschritten, noch bevor dieser sich hätte ins Innere der Firma zurückziehen können.
Tommasch und die Anderen waren ihr auf dem Fuße gefolgt. Einer von ihnen hatte ihr Opfer an den dünnen Armen gepackt und diese ihm auf den Rücken verdreht. Ein anderer hatte währenddessen dem Prügelknaben die Uniformknöpfe abgeschnitten und diesem die Jacke, das Hemd und das Unterhemd über den Kopf gezogen, so dass dieser nichts mehr sehen konnte und dessen Oberkörper nackt gewesen war.
Tommasch hatte, angetrunken wie er war, zu seinem Jagdmesser gegriffen, und dem Widersacher vor den Augen seiner Kumpane das Wort „Pimmelbulle“ in die Brust geritzt.
Dann waren sie grölend zu ihren Maschinen gehumpelt und hatten Fersengeld gegeben.
Als sie vor der Villa des tätowierten Schweinchen Dick angekommen waren, hatte das Haus noch im Dunkeln gelegen, und die Limousine hatte gerade in der Auffahrt geparkt.
Tommasch und seine Jungs waren schnell gewesen und hatten mit ihren Maschinen das Auto umkreist, und Gisela war ganz nah herangefahren und hatte mit Schlüssel zum Tankdeckel ihrer neuen Maschine den Metalliclack der Limousine zerkratzt.
Schweinchen Dick hatte vor Entrüstung getobt und laut zeternd seinen Augapfel von einem Auto verlassen, als Tommasch ihn mit seiner Harley über die Füße gefahren war und zwei seiner Jungs von ihren Maschinen abgestiegen waren, um ihn aufzufangen und mit ihren Waffen zu bedrohen, während Gisela ihn bis auf die Socken und den Schuhen alle Kleidung genommen und mit ihrem Lippenstift „Verräter“ auf den dicken Bauch geschrieben hatte. Tommasch war inzwischen von seiner Maschine gestiegen, hatten ihn in die Knie gezwungen, und er und die beiden anderen hatten sich vor ihm aufgereiht, um ihre Männlichkeiten aus den Hosenschlitzen zu holen und sich über ihm zu erleichtern.
Edda hingegen hatte zusammengekauert auf ihrem Beifahrersitz der Limousine gesessen, stumm vor sich hin gejammert und mit ihrem Smartie eine Standleitung zur Polizei hergestellt, als Gisela sie angepöbelt hatte, was für eine Verräterschlampe sie doch gewesen sei. Sie hatte das Smartphone in Eddas Händen entdeckt und hatte sie grob aus dem Auto gezerrt und ihr dabei Tommasch Jagdmesser an die Kehle gehalten.
Anders als Gisela hatte Edda blonde, lange Rauschgoldlocken gehabt, und das hatte ihren schwarzhaarigen Racheengel mit Bobfrisur auf die Idee gebracht. Sie hatte grob nach Eddas Haaren gegriffen, während Tommasch sie festgehalten hatte und hatte diese Strähne um Strähne mit der langen Messerklinge abgeschnitten und ihre Widersacherin dabei als „Hure“, „Vaterfickerin“ und „Schlampe“ beschimpft.
Als aus Ferne – erst leise und dann schnell immer lauter werdend – Sirenengeräusche herangerauscht kamen, hatte Gisela das Jagdmesser nicht mehr im Griff gehabt, und es war abgerutscht und hatte Edda das rechte Ohr zur Hälfte abgesäbelt und Gisela dabei selbst in die Hand geschnitten.
Laut fluchend hatte sie das Messer fallengelassen, während Edda ihr mit dem Ellenbogen in die Magengrube gestoßen hatte, bevor Tommasch beide voneinander trennen konnte.
Er hatte Gisela und seine Jungs zur Eile angetrieben, damit sie noch rechtzeitig in die kühle Nacht hatten fliehen können.
Das hatte eine wilde Verfolgungsjagd mit der Polizei gegeben, bei der ein Biker nach dem anderen geschasst worden war und nur Tommasch und Gisela entkommen waren.
Tommasch drückte Gisela mit dem Gewicht seines nackten Oberkörpers gegen das brusthohe Geländer am Dachrand des zehnstöckigen Rohbaus, der seit Jahren hier unvollendet herumstand und ihm als gelegentlicher Rückzugsort vor den alltäglichen Dingen diente. Er küsste ihren Schwanenhals und bedeckte mit ihren – nun nicht mehr blutigen, aber dennoch gefesselten – Händen sein stoppeliges Gesicht.
„Ich liebe dich“, flüsterte er ihr ins Ohr, und möchte mit dir frei sein“, fuhr er fort.
Irgendwo unter ihnen erhellten stumme Blaulichter den noch finstern Park und ein Megaphongeräusch atmete zu ihnen empor und vertrieb die Großstadtamseln aus dem Gebüsch.
Gisela lächelte. Sie blickte in ein mit Blessuren übersätes kantiges Gesicht, dessen Augen rot geädert waren und Lachfalten es durchzogen.
„Ja“, sagte sie. „Lass uns fliegen! Bevor sie uns doch noch kriegen“, sprach sie weiter.
Ihr Brautkleid war längst nicht mehr das Kleid einer unbescholtenen Frau. Es war dreckig und an den Säumen eingerissen und um einiges kürzer als noch vor ihrer Schicksalsbegegnung mit ihrem geliebten und von ihr angehimmelten Tommasch.
Als die Polizisten in der ersten Morgendämmerung das Flachdach des Rohbaus betraten, spielte Tommasch Handy den Song „Catch me“ von den „Bandits“, und sie sahen das – in ihren Augen ungleiche – Biker-Pärchen Hand in Hand auf dem Geländer am Rand des Daches sitzen und hörten ihr Lachen, als sie sprangen …
© CRK, LE, 02/2020